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Zukunftsdebatten in der EU Großer Wurf oder kleinteilige Reformvorschläge? - Essay

Gisela Müller-Brandeck-Bocquet

/ 18 Minuten zu lesen

Die aktuellen Zukunftsdebatten in der EU reichen von visionären Entwürfen bis hin zu kleinteiligen Reformvorschlägen. Beides ist notwendig, um die „Polykrise“ der vergangenen Jahre zu überwinden und neue Horizonte für das europäische Integrationsprojekt zu eröffnen.

Seitdem die Europäische Union den Tiefpunkt ihrer vielschichtigen und viel diskutierten Polykrise – der Begriff stammt von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker – überwunden hat, mehren sich die Versuche, durch Zukunftsdebatten neue Horizonte für das europäische Integrationsprojekt aufzuzeigen. Dies ist bitter nötig. Denn in den vergangenen Jahren hat es die EU nicht vermocht, tatkräftig und mutig die heutigen und künftigen Herausforderungen anzupacken und sich Zukunftsperspektiven zu eröffnen, die auch Europas Bürgerinnen und Bürger von ihrer Unverzichtbarkeit überzeugen könnten. Dies hat in großem Maße zu den bedrohlichen Entwicklungen beigetragen, die es derzeit all den dezidiert EU-feindlichen Parteien quer durch die Mitgliedstaaten ermöglichen, das europäische Einigungsprojekt zu unterminieren. Der Brexit und breitgefächerte Angriffe auf die uns bekannte multilaterale Weltordnung erzwingen nun, dass die EU verstärkt Selbstbehauptungs- und Überlebenswillen entfaltet.

Die aktuellen Zukunftsdebatten in der EU weisen eine große intentionale Bandbreite auf, sie reichen von geradezu visionären Entwürfen bis hin zu kleinteiligen, aber notwendigen Reformvorschlägen, sie stehen sowohl für ambitionierte Aufbruchsszenarien als auch für pragmatische Weiterentwicklungen. Aus diesem weiten Feld der Zukunftswerkstatt EU sollen im Folgenden einige Debatten herausgegriffen werden, die diese Bandbreite abdecken. Ob die aktuellen Zukunftsentwürfe einen glaubhaften Aufbruch eröffnen, entscheiden letztendlich die Wählerinnen und Wähler bei der Europawahl im Mai 2019.

Angesichts der lang anhaltenden Visions- und Mutlosigkeit in der EU werden neue Narrative zur EU eingefordert. Dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler zufolge berichten Großerzählungen von Vergangenem, "um daraus dann ein Bild der Zukunft zu entwickeln, das Versprechen, Aussichten und Warnungen bündelt". Sie gehen davon aus, "dass das, was man aus der Geschichte gelernt hat, auch das Richtige ist" und stellen "Verbindungslinien zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft" her. Großerzählungen "entwickeln Zukunftsperspektiven", sie "stiften Sinn [und] verschaffen Orientierung". Großerzählungen wenden sich sowohl identitätsstiftend an die betroffene Gemeinschaft selbst als auch an außenstehende Dritte. Die hier skizzierten aktuellen Zukunftsdebatten sollen als Bausteine zur Konstruktion einer neuen Großerzählung, eines aktualisierten Narrativs über das europäische Projekt verstanden werden.

"Weißbuch zur Zukunft Europas"

Inmitten der Polykrise rief Kommissionspräsident Juncker in seiner Rede zur Lage der Union 2016 die gesamte EU zu einer Zukunftsdebatte auf. Mit den Worten "Ja, wir brauchen eine langfristige Vision", kündigte er an, im März 2017 – "rechtzeitig zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge" – solch eine Zukunftsvision vorzulegen. Das "Weißbuch zur Zukunft Europas" erschien termingerecht am 1. März 2017, kurz vor der "Erklärung von Rom" vom 25. März 2017 in der die europäischen Staats- und Regierungschefs ihren Willen zur Zusammenarbeit bekräftigten.

