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Auszug: Werte, Milieus und Lebensstile. Zum Kulturwandel unserer Gesellschaft | Sozialisation | bpb.de

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Auszug: Werte, Milieus und Lebensstile. Zum Kulturwandel unserer Gesellschaft

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In den 1970er Jahren hat der amerikanische Soziologe Ronald Inglehart (1989) in der westlichen Welt einen einschneidenden Wertewandel von materialistischen (Vermögen und Besitztum) zu postmaterialistischen Werten (Selbstverwirklichung und Kommunikation) ausgemacht. Seine Überlegungen beruhten auf zwei zentralen Annahmen: 1. Menschen begehren das in ihrer Umwelt, was relativ knapp ist (die Mangelhypothese). Die ältere Generation musste in der akuten Mangelsituation unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, so seine Vermutung, zunächst materielle Bedürfnisse befriedigen – infolgedessen war sie Anhänger materialistischer Werte; aber schon ihre Kinder – in den neu gewonnenen Wohlstand hineingeboren – würden dagegen verstärkt postmateriellen Werten der Selbstverwirklichung folgen. 2. Die grundlegenden Werte eines Menschen werden in seinen jungen Jahren, in der "formativen Periode" geprägt und bleiben über den gesamten Lebenslauf stabil (die Sozialisationshypothese). Frühzeitig gebildete und dauerhafte Werte dienen als Richtschnur und Orientierung für die gesamte Lebensführung eines Menschen. (…)

Mit diesem Wertewandel lässt sich auch ein Stück weit die in dieser Zeit zu beobachtende Individualisierung sowie die Pluralisierung von sozialen Milieus und Lebensstilen erklären. Die Menschen richteten ihr Leben nicht mehr nach tradierten kollektiven Lebensweisen ein, die sie meist von den Eltern übernommen hatten. Vielmehr wurde es eine Frage der individuellen Wahl oder Kreation des eigenen Lebensstils, welchen Bildungsweg man einschlägt, welche Berufswahl man trifft, ob und wenn ja, wann man eine feste Beziehung eingeht, ob man heiratet oder nicht, ob man Kinder bekommt oder nicht, ob man sich gesellschaftlich und politisch engagiert oder nicht. (…)

Individualisierung und kulturelle Orientierung

Der Wertewandel, so wie ihn Inglehart für die 1970er Jahre diagnostiziert hat, hängt mit dem breiter angelegten, fundamentalen sozialen Wandel moderner Gesellschaften hin zur Individualisierung der Lebensgestaltung zusammen. (…) Mehr Einkommen, Bildung, soziale Sicherheit, Freizeit und Mobilität haben dazu geführt, dass viele Menschen über mehr Ressourcen und mehr Optionen für individuelles Handeln verfügen. Sie lösen sich dadurch von den restriktiven Verhaltensregeln der zentralen Gemeinschaften, vor allem der Familie, der lokalen Gemeinde, der Religion und der sozialen Klasse bzw. Schicht. Dadurch sind die Menschen in der Lage, aber auch dazu gezwungen, ihr Leben relativ eigenständig zu gestalten, Entscheidungen in eigener Verantwortung zu fällen. Hierdurch wachsen die Freiheiten der Lebensführung, gleichzeitig steigen aber auch die Risiken des Scheiterns. Um Halt und Richtung zu finden, schließen sich daher viele Menschen mit anderen zusammen, die ähnliche Bestrebungen, Lebensstile und Lebensziele aufweisen, oder sie lehnen sich an Vorbilder aus den Medien, der Popkultur etc. an. Individualisierung äußert sich also nicht unbedingt in immer unterschiedlicherer individueller Lebensgestaltung, sondern kann zu neuen gleichförmigen sozialen Gruppierungen führen. Allerdings unterscheiden sich diese Szenen, Cliquen, Milieus und Lebensstilgruppierungen von älteren Gemeinschaften durch ihre größere Flüchtigkeit und Wandelbarkeit, sowohl was ihre charakteristischen Merkmale als auch ihre personelle Zusammensetzung betrifft: Waren früher religiöse Gemeinschaften, Klassenkulturen und regionale Zugehörigkeiten meist lebens lang prägend, so verlassen oder wechseln individualisierte Menschen die neuen Wahlgemeinschaften, wenn andere Umstände oder Neigungen es nahelegen. (…)

Die sozialstrukturelle Prägung kultureller Gemeinschaften

Obwohl die genannten Individualisierungsvorgänge die Zugehörigkeit zu sozialen Milieus und Lebensstilen – und nicht selten auch deren Existenz – unbeständiger machen, finden sich auch in modernen Gesellschaften relativ stabile kulturelle Gruppierungen. Sie entstehen aus einer Vielzahl von Bestimmungsgründen: aus religiöser Überzeugung, aus lokaler und regionaler Überlieferung, durch Einflüsse des Berufsmilieus.

