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"Tangomanie". Die erste Tanzwelle | Vorkrieg 1913 | bpb.de

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"Tangomanie". Die erste Tanzwelle

Bernd Polster

/ 13 Minuten zu lesen

Tango. Dieses einzige Wort hat es zuwege gebracht, dass ältere, ganz vernünftige Menschen plötzlich Tanzstunde nehmen, dass eine ganze Gesellschaftsklasse ihre Zeiteinteilung verändert hat, um zu tanzen, dass Lokale plötzlich zu eng wurden, um alle Tango-Enthusiasten zu placieren, dass verstaubte Tanzmeister Protest bliesen" – und dass, so könnte man ergänzen, sich damals Fachleute und Journalisten darüber die Finger wund schrieben. Als der Tango aus Argentinien nach Europa kam, war das publizistische Echo enorm. Was heute, da der Tanz als öffentliches Thema nicht existiert, kaum mehr vorstellbar ist. In der Tango-Welle vor einhundert Jahren zeigt sich somit wie in einem Rückspiegel auch die heutige Marginalisierung des Tanzes.

Das einleitende Zitat entstammt dem Buch "Tanz-Brevier", das erste seiner Art, das im Jahr 1913 erschien. Darin beschreibt der Autor Franz Wolfgang Koebner jene "modernen Tänze", die sämtlich aus Amerika kamen und sich seit etwa 1903 in Europa verbreitet hatten. Diese Entwicklung steigerte sich dann 1913 zu dem, was Koebner "Tangomanie" nannte – wobei der Ursprung der neuen Tänze in den überseeischen Vorstadtghettos kein Geheimnis war und natürlich für exotischen Reiz sorgte. Sänger und Tänzer aus Amerika, oft mit dunkler Hautfarbe, gehörten im Kaiserreich ohnehin zum festen Repertoire der Cabarets und Tanzetablissements. Der für Klartext bekannte Berliner Volksmund teilte die neuen Tänze in zwei Gruppen, nämlich "Wackel- und Schiebetänze". Tango gehörte zu den "Schiebern". Es war die erste moderne Tanzwelle, die in der westlichen Welt weite Kreise der Bevölkerung erfasste, und der dann über das 20. Jahrhundert hinweg zahlreiche ähnliche Wellen folgen sollten, vom Charleston über Swing bis zu Rock ’n’ Roll und Hiphop. Ein Phänomen, dem in seiner Gesamtheit bislang wenig Beachtung geschenkt wurde. 1913 war das völlig anders.

Tango-Debatte

In Ländern wie Deutschland, Frankreich und den USA entfachte die erste Tanzwelle eine heftige Debatte. Aufregung herrschte nicht zuletzt bei den Tanzlehrern, die durch den ihnen unbekannten Tango ihr Monopol bedroht sahen. Auf der 12. Welttanzlehrerkonferenz in Paris, der "Académie internationale des Amateurs professeurs de danse, tenue et maintien" im Jahr 1913 kam der Tango deshalb kurzerhand "auf den Index". Die Kollegen vom "Verein Berliner Tanzlehrer von 1876" gingen noch einen Schritt weiter und wandten sich an den Polizeipräsidenten Traugott von Jagow. Dieser teilte ihnen schriftlich "ergebenst mit, dass die Polizeireviere angewiesen sind, auf anstössige Tänze ihr besonderes Augenmerk zu richten und erforderlichenfalls Strafanzeige zu erstatten", und zwar sowohl gegen die Tänzer als auch gegen die Saalbesitzer. Auf einer Versammlung des Vereins der Berliner Saalbesitzer wurde jedoch festgestellt, dass man "durch das Nichtdulden dieser Tänze erhebliche geschäftliche Nachteile erlitten" habe. Kollegen, die sich gegen die Tanzneuheiten sperren, erläuterte ein anwesender Tanzlehrer, würden deshalb von den Saalbesitzern "sofort entlassen". Dass in diesem Interessenkonflikt ein Antrag, bei den Behörden um Erlass eines Tanzverbots vorstellig zu werden, schließlich mehrheitlich abgelehnt wurde, verwundert kaum.

"Wer es bisher liebte, sich leidenschaftlich in politische oder gar Kunstgespräche zu verstricken, tritt nun in die Reihen der Tangopassionisten", meldete eine große Berliner Illustrierte 1913. In Paris veranstalteten gleich mehrere Zeitschriften Umfragen zum Thema Tango. Ausgerechnet der argentinische Botschafter ließ dabei verlauten, dass er den aus seiner Heimat stammenden Tanz auf seinen "Gesandtschaftsbällen auf das strengste verbiete", denn, so der Diplomat, "bei uns tanzen ihn nur Verbrecher und Dirnen". Der Romancier Anatole France erkannte dagegen im Tango eine "exotische Errungenschaft", der "etwas sehr Ausdrucksstarkes und sehr Menschliches" zukomme. Als schließlich der revolutionären Ideen zugetane Kollege Jean Richepin in der Académie française eine Rede für den Tango hielt, war zwar sein Pult dicht umlagert, aber von den Professoren des hohen Hauses kaum jemand anwesend. In der Haltung pro und contra Tango traten kulturelle Frontlinien zutage. Der moderne Tanz war ein Stimmungsbarometer der verkrusteten Gesellschaft und verfügte, ähnlich wie die moderne Kunst, über ein erhebliches Skandalpotenzial.