Das originelle Vorgehen des Weißbuches besteht darin, dass nach einer knappen Benennung der wirkungsmächtigsten künftigen Einflussfaktoren auf die EU "fünf Szenarien für Europa im Jahr 2025" vorgelegt werden, ohne dass die Kommission ihre eigenen Präferenzen äußert. Damit möchte das Weißbuch "einen Prozess anstoßen, in dem Europa selbst darüber entscheidet, welchen Weg es künftig einschlagen wird". Unhinterfragt bleibt die Gleichstellung von "EU" und "Europa" sowie die Prämisse, "dass die 27 Mitgliedstaaten gemeinsam als Union voranschreiten". Auch wird eingeräumt, dass es "zahlreiche Überschneidungen zwischen den einzelnen Szenarien" gibt, die sich weder gegenseitig ausschließen noch erschöpfend sind.

Szenario 1 heißt "Weiter wie bisher", was bedeutet, dass die EU sich auf die Umsetzung ihrer derzeitigen Reformagenda konzentriert. Nun war im Frühjahr 2017 diese Reformagenda mit dem Bratislava-Fahrplan und der Rom-Erklärung bereits recht anspruchsvoll. Daher ist dem Politikwissenschaftler Otto Schmuck von der Europa-Union Deutschland zuzustimmen, wenn er die "negativ konnotiert[e]" Bezeichnung des "Weiter wie bisher" als unangemessen kritisiert. Die Reformagenda gehe über ein "bloßes ‚Weiter so‘ deutlich hinaus".

Szenario 2, "Schwerpunkt Binnenmarkt", fällt hinter den Anspruch, Zukunft anleiten zu wollen, klar zurück und deckt den heutigen Integrationsstand der EU nicht ab.

Szenario 3, "Wer mehr will, tut mehr", umfasst das Modell eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten. Als mögliche Betätigungsfelder einer Avantgarde werden "Bereiche wie Verteidigung, innere Sicherheit, Steuern oder Soziales" genannt. Szenario 3 greift also die in den zurückliegenden Jahren breit diskutierten Modelle der flexiblen Integration auf.

Szenario 4, "Weniger, aber effizienter", geht von einer klaren Fokussierung des EU-Handelns aus. Für eine Schwerpunktsetzung werden Innovation, Handel, Sicherheit, Migration, Grenzmanagement und Verteidigung genannt.

Szenario 5, "Viel mehr gemeinsames Handeln", bedeutet, dass die Mitgliedstaaten bereit sind, "in allen Bereichen mehr Machtbefugnisse und Ressourcen zu teilen und Entscheidungen gemeinsam zu treffen." Dies ist das ehrgeizigste der fünf Szenarien; es deckt den "gemeinsamen Sprung nach vorne" ab, von dem im Weißbuch die Rede ist.

Dass die fünf Szenarien nicht trennscharf voneinander abgrenzbar sind, wurde – trotz der Vorwarnung der Kommission – oft kritisiert. Dieser Punkt soll hier an nur einer Frage verdeutlicht werden: Welches Szenario entspricht der Programmatik des Artikel 1 des EU-Vertrags, der vom Ziel "einer immer engeren Union der Völker Europas" spricht? Ist es nur Szenario 5, wie es auf den ersten Blick scheint, oder erfüllt auch Szenario 1 dieses Ziel? Oder gilt das gar auch für die Szenarien 3 und 4? Eine Antwort fällt schwer. Wenig hilfreich für ein klareres Verständnis der Szenarien war Junckers später Versuch, seine eigene Präferenz zu äußern. In seiner Rede zur Lage der Union 2017 legte er sein "persönliches ‚sechstes Szenario‘" dar, welches in einer Absichtserklärung vom selben Tag als eine Kombination der "Szenarien 3, 4 und/oder 5 des Weißbuchs" erläutert wird. Und da "das bisher ungenutzte Potenzial des Vertrags von Lissabon voll ausgeschöpft werden soll", ist letztlich auch das Szenario 1 angesprochen. Das Ganze wirkt also nach wie vor etwas unklar.