Die Habitustheorie Pierre Bourdieus (1982) macht darüber hinaus darauf aufmerksam, dass relativ stabile soziale Milieus und Lebensstile immer wieder durch Anpassungsprozesse an die Lebensbedingungen sozialer Klassen und Klassenfraktionen zustande kommen und reproduziert werden. Bourdieu geht von drei Ressourcenarten und deren ungleicher Verteilung aus: dem ökonomischen Kapital (Geld), dem Bildungskapital (Bildungsabschlüsse, Bildungsgüter, inkorporierte Bildung) und dem sozialen Kapital (Beziehungen). Je nach Gesamtgröße ihres Kapitalbesitzes gehören die Menschen der Arbeiterklasse, dem Kleinbürgertum oder der Bourgeoisie an (vertikaler Aspekt). Und je nach Zusammensetzung bzw. Zukunftsaussichten ihres Kapitalbesitzes werden sie den Klassenfraktionen der Besitz- oder der Bildungsbourgeoisie, dem alten, dem neuen oder dem "exekutiven“ Kleinbürgertum sowie auf- und absteigenden Klassenfraktionen zugerechnet (horizontaler sowie Laufbahnaspekt).

Wenn Menschen innerhalb der jeweiligen Lebensbedingungen ihrer sozialen Klasse bzw. Klassenfraktion aufwachsen, entstehen zwangsläufig und weitgehend unbewusst klassen- und klassenfraktionsspezifische Habitusformen. Das sind latente Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster, die einerseits Spektrum und Formen alltäglichen Handelns begrenzen, andererseits aktives Handeln ermöglichen. So entsteht der typische, am Nützlichkeitsdenken orientierte Habitus der Arbeiterklasse aufgrund deren Lebenslage, die von harten Notwendigkeiten, Restriktionen und einer "Kultur des Mangels“ geprägt ist. Ihr Kauf- und Konsumverhalten orientiert sich daher weniger an ästhetischen Gesichtspunkten als an Preis, Gebrauchswert und Haltbarkeit. Der Habitus der Arbeiterklasse legt also ein Sich-Einrichten in den gegebenen engen Verhältnissen nahe. Der Habitus des Kleinbürgertums dagegen ist, seiner Mittellage entsprechend, auf sozialen Aufstieg ausgerichtet, auf die ehrgeizige, teils ängstliche, teils plakative Erfüllung vorgegebener kultureller Normen. Diese Haltung greift auch über auf Fragen der Bildung und des Geschmacks. Der Habitus des Kleinbürgertums zeichnet sich durch ein eher angestrengtes Bemühen aus, "das Richtige“ zu tun. Der Habitus der Bourgeoisie hingegen ermöglicht es, sich in intimer Kenntnis der "richtigen“ Standards und des legitimen Geschmacks über das beflissene Kleinbürgertum zu erheben, einen eigenen Stil zu entwickeln sowie diesen unter Umständen als gesellschaftliche Norm zu propagieren und durchzusetzen. (…) Die Prägekraft der jeweiligen Habitusformen und entsprechenden sozialen Milieus zeigt sich im praktischen Verhalten, im Lebensstil, in den präferierten Wohnungseinrichtungen und Speisen, Kleidungsstilen, Sportarten und Fernsehsendungen, den bevorzugten Musikstilen, Malern, Museen und Komponisten und vielem mehr.

