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Geschlechtsidentität und -dysphorie | Geschlechtsidentität | bpb.de

Geschlechtsidentität Editorial Soziologische Dimensionen von Geschlecht Geschlecht und Geschlechterrolle: Soziobiologische Aspekte Geschlechtsidentität im deutschen Recht Geschlechtsidentität und -dysphorie Medikalisierung "uneindeutigen" Geschlechts Intersexualität: Leben zwischen den Geschlechtern Ver-körperungen des anderen Geschlechts - Transvestitismus und Transsexualität historisch betrachtet Grenzverläufe zwischen den Geschlechtern aus ethnologischer Perspektive Geschlechtsidentität und Menschenrechte im internationalen Kontext

Geschlechtsidentität und -dysphorie

Hertha Richter-Appelt

/ 16 Minuten zu lesen

Geschlechtsidentität wird thematisiert, wenn Unsicherheit auftritt, etwa bei Inter- oder Transsexualität. Im Gegensatz zur früheren Anlage-Umwelt-Gegenüberstellung wird mittlerweile von einer multifaktoriellen Determinierung der Identität ausgegangen.

Einleitung

Geschlechtsidentität wird dann thematisiert, wenn Unsicherheit hinsichtlich der Geschlechtsidentität auftritt, wie beispielsweise bei Vorliegen von Unfruchtbarkeit ("Bin ich eine richtige Frau, ein richtiger Mann?"), Körper und Geschlechtsidentitätserleben nicht übereinstimmen wie im Falle der Transsexualität, oder Identitätserleben bei Vorliegen eines nicht eindeutig männlichen oder weiblichen Körpers wie im Falle von Intersexualität zur Diskussion steht. Medizin und Psychologie hatten es sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Ziel gesetzt, Auffälligkeiten und Abweichungen im körperlichen und psychischen Bereich vom männlichen oder weiblichen Geschlecht "zu heilen", das heißt vorzugsweise zu beseitigen. Kinder und erwachsene Menschen sollten nicht nur einen möglichst eindeutigen männlichen oder weiblichen Körper haben, sondern auch eine stabile männliche oder weibliche Geschlechtsidentität - und diese sollten übereinstimmen. Eine binäre Vorstellung von Geschlecht bestimmte das Denken.

Bei der Behandlung von Personen, deren Körper und Geschlechtserleben nicht einander entsprechen, spielt nicht nur eine zentrale Rolle, was ein männlicher, weiblicher oder intersexueller Körper, sondern auch, was eine männliche, weibliche oder uneindeutige Geschlechtsidentität ist. Meist wird jedoch nicht weiter definiert, was man überhaupt unter dem Begriff der Geschlechtsidentität versteht, und die Binarität nicht hinterfragt. Dabei muss man berücksichtigen, dass Begriffe der psychosexuellen Entwicklung uneinheitlich verwendet werden.