Bürgerdialoge

Wie im Weißbuch angekündigt, legte die Kommission 2017 fünf Reflexionspapiere vor, die vertiefte Beiträge zur Zukunftsdebatte leisteten. Behandelt wurden die Themen Ausbau der sozialen Dimension Europas, Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion, Globalisierung als Chance, Zukunft der Verteidigung Europas sowie Zukunft der EU-Finanzen. Diese Papiere nehmen "in sehr unterschiedlicher Weise auf die Szenarien des Weißbuchs Bezug" und verdeutlichen, dass die Szenarien "nur sehr bedingt [in konkreten Handlungsfeldern] anwendbar sind".

Im Vorwort des Weißbuchs hatte Juncker eine breite Debatte über die fünf Szenarien angekündigt, die "den ganzen Kontinent miteinbezieht, darunter das Europäische Parlament, die nationalen Parlamente, die Regionen und Kommunen und die gesamte Zivilgesellschaft". Letzteres interessiert besonders: Allein in den vier Monaten von März bis Juni 2017 veranstaltete die Kommission über 1750 Debatten- und Dialogevents, mit denen insgesamt über 270.000 Menschen erreicht wurden. Bis Februar 2018 wurden im Rahmen des Weißbuchprozesses in über 225 direkten Bürgerdialogen rund 36.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer erreicht, weitere 140.000 Personen waren in Facebook-Liveschaltungen involviert. Hinzu kamen 151.000 Tweets zur Zukunft Europas, die von 52.000 Konten abgesetzt wurden. Die Kommission geht dabei von einer "potenziellen Öffentlichkeitswirkung" von 34 Millionen Bürgerinnen und Bürgern aus.

Parallel richteten auch die Mitgliedstaaten Bürgerdialoge aus; damit griffen sie eine Initiative des französischen Präsidenten Emmanuel Macron auf. Aus einem Bericht der Bundesregierung geht hervor, dass zwischen Mai und Oktober 2018 in ganz Deutschland insgesamt 119 Dialogveranstaltungen stattfanden, an denen in der Regel 50 bis 75 Interessierte teilnahmen. Zentrale Leitfragen des deutschen Bürgerdialogs waren: Wie erleben Sie Europa in Ihrem Alltag? Welche Rolle spielt Europa für Deutschland insgesamt? Wie sollte Europa in Zukunft aussehen? Auf das Weißbuch wurde nicht explizit Bezug genommen. Aus dem Bürgerdialog zog die Bundesregierung die Erkenntnis, dass erstens der Wunsch nach einem außenpolitisch starken Europa besteht, zweitens die Bürgerinnen und Bürger ein sicheres, schützendes Europa wollen, und drittens Binnenmarkt und Euro den Wohlstand erhalten sollen – so die drei Topthemen.

Auf dem Dezembergipfel 2018 begrüßte der Europäische Rat die Bürgerdialoge und -konsultationen als "beispiellose Gelegenheit (…), mit den europäischen Bürgerinnen und Bürgern in Kontakt zu treten". Ob und inwieweit der Europäische Rat aber bereit ist, bei den fälligen Weichenstellungen zur EU-Zukunft, die auf den 9. Mai 2019 im rumänischen Sibiu anberaumt sind, den Ansichten und Wünschen der Bürgerinnen und Bürger wirklich Rechnung zu tragen, bleibt vollkommen offen. Für das jüngste Gipfeltreffen haben Österreich, das in der zweiten Jahreshälfte 2018 die Ratspräsidentschaft innehatte, und Rumänien, das in der ersten Jahreshälfte 2019 dem Rat vorsitzt, einen Bericht vorgelegt, der zusammenfasst, was Europas Bürgerinnen und Bürger an Kritik und konstruktiven Ideen geäußert haben. Zu den wichtigsten Ergebnissen gehört demnach, dass viele "das Fehlen einer klaren Vision und von Führungsstärke als Aspekte genannt [haben], die die Entwicklung in der EU bremsen".