Die Struktur sozialer Milieus in Deutschland

"Soziale Milieus“ sind Gruppen Gleichgesinnter, die ähnliche Werthaltungen, Prinzipien der Lebensgestaltung und Mentalitäten aufweisen. Diejenigen, die dem gleichen sozialen Milieu angehören, empfinden einander als ähnlich, haben ähnliche kulturelle Wertorientierungen, interpretieren und gestalten ihre Umwelt in ähnlicher Weise und unterscheiden sich dadurch von Menschen anderer sozialer Milieus. Kleinere Milieus, die zum Beispiel typisch für eine Organisation, ein Stadtviertel oder einen Beruf sind, weisen über die gemeinsame Mentalität der Mitglieder hinaus häufig einen inneren Zusammenhang auf, der sich in einem Wir-Gefühl und in verstärkten Kontakten der Milieuzugehörigen zeigt.

Das Gefüge sozialer Milieus auf gesamtgesellschaftlicher Ebene ist zu einem guten Teil von der Klassen- und Schichtstruktur abhängig. Es gibt demnach typische Unterschicht-, Mittelschicht- und Oberschichtmilieus. Welche Werthaltungen und Mentalitäten ein Mensch aufweist, ist also – vermittelt über einen gemeinsamen Habitus – auch eine Frage seines Einkommens, seines Bildungsgrades und seiner beruflichen Stellung. Es sind diese Mentalitätsunterschiede, die die Mitglieder der einzelnen Schichten im Alltag zusammenführen bzw. trennen. (…)

Die Übergänge zwischen sozialen Milieus sind fließend. Viele Menschen leben am Rande eines Milieus, stehen zwischen Milieus oder sind mehreren Milieus zugleich zuzuordnen. Soziale Milieus stellen zwar relativ homogene Binnenkulturen einer Gesellschaft dar, aber keine strikt voneinander getrennten gesellschaftlichen Gruppierungen mit allgemein bekannten und anerkannten Namen und symbolisch (z. B. durch die Kleidung) klar ausgewiesenen Zugehörigkeitszeichen. Es handelt sich vielmehr um von Sozialwissenschaftlern nach typischen Merkmalskonstellationen zusammengefasste sowie "künstlich“ abgegrenzte und benannte Gruppierungen. In modernen Gesellschaften sind Großgruppen nicht mehr so leicht sichtbar, wie dies früher einmal der Adel, das Großbürgertum und die Industriearbeiterschaft waren. Sie müssen mehr als früher durch solche sozialwissenschaftliche "Milieulandkarten“ erst sichtbar gemacht werden. Als solche Sozialkartierungen entwickeln sie ein Eigenleben, indem sie zum zustimmenden oder ablehnenden Bezugspunkt von Selbst- und Fremdidentifikationen von Personen werden oder in institutionellen und kommerziellen Klassifikationssystemen (z. B. von Problemgruppen oder Konsumententypen) Eingang finden. (…)

Was bewirkt die Milieuzugehörigkeit?

In modernen Dienstleistungsgesellschaften definieren sich die Menschen selbst nicht mehr so vorrangig durch ihren Beruf und ihre Schichtzugehörigkeit wie die Menschen in typischen Industriegesellschaften, auch wenn die zeitliche Beanspruchung durch die Berufsarbeit bei den Führungskräften und in vielen Kreativ berufen keineswegs nachgelassen hat. Vielmehr identifizieren sich die Angehörigen postindustrieller Gesellschaften nicht zuletzt durch ihre Werthaltungen und damit durch ihre Milieuzugehörigkeit sowie durch ihren Lebensstil. Oft symbolisieren sie dies durch ihre Kleidung, ihren Musikgeschmack etc. und tragen somit ihre Zugehörigkeit auch nach außen.

Immer mehr Menschen wollen ihren eigenen Lebensentwurf (aus)leben, jedoch in der Regel nicht allein, sondern zusammen mit Gleichgesinnten in der eigenen Wohnung bzw. im eigenen Haus und in der Nachbarschaft. Dies trägt dazu bei, dass die sozialen Milieus auch räumlich auseinanderrücken. Das macht sich zum Beispiel in den Städten bemerkbar. Nicht nur die sozialstrukturellen, sondern auch die soziokulturellen Merkmale der Bewohner der einzelnen Stadtviertel unterscheiden sich immer deutlicher. Angesichts dieser Tendenz hin zur "sozialen Segregation“ wird es immer schwieriger, eine "soziale Durchmischung“ in den einzelnen Stadtvierteln zu erreichen.