Im Gegensatz zu geschlechtstypischem Verhalten, das sich auf bei einem Geschlecht häufig beobachtete Verhaltensweisen bezieht, dem geschlechtsspezifischen Verhalten, das jeweils nur bei einem Geschlecht auftritt (beispielsweise Stillen eines Kindes), bezeichnet der Begriff der Geschlechtsrolle seit den 1950er Jahren die Gesamtheit der kulturell erwarteten, als angemessen betrachteten und zugeschriebenen Fähigkeiten, Interessen, Einstellungen und Verhaltensweisen des jeweiligen Geschlechts. Sie unterliegen einem Wandel innerhalb der und zwischen den Kulturen. Geschlechtsidentität ist hingegen das subjektive Gefühl eines Menschen, sich als Mann oder Frau (oder dazwischen) zu erleben. Dieses Gefühl findet man zu allen Zeiten und in allen Kulturen. Unter Geschlechtsrollenidentität versteht man die öffentliche Manifestation der Geschlechtsidentität einer bestimmten Person in einem bestimmten Rollenverhalten. Sie beinhaltet alles, was eine Person sagt oder tut, um anderen und/oder sich selbst zu demonstrieren, in welchem Ausmaß sie sich dem einen oder anderen Geschlecht zugehörig erlebt. Sexuelle Identität beschreibt das subjektive Erleben einer Person als hetero-, homo-, bi- oder asexuell. Die sexuelle Präferenz beschreibt, wodurch eine Person sexuell erregt wird, die sexuelle Orientierung die Partnerwahl. Meist stimmen diese mit der sexuellen Identität überein. Ein besonderes Problem stellt die Vorhersage der Geschlechtsidentität bei verschiedenen Formen der Intersexualität dar. Die Unterscheidung zwischen Geschlechtsrollenverhalten und Geschlechtsidentität erscheint hier besonders wichtig. Untypisches Geschlechtsrollenverhalten kommt sicherlich bei Personen mit verschiedenen Formen der Intersexualität häufiger vor, sagt jedoch noch nichts darüber aus, ob eine Person sich in ihrer Geschlechtsidentität als Mann oder Frau unsicher oder beeinträchtigt fühlt. Unsichere Geschlechtsidentität bedeutet andererseits aber nicht automatisch, dass eine Person ihr Geschlecht wechseln möchte. Ein Merkmal von Personen mit Intersexualität ist, dass sie in ihrem Geschlechtserleben oft nicht eindeutig sind und entgegen den medizinischen Erwartungen nicht so einfach eindeutig "geformt" werden können, und zwar weder was das Aussehen noch ihre Geschlechtsidentität betrifft. Unter Intersexualität beziehungsweise Störungen der Geschlechtsentwicklung (disorders of sex development (DSD)) werden eine Reihe unterschiedlicher Phänomene zusammengefasst, bei denen die geschlechtsdeterminierenden und -differenzierenden Merkmale des Körpers (Chromosomen, Gene, Keimdrüsen, Hormone, äußere Geschlechtsorgane und Geschlechtsmerkmale) nicht alle dem gleichen Geschlecht entsprechen. Von den Betroffenen selbst wird der Begriff der "Störung der Geschlechtsentwicklung" kritisiert. Sie bevorzugen die Termini "Intersexualität" oder "Varianten der Geschlechtsentwicklung". Diese körperlichen Auffälligkeiten können mit einer Irritation des subjektiven Geschlechtserlebens einhergehen, unter der die Person leidet, einer Geschlechtsdysphorie. Während Personen mit Transsexualität in der Regel den gesunden männlichen oder weiblichen Körper dem subjektiv erlebten Geschlecht mehr oder minder anpassen möchten, wurden Personen mit Intersexualität oft bereits in der frühen Kindheit einem Geschlecht zugewiesen (gender allocation) und körperlich angeglichen (sex assignment). Damit verbunden war die Hoffnung, auch die Entwicklung einer ungestörten, dem angepassten Geschlecht entsprechende Geschlechtsidentität zu gewährleisten.

Bei der Definition der Transsexualität stellt sich die Frage, wie weit der Wunsch nach geschlechtsanpassenden Operationen (gender confirming surgery) beziehungsweise die Erfüllung dieses Wunsches als eine notwendige und hinreichende Bedingung verstanden werden soll, um von Transsexualität sprechen zu können. Seit die geschlechtsanpassenden Operationen keine notwendige Voraussetzung für eine Personenstandsänderung mehr darstellen, kann ein deutlicher Rückgang beziehungsweise eine verzögertes Anstreben genitalchirurgischer Eingriffe vor allem bei älteren Personen beobachtet werden. Kritisiert wird der Begriff "Transsexualität" von denjenigen, die der Auffassung sind, es handle sich vielmehr um eine Frage der Identität oder des Körpers, nicht aber um eine Frage der Sexualität. Sie sprechen daher lieber von "Transidentität" oder "Transgender". Im internationalen medizinischen Klassifikationssystem wird weder der Begriff "Transsexualität" noch "Transidentität" verwendet, sondern von einer Störung der Geschlechtsidentität gesprochen. Störungen der körperlichen Geschlechtsentwicklung beziehungsweise Intersexualität stellen bisher ein Ausschlusskriterium für die Vergabe der Diagnose Störung der Geschlechtsidentität/Transsexualität dar. Das soll aber nicht heißen, dass nicht auch bei Personen mit Intersexualität Unsicherheit hinsichtlich der Geschlechtsidentität bestehen kann. Hier ist es meist aber eine Unsicherheit, irgendwie anders zu sein, und weniger das Gefühl oder der Wunsch, dem anderen, nicht dem Körper entsprechenden Geschlecht anzugehören. Zurzeit wird von internationalen Experten diskutiert, ob man den Begriff der Transsexualität beziehungsweise Störung der Geschlechtsidentität nicht ganz fallen lassen und lieber nur dann von einer Geschlechtsdysphorie sprechen sollte, wenn eine Person unter der Unsicherheit hinsichtlich ihres Geschlechtserlebens leidet. In diesem Fall sei es auch gerechtfertigt, von einer psychischen Störung zu sprechen. Geschlechtsdysphorie könne sowohl bei Personen mit Transsexualität wie bei Personen mit Intersexualität auftreten, werde aber nicht bei allen beobachtet. Transsexualität wäre keine psychiatrische Diagnose mehr.