"Europäische Souveränität" à la française

Tatsächlich werden die Zukunftsdebatten in der EU inzwischen nicht länger maßgeblich vom Weißbuch, sondern von Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron inspiriert. Seit seinem klar proeuropäisch geführten Wahlkampf und nach fulminanten Europareden stehen seine Ideen, Vorschläge und Forderungen sowie die dadurch ausgelösten Reaktionen in deren Zentrum. So entwarf Macron in seiner inzwischen berühmten Rede an der Sorbonne am 26. September 2017 die Vision einer "europäischen Souveränität". In der Tat kann man Macrons "Initiative für Europa" als einen großen Wurf bezeichnen, der angesichts interner und externer Problemlagen die Schaffung eines "souveränen, geeinten und demokratischen Europa" zu einer Notwendigkeit erklärt.

Diese "europäische Souveränität" möchte Macron auf sechs Pfeilern aufbauen: auf einer starken europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, einer effektiven und zugleich humanen Migrationspolitik, einer auf Afrika fokussierten partnerschaftlichen Entwicklungspolitik, einer auf Nachhaltigkeit abzielenden Vorreiterrolle in der Umwelt- und Klimapolitik, der aktiven Gestaltung der Digitalisierung sowie der Konsolidierung und Stärkung der Wirtschafts-, Industrie- und Währungsmacht der EU. Mehrfach ließ er dabei anklingen, dass ein souveränes Europa auch dem sozioökonomischen Vorteil beziehungsweise der sozialen Absicherung der EU-Bürgerinnen und -Bürger dienen muss. Zu allen sechs Pfeilern unterbereitete Macron konkrete Vorschläge, von denen – zumindest in Deutschland – vor allem jene zum Ausbau der Eurozone wahrgenommen wurden: Schaffung eines Eurozonen-Budgets, eines Eurozonen-Finanzministers und einer gemeinsamen Digitalsteuer. Weiterhin sprach Macron sich etwas verklausuliert für ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten aus, dessen Fliehkräfte für die Einheit der EU er durch Solidarität und die Stärkung des kulturellen Zusammenhalts auffangen möchte.

Im Gegensatz zum Weißbuch hat Macron damit einen klaren Kurs vorgegeben und all jene, die seine Idee eines souveränen Europa teilen, zur zügigen Neubegründung der EU aufgerufen. Ob der neue Begriff der europäischen Souveränität nicht nur eine Umbenennung des alten französischen Europe-puissance-Konzepts ist, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Vielmehr sei betont, dass Macron mit dieser Vision auf die aktuellen Herausforderungen der Globalisierung und des Aufstiegs der Schwellenländer, auf den Brexit und die Geringschätzung, die der EU aus Washington, Moskau und Peking derzeit entgegenschlägt, reagiert und mit der Zielsetzung einer europäischen Souveränität am neuen EU-Narrativ kräftig mitschreibt. Jedenfalls stellte Kommissionspräsident Juncker seine jüngste Rede zur Lage der Union im September 2018 wohl nicht zufällig unter den Titel "Die Stunde der Europäischen Souveränität".

Die deutsche Antwort

Angesichts der Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen als Motor der Integration musste sich insbesondere Deutschland von Macron angesprochen fühlen. Doch die Qualen der gescheiterten Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU, Grünen und FDP sowie die permanenten Krisen der Anfang März 2018 angetretenen dritten Großen Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel haben eine angemessene und klare Antwort Deutschlands auf Frankreichs Vorstoß verzögert – obwohl im Koalitionsvertrag schon im Titel ehrgeizig ein "neuer Aufbruch für Europa" versprochen wird. Auch ist es nicht so, dass in der langen Zeit des Wartens auf eine deutsche Antwort Stillstand in den Reformdebatten geherrscht hätte; vielmehr wurde konstant an zahlreichen Reformagenden, die zumeist aus der Zeit vor Macron stammen, weitergearbeitet.