Die Menschen, die einem bestimmten sozialen Milieu angehören, denken und verhalten sich in der Praxis relativ ähnlich und unterscheiden sich dadurch von den Mitgliedern anderer Milieus z. B. hinsichtlich Konsumneigungen, Parteipräferenzen und Erziehungsstilen. Milieugliederungen dienen daher auch Marketing analysten, um Zielgruppen zu definieren, Wahlkampfstrategen, um Wählerpotenziale zu erschließen, Sozialisationsforschern, um typische Lernstrategien zu lokalisieren und zu erklären.

Ist die Milieuzugehörigkeit von Menschen bekannt, dann weiß man viel über die Sehnsüchte, Interpretationen, Motive und Nutzenerwartungen von Menschen. So lässt sich die Nutzung bestimmter Medien, der Kauf bestimmter Konsumgüter, die Neigung zu bestimmten Parteien etc. aufgrund der Werthaltungen und Zielsetzungen der Menschen ein gutes Stück weit erklären und voraussagen. Umgekehrt kann man so aufzeigen, welche Inhalte Zeitschriftenartikel, Werbebotschaften oder Parteiprogramme aufweisen müssen, um den Motiven und Werthaltungen bestimmter Menschen zu entsprechen. Ist dagegen die Schichtzugehörigkeit von Menschen bekannt, weiß man viel über die Ressourcen bzw. Kapitalien (Geld, Bildung, Beziehungen etc.), die den Einzelnen zur Verfügung stehen, um ihre Ziele zu erreichen und ihren Werthaltungen gemäß zu leben. Auf diese Weise können sich Informationen und Daten zur Schicht- und zur Milieuzugehörigkeit sehr gut ergänzen. (…)

Lebensstilgruppierungen in Deutschland

Als Lebensstil bezeichnet man die typischen, mehr oder minder frei gewählten Routinen und Muster des Alltagsverhaltens von Menschen. Lebensstile werden unter anderem beeinflusst von den Werthaltungen und damit von der Milieuzugehörigkeit der Menschen. Ein "Konservativer“ wird in der Regel andere Gewohnheiten und Präferenzen haben als ein "Hedonist“. Aber auch die verfügbaren Ressourcen und damit die Klassen- und Schichtzugehörigkeit sowie die Haushalts- und Familienform prägen den Lebensstil. Wer über wenig Geld oder Bildung verfügt, dem werden bestimmte Lebensstile unerreichbar bleiben. Wer eine Familie gründet, der wird erleben, wie schnell und drastisch sich sein Lebensstil verändert. Bis zu einem gewissen Grad sind Lebensstile aber nicht nur von außen geformt, sondern werden von Menschen selbst gestaltet. In wohlhabenden und liberalen Gesellschaften, die den Menschen viele Möglichkeiten zur Lebensgestaltung bieten, spielen Lebensstile daher eine größere Rolle als in armen und autoritären Gesellschaften. (…)

Ähnlich wie soziale Milieus weisen auch die ver-schiedenen Lebensstilgruppierungen in der Regel Affinitäten zu einer bestimmten sozialen Schicht oder Klasse auf. Durch die Zunahme der Ungleichheit von Einkommen und Vermögen rücken die Lebensstilgruppen daher in vertikaler Hinsicht weiter auseinander. Auf diese Weise schlägt sich die wachsende soziale Ungleichheit auch im Alltagshandeln der Menschen nieder. Durch die Pluralisierung sozialer Milieus in den letzten Jahrzehnten, auch infolge der Zuwanderung aus ganz anderen Kulturkreisen, entfernen sich die Lebensstilgruppen auch horizontal voneinander. Wer in Deutschland lebt, sieht sich also keiner geschlossen-einheitlichen Kultur gegenüber. Vielmehr herrscht, wie in den meisten freiheitlichen westlichen Gesellschaften, eine pluralistisch-heterogene kulturelle Gemengelage aus vielfältigen historischen Erfahrungen, gemeinsamen westlich-europäischen Werten und genuin nationalen Eigenarten vor.

Auszug aus: Hans-Peter Müller, Werte, Milieus und Lebensstile. Zum Kulturwandel unserer Gesellschaft, in: Stefan Hradil (Hrsg.), Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde, Bonn 2012, S. 189–211, online: www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde (12. 11. 2012).