Auch die Betrachtung, was eine transsexuelle Frau oder ein transsexueller Mann sei und wie man die sexuelle Orientierung bezeichnen solle, hat sich geändert. Die psychiatrische Diagnosestellung, aber auch die deutsche Gesetzgebung nach dem Transsexuellengesetz betrachtet eine transsexuelle Frau als eine Frau mit einer psychiatrischen Diagnose, der Störung der Geschlechtsidentität. Im jüngeren Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff "transsexuelle Frau" demgegenüber eine Person, die sich als Frau erlebt, jedoch mit den äußeren und inneren körperlich-biologischen Geschlechtsmerkmalen eines Mannes geboren worden ist, also auf eine Mann-zu-Frau-Transsexuelle.

Identität und Geschlechtsidentität

Auf die Frage "Wer bin ich?" können verschiedene Aspekte des Identitätserlebens herausgegriffen werden, wie etwa die Nationalität ("Ich bin Franzose"), eine Erkrankung ("Ich bin Diabetiker"), aber auch die Ausübung einer Sportart ("Ich bin Tennisspielerin"). Die Geschlechtsidentität bezeichnet die Kontinuität des Selbsterlebens eines Menschen bezogen auf sein Geschlecht. Die Geschlechtsidentität kann als männlich, weiblich oder dazwischen erlebt werden. Geschlechtsidentität ist nur ein Aspekt des Geschlechtserlebens, das eng verbunden ist mit dem Geschlechtsrollenverhalten, der sexuellen Identität beziehungsweise Orientierung und Partnerwahl. Körperlich-biologische Faktoren scheinen ebenso einen Einfluss auf die Entwicklung der Geschlechtsidentität zu haben wie psychische und soziale Bedingungen. Vor und kurz nach der Geburt wirksame und in der Entwicklung bedeutsame Hormone als Folge von genetischen und epigenetischen Prädispositionen können das Erleben der Geschlechtsidentität beeinflussen, sowie Erziehungsmaßnahmen der Eltern und Identifizierungen und Selbstkategorisierungen des Kindes. Hinzu kommen kulturelle Normen und Geschlechtsrollenerwartungen. Lange Zeit wurde angenommen, dass die Entwicklung der Geschlechtsidentität mit dem dritten Lebensjahr weitgehend abgeschlossen sei und sich im Laufe des Lebens nicht mehr ändern würde. Auch wurde angenommen, dass die sexuelle Identität sich im Laufe der Pubertät herausbilden und dann stabil bleiben würde. Beide Annahmen werden heute kritisch hinterfragt.

Psychoanalyse und Geschlechtsidentität

Oft wird der Psychoanalyse vorgeworfen, sie habe die Behandlung von Personen mit Problemen der Geschlechtsidentität negativ beeinflusst, indem sie eine eingeengte und unflexible Betrachtung der Geschlechtsidentität innerhalb der psychosexuellen Entwicklung angenommen habe. Abgesehen davon, dass es innerhalb der Psychoanalyse viele unterschiedliche Schulen gibt, gilt es auch zu berücksichtigen, dass Sigmund Freud als Gründer der Psychoanalyse eine sehr offene und fortschrittliche Auffassung der Entwicklung des Geschlechtserlebens vertrat, auch wenn er nicht direkt den Begriff der Geschlechtsidentität verwendete. Seine Auffassungen zur "konstitutionellen Bisexualität" gehen davon aus, dass jeder Mensch sowohl männliche wie auch weibliche Anteile in sich trägt, und zwar sowohl im biologischen als auch im psychologischen Sinn, und daraus resultiere, dass jeder sowohl hetero- wie homosexuelle Neigungen habe, die er jedoch oft verleugne. Wenngleich es sich bei diesen Überlegungen nicht um das Erleben eines Menschen im "falschen" Körper handelt, bleiben diese Stellen aus Freuds Arbeiten auch heute noch vor allem im Zusammenhang mit Intersexualität durchaus erwähnenswert.