Dennoch war die Öffentlichkeit auf die deutsche Antwort fixiert, die die Kanzlerin Anfang Juni 2018 endlich in einem schlichten Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" (FAS) gab. "Europa muss handlungsfähig sein – nach außen und nach innen" war dabei ihr Leitmotiv. Mit Blick auf die Eurozone sprach sich Merkel für die Schaffung eines Europäischen Währungsfonds (EWF) sowie eines kleinen Investivhaushalts in der Eurozone aus, um "Staaten bei Reformen zu unterstützen". Dieses deutsche Mantra findet sich mehrmals im Interview: "Solidarität unter Europartnern darf aber nie in eine Schuldenunion münden, sondern muss Hilfe zur Selbsthilfe sein." Auch weitete Merkel den Blick auf das große Ganze: "Wir stehen vor umfassenden Problemen, weil sich die gesamte Weltordnung ändert (…) Das alles bedeutet für uns Europäer, dass wir unsere Stellung im globalen Gefüge neu definieren müssen, dass wir uns als gemeinsam handelnder globaler Akteur einbringen müssen." Es gelte, das Sicherheitsversprechen der EU an ihre Bürgerinnen und Bürger zu erneuern: "Ich meine das (…) im Blick auf Sicherheit vor Terrorismus, im Blick auf Sicherheit für Wohlstand und Arbeitsplätze, auf den Schutz der Außengrenzen, die Bewahrung unserer kulturellen Identität und der gemeinsamen Schöpfung." Zudem bringt die Kanzlerin neue Ideen ein, wie die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingsbehörde und die Verschmelzung der nichtständigen Sitze der EU-Staaten im UN-Sicherheitsrat zu europäischen Sitzen. Sie endet ehrgeizig: "Es soll klar sein, (…) dass wir die Kraft sind, die den Multilateralismus stärkt." Auch Merkel trägt folglich zum neuen EU-Narrativ bei: die EU als starke Verfechterin des Multilateralismus, als Zentrum einer "Allianz für den Multilateralismus", wie ihr Außenminister Heiko Maas formuliert.

Von Meseberg zum Gipfeltreffen Ende 2018

Wie es sich für den Motor der Integration gehört, wurden diese Zukunftspläne auf den deutsch-französischen Regierungskonsultationen im Juni 2018 auf Schloss Meseberg zusammengeführt und "geerdet", also auf praktikable Einzelprojekte heruntergebrochen. Erneut erwies sich dieser Motor dabei als Konsensschmiede, um der EU Wege zu pragmatischen Fortschritten zu weisen.So wurde etwa vorgeschlagen, "einen Haushalt für die Eurozone aufzustellen, um die Wettbewerbsfähigkeit, Annäherung und Stabilisierung in der Eurozone zu fördern". Zudem ist beabsichtigt, "eine EU-Einigung über eine faire Besteuerung der digitalen Wirtschaft bis Ende 2018 herbeizuführen". Zur Stärkung der Handlungsfähigkeit der EU-Außenpolitik sollen "Möglichkeiten der Nutzung von Mehrheitsentscheidungen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" geprüft werden, und vieles mehr. Auch finden sich Vorschläge, ein deutsch-französisches Zentrum für Forschung zur Künstlichen Intelligenz sowie "rasch die ersten ‚europäischen Universitäten‘ einzurichten".

Nach Meseberg wurde im Tandem und in der EU kontinuierlich an diesen und zahlreichen anderen Reformvorhaben gearbeitet. Im Dezember 2018 ging es vorrangig um die Stärkung der Eurozone: So einigten sich die Finanzminister der Eurogruppe am 4. Dezember nach schwierigen Verhandlungen auf den Ausbau des Euro-Rettungsfonds ESM und die Vertiefung der Bankenunion. Ein Eurozonen-Budget soll jedoch erst im Rahmen des nächsten EU-Haushalts beschlossen werden; und auch der Aufbau eines "Europäischen Fonds zur Stabilisierung nationaler Arbeitslosenversicherungen" – ein Lieblingsprojekt des deutschen Finanzministers Olaf Scholz – wurde wegen Uneinigkeit der Minister vertragt. Der Euro-Gipfel vom 14. Dezember billigte all diese Beschlüsse der Eurogruppe und beauftragte diese, bis Juni 2019 Vorschläge für die konkrete Ausgestaltung eines "Haushaltsinstruments für Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit" – so der neue offizielle Titel des Eurozonen-Budgets – zu erarbeiten. Beim Projekt einer EU-Digitalsteuer, das vor allem von Frankreich mit Nachdruck verfolgt wird, trat Deutschland besonders massiv auf die Bremse; die Steuer kann frühestens 2022 in Kraft treten. Damit bleibt die Zukunftssicherung der EU und der Eurozone weiterhin eine schwierige, äußerst mühsame und kleinteilige Aufgabe, die vor allem Deutschland und Frankreich mehr Gemeinsamkeit abverlangt.