In den drei Abhandlungen zur Sexualtheorie aus dem Jahr 1905 beschäftigt sich Freud mit dem Problem des Hermaphroditismus. Seine Überlegungen beziehen sich nicht nur auf die psychische Seite des Menschen, sondern auch auf die körperliche. "Die Wissenschaft kennt aber Fälle, in denen die Geschlechtscharaktere verwischt erscheinen und somit die Geschlechtsbestimmung erschwert wird; zunächst auf anatomischem Gebiet. Die Genitalien dieser Personen vereinigen männliche und weibliche Charaktere (Hermaphroditismus). In seltenen Fällen sind nebeneinander beiderlei Geschlechtsapparate ausgebildet (wahrer Hermaphroditismus); zu allermeist findet man beidseitige Verkümmerungen (...). Ein gewisser Grad von anatomischem Hermaphroditismus gehört nämlich der Norm an; bei keinem normal gebildeten männlichen oder weiblichen Individuum werden die Spuren vom Apparat des anderen Geschlechts vermisst." Daraus ergebe sich eine ursprüngliche bisexuelle Veranlagung, die sich im Laufe der Entwicklung zur Monosexualität entwickle. Allerdings meint Freud auch, dass man sich nicht eine zu nahe Beziehung zwischen psychischem und nachweisbarem "anatomischem Zwittertum" vorstellen dürfe. Zur Bisexualität führt er weiter aus: "Diese ergibt für den Menschen, dass weder im psychologischen noch im biologischen Sinne eine reine Männlichkeit oder Weiblichkeit gefunden wird. Jede Einzelperson weist vielmehr eine Vermengung ihres biologischen Geschlechtscharakters mit biologischen Zügen des anderen Geschlechts und eine Vereinigung von Aktivität und Passivität auf." Damit sieht Freud in biologischen Gegebenheiten eine wichtige Grundlage für seine Auffassung der psychischen Bisexualität. Diese Beschreibungen entsprechen der modernen Auffassung eines männlichen beziehungsweise weiblichen Körpers.

Freuds Überlegungen zur Bisexualität sind einer Konzeptualisierung einer dem körperlichen Geschlecht entsprechenden weiblichen beziehungsweise männlichen Geschlechtsidentität gewichen. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand eine erneute Auseinandersetzung zum Zusammenspiel von auf das Geschlecht bezogenen körperlichen Phänomenen und dem Geschlechtsidentitätserleben statt. Dem Zeitgeist entsprechend haben zwei Aspekte eine zentrale Rolle gespielt: erstens die Einführung neuer medizinischer Methoden, die es ermöglichen sollten, körperliche Auffälligkeiten bezogen auf die Geschlechtsentwicklung sowohl mit Sexualhormonen als auch durch chirurgische Maßnahmen zu behandeln. Dabei darf nicht übersehen werden, wie sehr Menschen mit entweder nicht eindeutigem Geschlecht, aber auch diejenigen Menschen, die den Körper als nicht ihrem Geschlecht entsprechend empfanden, darunter gelitten haben. Mediziner und Psychologen verfolgten das Ziel, dieses Leid zu lindern. Zweitens griff auf psychologischer Seite die Auffassung um sich, man könne durch Erziehung das Geschlecht eines Kindes beeinflussen, ja formen und selbst bei einem nichteindeutigen körperlichen Geschlecht könne man ein Kind so erziehen, dass es eine eindeutig weibliche oder männliche "stabile" Geschlechtsidentität entwickle. In der Anlage-Umwelt-Diskussion überwog die Betonung der Bedeutung der Umwelt. Entsprechend dieser Entwicklungen meinten auch Psychoanalytiker, Menschen mit auffälligem oder "falschem" Körper so behandeln zu können, dass andere und im optimalen Fall auch die Person selbst nichts oder kaum etwas von der Ausgangssituation merken würden. Um ihnen Diskriminierungen zu ersparen, sollten sie und in vielen Fällen auch die Angehörigen bei Vorliegen von intersexuellen Phänomenen möglichst nie etwas von den ursprünglichen Geschlechtsgegebenheiten und den folgenden Behandlungen erfahren, was bei vielen Betroffenen über Jahrzehnte zu kumulativen Traumata führte.