Visionäres Projekt oder Dauerbaustelle: Sicherheits- und Verteidigungspolitik

In den Zukunftsdebatten der EU hat sich letzthin eine eindeutige Fokussierung auf das Politikfeld Sicherheit und Verteidigung herauskristallisiert. Denn hier ist der dringlichste Handlungsbedarf zu verorten: Der Brexit, US-Präsident Trumps ungeklärte Haltung zur NATO, sein brachiales Drängen auf transatlantisches burden sharing sowie neue Bedrohungslagen an den Außengrenzen der EU haben Sicherheit und Verteidigung in den Vordergrund katapultiert. Die jüngeren Beschlüsse zur Schaffung eines EU-Hauptquartiers und zur Errichtung einer Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich, besser bekannt als PESCO (Permanent Structured Cooperation), sowie die Auflegung eines milliardenschweren Rüstungsfonds bestätigen, dass die EU sich dieser Priorität bewusst ist.

Die 25 PESCO-Mitglieder – neben dem Vereinigten Königreich sind nur Dänemark und Malta nicht daran beteiligt – wollen gemäß Art. 42 Abs. 6 des Vertrags von Lissabon "anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten" erfüllen, um "Missionen mit höchsten Anforderungen" realisieren zu können. 17 Projekte wurden inzwischen ausgewählt; derart sollen die militärischen Fähigkeiten verbessert beziehungsweise, wie im Cyberbereich, entwickelt werden. Deshalb trifft trotz dieser bedeutenden Fortschritte zu, dass PESCO "und die Entwicklung einer leistungsfähigen verteidigungsindustriellen Basis (…) erst in zehn bis 15 Jahren wirksam" sein werden. Der inzwischen in Angriff genommene Aufbau einer EU-Sicherheits- und Verteidigungsunion wird mithin eine europäische Dauer-Großbaustelle bleiben.

Dabei kann die "Europäische Interventionsinitiative" – ebenfalls von Macron lanciert – den Europäern zu strategischen Substanzgewinnen verhelfen. Das als EI2 firmierende Projekt soll der Herausbildung einer gemeinsamen strategischen Kultur dienen. Sie wurde von Kanzlerin Merkel sowohl in ihrem FAS-Interview erwähnt als auch in der Meseberg-Erklärung aufgenommen Eine Absichtserklärung (letter of intent) wurde am 25. Juni 2018 von neun europäischen Staaten unterzeichnet; darin heißt es: "The ultimate objective of EI2 is to develop a shared strategic culture, which will enhance our ability, as European states, to carry out military missions and operations (…)." Insbesondere fällt auf, dass sich das kurz vor dem EU-Austritt stehende Vereinigte Königreich und das nicht an der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik teilnehmende Dänemark beteiligen. Auch diese dringend nötige Entwicklung einer europäischen strategischen und operationellen Kultur dürfte in die Rubrik Großbaustelle fallen.

Nach einer veritablen Vision hingegen klingt zunächst die aktuell wieder aufflammende Debatte zur Schaffung einer europäischen Armee. Diese Forderung ist keineswegs neu, zuletzt entbrannte sie im Kontext der Ukraine-Krise seit 2014. Ihr wurde damals von deutscher Seite eine Absage erteilt. Im November 2018 jedoch forderte Macron eine "richtige europäische Armee". In einem Interview mit dem Radiosender Europe 1 sagte er: "Man kann die Europäer nicht beschützen, wenn man nicht beschließt, eine richtige europäische Armee zu schaffen. (…) Wir brauchen ein Europa, das sich zunehmend selbst verteidigt, ohne ganz von den USA abhängig zu sein, in größerer Souveränität." Macron sprach dabei weder einen Zeithorizont noch das Verhältnis zur Nato an; ihm ginge es, wurde kommentiert, vorrangig um die Stärkung der "strategischen Autonomie", wozu ein unabhängiger europäischer Rüstungssektor gehöre.