Der Psychologe John Money empfahl, Personen mit "Hermaphroditismus" zu helfen, indem sowohl körperlich als auch psychisch ein eindeutiges Geschlecht (sex/gender) hergestellt werden sollte. Von psychoanalytischer Seite spielte hier Robert Stollers Begriff der Kerngeschlechtsidentität eine zentrale Rolle, der sich mit Fragen der Entstehung von Transsexualität beschäftigte. Seine Theorie wirkte für die Behandlung auch von Personen mit Intersexualität bis ins 21. Jahrhundert nach. Er verstand unter Kerngeschlechtsidentität eine sehr früh erworbene Überzeugung eines Kindes, einem bestimmten Geschlecht anzugehören. Diese Überzeugung werde in den meisten Fällen konfliktfrei erworben. Der Einfluss der Eltern, die ihre unbewussten Wünsche und Überzeugungen an das Kind herantrügen, sei dabei entscheidend. Im Alter vom 18. bis 24. Monat wisse ein Kind, welchem Geschlecht es angehöre, und dieses Wissen bleibe auch in der weiteren Entwicklung weitgehend stabil. In den meisten Fällen stimme die Kerngeschlechtsidentität mit dem körperlichen Geschlecht überein. Identifizierungsprozesse mit beiden Elternteilen seien dabei von Wichtigkeit. Mädchen wie Jungen würden sich zunächst durch die enge Beziehung zur Mutter mit dieser identifizieren. Der Junge müsse dann einen Prozess der Desidentifizierung von der Mutter durchlaufen, um sich mit dem Vater identifizieren zu können. Stoller nahm an, dass Transsexuelle bereits in diesem frühen Alter eine "transsexuelle Kerngeschlechtsidentität", das heißt dem Körper widersprechende Identität entwickeln können.

Zunächst Money und später Ethel Person und Lionel Ovesey konzeptualisierten den Begriff der Geschlechtsrollenidentität, worunter nicht nur das Erleben als Mann oder Frau verstanden wird, sondern vielmehr das geschlechtliche Selbstbild im Hinblick auf gesellschaftliche Erwartungen und Normierungen.

Diesen Ansätzen liegt ein binäres Verständnis von Geschlecht zugrunde, das heißt, sowohl Betroffene als auch Therapeuten, Endokrinologen und Chirurgen standen vor der Frage, ob es sich bei Personen, deren Geschlechtsidentität nicht ihrem Körper entsprach, um einen Mann oder eine Frau jeweils im falschen Körper, um einen wahren Transsexuellen handle. Nach der Einführung von neuen Behandlungsmöglichkeiten mit Hormonen und chirurgischen Eingriffen stand über Jahre die Auffassung im Zentrum, wer transsexuell ist, strebe in jedem Fall eine möglichst vollständige medizinische Anpassung an das andere Geschlecht an. Erfahrungen der vergangenen Jahre haben uns eines Besseren belehrt und auch die psychoanalytische Betrachtung der Entwicklung der Geschlechtsidentität beeinflusst. In der modernen Psychoanalyse geht es nicht mehr um eine Anlage-Umwelt-Gegenüberstellung, sondern um eine multifaktorielle Determinierung des Identitätserlebens, das sehr viel vielfältiger ausfallen kann als ausschließlich männlich oder weiblich.

Geschlechtsidentität wird somit nicht mehr als das Ergebnis eines psychosexuellen Entwicklungsschrittes angesehen, der mit dem zweiten bis dritten Lebensjahr abgeschlossen ist. Sie entwickelt sich in einem jahrelangen Prozess, wobei man annehmen kann, dass sie in vielen Fällen weitgehend konfliktfrei erlebt wird, in anderen Fällen zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Entwicklung es zu einem Hinterfragen, zu einer Dysphorie kommen kann, wie sich die Person selbst erlebt: als Mann, als Frau oder dazwischen. Die Irritation der Geschlechtsidentität kann sowohl durch biologische Faktoren, die bisher nur wenig bekannt sind, etwa genetische, hormonelle Prozesse, durch Erfahrungen im Umgang mit dem Körper, durch Selbst- und Fremdkategorisierungen und entwicklungsbedingte Konflikte, vor allem aber durch Beziehungserfahrungen beeinflusst werden.