Überraschend bekannte sich auch Merkel kurz darauf vor dem Europäischen Parlament zu einer "echten europäischen Armee". Allerdings ordnete sie dieses Ansinnen sofort als Vision ein, an der man "aufgrund der Entwicklung der letzten Jahre" arbeiten müsse. Explizit sagte sie: "Das ist ja keine Armee gegen die NATO. (…) Wenn wir unser Geld effizient einsetzen wollen und doch für viel Gleiches kämpfen, dann können wir doch in der NATO mit einer europäischen Armee gemeinsam auftreten." Da ist er wieder, der deutsche Plan vom europäischen Pfeiler in der NATO.

Alarmiert von dieser gemeinsamen Macron-Merkel’schen "Vision und Notwendigkeit einer Europäischen Armee" stellte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen sogleich klar, dass der spürbare und positive sicherheits- und verteidigungspolitische Aufbruch in der EU "Schritt für Schritt zu einer ‚Armee der Europäer‘ [führt]. Streitkräfte in nationaler Verantwortung, eng verzahnt, einheitlich ausgerüstet, für gemeinsame Operationen trainiert und einsatzbereit."

Auch wenn sich die Vision einer "echten europäischen Armee" bei näherem Hinsehen als wenig belastbar herausstellt, gehört sie im aktuellen internationalen Kontext zum neuen Narrativ der europäischen Souveränität; sie ist inhärenter Bestandteil der Zukunftsdebatten und einer neuen Großerzählung, die in turbulenten Zeiten die Richtung weisen soll. Hier ist ebenfalls das mutige, ein bisschen trotzige, auf jeden Fall unerlässliche "Europe united" zu nennen, das Außenminister Maas dem Trump’schen "America first" entgegenschleudert. Auch das neue Projekt der EU-Kommission, eine stärkere internationale Rolle des Euro anzustreben, um unter dem Motto "Weg vom Dollar" unter anderem US-amerikanischen extraterritorialen Sanktionen entgehen zu können, gehört zu diesem neuen Narrativ der europäischen Souveränität.

Europawahl 2019: Entscheidung über die Zukunft der EU

Die vergangenen Jahre sollten die EU-Bürgerinnen und -Bürger dafür sensibilisiert haben, dass große Veränderungen anstehen, die sie zu einer europapolitischen Neupositionierung zwingen. Die wieder steigenden Zustimmungsraten zur EU deuten an, dass viele dies verstanden haben. Sie wollen das Richtige aus Europas Geschichte gelernt haben.

Es werden letztlich die Bürgerinnen und Bürger der EU sein, die bei den Wahlen zum Europäischen Parlament vom 23. bis 26. Mai 2019 darüber entscheiden, welche Zukunft sie für die EU wollen. Im kommenden Mai wird es gar nicht so sehr darauf ankommen, welche der die europäische Integration grundsätzlich befürwortenden Parteien die Bürgerinnen und Bürger wählen. Wichtig wird vielmehr sein, dass sie, erstens, überhaupt zur Wahl gehen und damit die Bedeutung der EU für ihre Zukunftssicherung anerkennen. Zweitens wird wichtig sein, dass sie all jenen rechtspopulistischen und nationalistischen Kräften eine Abfuhr erteilen, die durch einzelstaatliche Souveränitätsphantastereien oder durch Angriffe auf die europäischen Grundwerte wie Rechtstaatlichkeit und Solidarität die EU und damit das große europäische Friedensprojekt unterminieren oder gar zerstören wollen. Das wäre wahrlich ein Fest für die Demokratie in der EU und ein wichtiger Schritt in die Zukunft.

ist Professorin für Europaforschung und Internationale Beziehungen am Institut für Politikwissenschaft und Soziologie der Universität Würzburg und Inhaberin eines Jean-Monnet-Lehrstuhls. E-Mail Link: mbb@uni-wuerzburg.de