Körperbild und Beziehungserfahrungen

Für die Sexualentwicklung ist die Entstehung eines angemessenen Körperbildes, von körperlichen Selbstrepräsentanzen von größter Bedeutung. Annelise Heigl-Evers hat in diesem Zusammenhang den Begriff des "Körpers als Bedeutungslandschaft" geprägt. In den ersten Lebensjahren geht es um die Inbesitznahme der eigenen Körperlichkeit, den Entwurf einer Topografie lustvoller Erfahrungen. Lange bevor ein Kind Ängste um seinen eigenen Körper, seine eigenen Genitalien entwickelt, wird es mit Ängsten der Eltern um seinen Körper und um seine Genitalien konfrontiert. Gerade diese frühen Erfahrungen können bei Kindern mit nichteindeutigem Genitale beeinträchtigt und gestört werden, vor allem dann, wenn die Ablehnung des kindlichen Genitales zur Ablehnung des Kindes als Ganzes führt. "Meine Eltern schämten sich für mich; sie befürchteten sozialen Abstieg, Hohn, Spott, wenn die Verwandten beziehungsweise Nachbarn erfahren würden, dass ich irgendwie anders bin. Die Familie als Ganzes war wichtiger als ich, darum wurde Alles um mich totgeschwiegen." Für ein Kind, das nicht begehrt wird, ist es kaum möglich, eigenes Begehren zu entwickeln, vor allem aber ist es nach ablehnenden Erfahrungen schwierig, sich vorzustellen, von anderen begehrt zu werden, was wiederum zu einer Verunsicherung in der Identitätsentwicklung führen kann: "Was ist an mir falsch, dass ich nicht begehrt, nicht geliebt werde?"

Die Beobachtung eines nichteindeutigen Genitales mag zu einer Konfrontation mit der eigenen Männlichkeit oder Weiblichkeit bei den Eltern und Behandlern führen. Dabei muss bedacht werden, dass nicht das Kind zunächst unter dem auffälligen Genitale leidet, sondern die Eltern und Ärzte. Die Forderung, Eindeutigkeit müsse hergestellt werden, entsteht in ängstlicher Identifikation mit dem Kind, gehänselt, stigmatisiert, aber auch nicht begehrt zu werden. Der Wunsch nach Beseitigung der Nichteindeutigkeit ist zwar verständlich, darf aber die zukünftige Entwicklung des Kindes nicht außer Acht lassen. In vielen Fällen gelingt es nicht, durch chirurgische Eingriffe an einem intersexuellen Kind eine eindeutige Geschlechtsidentität herzustellen.

In keiner Lebensphase findet eine so ausgedehnte Stimulierung des gesamten kindlichen Körpers statt wie in den ersten Lebensmonaten. Über- und Unterstimulierungen dürften dabei weitreichende Konsequenzen für die Bildung der oben erwähnten körperlichen Topographie haben. Wolfgang Mertens schreibt in diesem Zusammenhang, dass "das körperliche Handlungsgedächtnis, in dem die sensorischen und affektiven Erfahrungen gespeichert werden, im ersten Lebensjahr besonders wichtig" ist. Während für die meisten Eltern die Maßnahmen der Körperpflege, aber auch die kommunikativen Interaktionen mit dem Kleinkind neben anfänglichen Unsicherheiten keine Probleme bereiten, zeigen Eltern eines Kindes mit nicht eindeutigem Genitale oft große Unsicherheiten. Die Frage, was für das Kind förderlich oder schädigend ist, spielt hier bewusst und unbewusst im Umgang mit dem Kind eine wichtige Rolle. Die ablehnende Berührung der Eltern kann zur Ablehnung des eigenen Körpers durch das Kind führen.

Ein zentrales Thema in der psychoanalytischen Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Geschlechtsidentität ist die Frage der Beziehungsgestaltung. Bereits in der Kindheit wird die Grundlage gelegt, welche Beziehungen im Laufe des Lebens gelebt werden können. Sowohl die Psychoanalyse wie auch die Bindungstheorie nehmen an, dass frühe Beziehungserfahrungen wichtig sind für das Geschlechtsidentitätserleben. Supportives, responsives Verhalten und präsente Bezugspersonen in der Kindheit sind Grundlage für ein selbstsicheres Identitätserleben. Gerade bei Auftreten von Unsicherheiten bezüglich des Geschlechts erlaubt das Vorhandensein von "Bindungspersonen", die auf das Kind empathisch reagieren, dem Kind nicht nur ein sicheres Bindungssystem zu entwickeln, sondern auch eine stabile Identität. Die unmittelbare Reaktion der Eltern auf die Geburt (nicht nur) eines intersexuellen Kindes prägt die Atmosphäre, in der sich die Eltern-Kind-Beziehung entwickeln wird. Die Geburt eines Kindes mit nichteindeutigem Geschlecht führt in jedem Fall zunächst zu einer Verunsicherung.

Können Eltern ihr Kind aufgrund seiner Intersexualität nicht annehmen, werden sie dem Kind die notwendige Zuwendung verweigern. Daraus kann sich beim Kind eine Angst, nicht versorgt zu werden, entwickeln, die sich auf eine Angst, verlassen zu werden, ausdehnen kann. Gerade solche Ängste können zu unterschiedlichen Verhaltensweisen führen, wie beispielsweise andere kontrollieren zu wollen, Aufmerksamkeit in besonderem Maße auf sich zu lenken oder, was noch viel häufiger der Fall ist, zu einem depressiven Rückzug. Die Angst, abgelehnt zu werden, kann auch zu einer Anpassung hinsichtlich des Geschlechtsrollenverhaltens führen, das nicht dem inneren Erleben der Identität entspricht.

Probleme der Identifikation bei Intersexualität

In der Psychoanalytischen Entwicklungstheorie spielt die Identifikation und Desidentifikation mit dem gleich- beziehungsweise gegengeschlechtlichen Elternteil eine entscheidende Rolle. Ein Kind mit nichteindeutigem Geschlecht wird in der ödipalen Phase Irritationen ausgesetzt sein, die ein Kind mit eindeutigem Geschlecht nicht kennt. Für ein Kind, dessen Eltern in ihrer eigenen Person männliche und weibliche Anteile zulassen können, wird es leichter sein, sich mit dem Vater beziehungsweise der Mutter zu identifizieren, ohne zu sehr auf Abweichungen aufmerksam zu werden. Andererseits muss man davon ausgehen, dass das Erleben der Andersartigkeit schon früh zu einer Vereinsamung führen kann, vor allem wenn die Forderung erhoben wird, über die besondere Situation des Kindes nicht sprechen zu dürfen. Während man früher gehofft hatte, Kindern mit Intersexualität die Entwicklung zu erleichtern, indem man sie möglichst strikt in einer Geschlechtsrolle erzieht, haben die Erfahrungen der vergangenen Jahre gezeigt, dass ein toleranter Umgang mit nicht geschlechtsspezifischen Interessen und Verhaltensweisen zu einer stabileren Entwicklung des Selbst führen kann und dann die so oft befürchtete Stigmatisierung als weniger traumatisierend erlebt wird.

Wenig Beachtung wurde bisher den spezifischen Problemen von Jugendlichen mit intersexueller Symptomatik geschenkt. Viele starke Ängste, die bei den meisten Jugendlichen zum Zeitpunkt der Pubertät auftreten, erhalten bei Jugendlichen mit Intersexualität reale Bedeutung (beispielsweise die Angst, keine Menstruation zu bekommen, der Penis könnte nicht wachsen, Brüste könnten wachsen). Alle diese möglichen körperlichen Veränderungen können ganz spezifische Konflikte in der Entwicklung des Selbst hervorrufen. Die Hoffnung, diese durch medizinische Maßnahmen beseitigen zu können, muss in vielen Fällen als gescheitert angesehen werden. Ein bewusster und offener Umgang mit der spezifischen Situation und die Akzeptanz des Kindes in seiner Besonderheit könnten die Grundlage für eine möglichst ungestörte Entwicklung darstellen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Timo Nieder/Hertha Richter-Appelt, Tertium non datur - either/or reactions to transsexualism amongst health care professionals: the situation past and present, and its relevance to the future, in: Psychology & Sexuality, 2 (2011) 3, S. 224-243.

  2. Vgl. Hertha Richter-Appelt, Intersexualität im Wandel, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 20 (2007) 2, S. 93-98; Katinka Schweizer, Sprache und Begrifflichkeiten, in: Katinka Schweizer/Hertha Richter-Appelt (Hrsg.), Intersexualität kontrovers: Fakten, Erfahrungen, Positionen, Gießen 2012, S. 19-39.

  3. Vgl. Hertha Richter-Appelt, Intersexualität - Störungen der Geschlechtsentwicklung, in: Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz, 50 (2007) 1, S. 52-61.

  4. Vgl. Franziska Brunner et al., Körper- und Geschlechtserleben bei Personen mit kompletter Androgeninsensitivität, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 25 (2012) 1, S. 26-48.

  5. Vgl. Timo Nieder/Hertha Richter-Appelt, Transsexualität und Geschlechtsdysphorie, in: CME Praktische Fortbildung Gynäkologie, Geburtsmedizin, Gynäkologische Endokrinologie, 8 (2012) 1, S. 60-71.

  6. Vgl. T. Nieder/H. Richter-Appelt (Anm. 1); Timo Nieder/Kirsten Jordan/Hertha Richter-Appelt, Zur Neurobiologie transsexueller Entwicklungen, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 24 (2011) 3, S. 199-227.

  7. Vgl. auch Ilka Quindeau, Geschlechtsentwicklung und psychosexuelle Zwischenräume aus der Perspektive neuerer psychoanalytischer Theorien, in: K. Schweizer/H. Richter-Appelt (Anm. 2), S. 119-130.

  8. Vgl. Hertha Richter-Appelt, Intersexualität und Geschlecht. Sexuelle Wünsche und Fantasien bei nicht eindeutigem Geschlecht, in: Anne Springer/Karsten Münch/Dietrich Munz (Hrsg.), Sexualitäten, Gießen 2008, S. 331-346.

  9. Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Gesammelte Werke, Bd. V, London 1905/1942, S. 40.

  10. Ebd., S. 121.

  11. Vgl. I. Quindeau (Anm. 7).

  12. Vgl. Karsten Schützmann et al., Psychological distress, self-harming behavior, and suicidal tendencies in adults with disorders of sex development, in: Archives of sexual behavior, 38(2009) 1, S. 16-33.

  13. Vgl. John Money, Hermaphroditism, Gender and precocity in Hyperandrenocorticism: Psychological Findings, in: Bulletin John Hopkins Hospital, 96 (1955), S. 253-264.

  14. Vgl. Robert Stoller, Sex and Gender. On the Development of Masculinity and Femininty, Bd. 1, New York 1968.

  15. Vgl. Ethel Person/Lionel Ovesey, Psychoanalytic Theory of Gender Identity, in: Journal of the American Psychoanalytic Association, 11 (1983), S. 203-226 (dt.: Psyche, 47 (1993), 505-527).

  16. Vgl. Annelise Heigl-Ever/Brigitte Weidenhammer, Der Körper als Bedeutungslandschaft. Die unbewußte Organisation der weiblichen Geschlechtsidentität, Bern 1988.

  17. Zit. nach: Katinka Schweizer/Lisa Brinkmann/Hertha Richter-Appelt, Zum Problem der männlichen Geschlechtszuweisung bei XX-chromosomalen Personen mit Andrenogenitalem Syndrom (AGS), in: Zeitschrift für Sexualforschung, 20 (2007) 2, S. 145-161, hier: S. 150.

  18. Wolfgang Mertens, Entwicklung der Psychosexualität und der Geschlechtsidentität, Bd. 1: Geburt bis 4. Lebensjahr, Stuttgart 1992, S. 55.

  19. Vgl. K. Schützmann et al. (Anm. 13).

Dr. phil., geb. 1949; Psychologische Psychotherapeutin; Psychoanalytikerin; Professorin für Sexualwissenschaften am Fachbereich Medizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Martinistraße 52, 20246 Hamburg. E-Mail Link: hrichter@uke.de