Tango als Körperkultur

Doch in Europa hat der Tango gar nicht als Provokateur Einzug gehalten, sondern als sportliche Disziplin: Wie beim Tennis, das ebenfalls gerade zur Freizeitbetätigung der feinen Gesellschaft geworden war, gab es bald exklusive Clubs und Turniere nach englischem Vorbild, ein deutlicher Hang zu Snobismus und Dekadenz inklusive. Der erste deutsche Tanzclub war 1911 in Berlin gegründet worden. Nur eine Saison später fanden sich dort bereits genügend Paare, die im Admiralspalast auf einem Turnier antraten, bei dem der Tango die Hauptattraktion bildete. Nebeninteressen wie Klatsch und Flirts wurden nun als unerwünschte Ablenkung empfunden. Die "Elegante Welt", Berlins gerade gegründetes Gesellschaftsblatt, das den Tanzsport propagierte, hielt es für unmöglich, "mit aufgeweichtem Kragen, klebenden Haaren, dem Temperamente Luft zu machen. Die ‚wirkliche Bewegung‘ ist abgetan."

Ausgerechnet am Tango entwickelten die Sportenthusiasten ihre Idealvorstellung eines reinen Tanzes. Die Überwindung des Körpers, seit dem Walzer auch ein Grundmotiv des bürgerlichen Gesellschaftstanzes, wurde nun zielstrebig umgesetzt. Deshalb sprach auch für den Tango, dass "es gottseidank unmöglich geworden ist, die Tangomusik so schnell nachzusingen, wie es die Trivialität der früheren Tänze gestattete". Anstelle fröhlichen Gesangs herrschte heiliges Schweigen, statt Freude an der Bewegung Stolz über die vollbrachte Leistung, statt Berührung Beherrschung.

Sport und Tango fusionierten als zwei Erscheinungsformen der Moderne. Sie berührten jedoch noch ein völlig anderes Konzept, das in jener Zeit entstand: die Idee der "Körperkultur". Die damals in Deutschland sehr verbreitete "Lebensreform"-Bewegung propagierte eine natürliche, einfache Lebensweise, oft nicht ohne eine kräftige Portion Esoterik und Vereinsmeierei. Man aß gesunde Rohkost, trug bequeme "Reformkleidung" und frönte der "Freikörperkultur". Mit dem dekadenten Tango hatten die Lebensreformer gewiss wenig im Sinn. Aber im Zuge ihrer Bestrebungen gelangten Gymnastik und Tanz automatisch in den Fokus des allgemeinen Interesses. Dazu gehörte dann eben auch, dass Nackttänzerinnen auf Cabaret-Bühnen auftraten und – stets unter der auch an den Staatsanwalt adressierten Versicherung, es handele sich dabei um eine Präsentation ästhetischer Vollkommenheit – ein beliebtes Skandalthema bildeten. Das war ebenso Teil einer Gemengelage, in der eine prüde, in ihren Konventionen eingeschnürte Gesellschaft sich am Tabubruch versuchte.

Als eine weitere Neuheit der Vergnügungsbühnen wurden professionelle Tanzpaare ins Repertoire aufgenommen, allen voran solche, die Tango tanzten. Sie trugen fremd klingende Namen, wie etwa das "brillante Tango-Duett Carry & Leon" oder die "famous brasilian Tango-dancers Chitty Dolores and Partner". Letztere hatten, neben "Ragtime", auch den "Tango-Apache" im Programm. Wobei es sich um eine weitere, ganz besondere Pirouette der Exotik handelte: In Frankreich wurde der Name des nordamerikanischen Indianerstamms zu einem Synonym für Draufgänger und Gauner und der "Apachentanz", ein choreografiertes Dramolett zwischen Dirne und Zuhälter, zu einer verrucht anmutenden Tanzattraktion.

Internationale der Schieber

Um 1907 war der Tango in Paris von Mitgliedern der argentinischen jeunesse dorée, der wohlhabenden, stets nach Vergnügen suchenden Jugend, erstmals vorgeführt worden, um, in Verbindung mit den ebenfalls gerade aufkommenden Tangoklängen, die Salons mit ein wenig Lokalkolorit zu dekorieren. Bald stellte sich heraus, dass die Mischung aus reizvoll verzögerten Rhythmen und Melancholie etwas ganz Besonderes war. Geschäftstüchtige Tanzlehrer griffen dies auf und sezierten den neuen Tanz flugs in bis zu zwanzig verschiedene Figuren. Derart gestutzt wurde der Tango in Deutschland zunächst für eine Pariser Modetorheit gehalten – was er nun im Grunde ja auch war. Als die Herkunft aus schwülen Gefilden durchsickerte, führte dies zur sentimentalen Verklärung. Das Bewusstsein, sich im Takt einer Musik zu bewegen, die aus den "Lasterhöhlen" von Buenos Aires und Montevideo kam, gehört seitdem zum festen Bestandteil der Tango-Romantik.

Bis heute erscheint der Tango als weitgehend singuläres Phänomen, was sich nicht zuletzt in umfangreicher Literatur niedergeschlagen hat. Dabei ist offensichtlich, dass zwischen der Entstehung des Tango und der anderer Schiebetänze in Europa und Amerika deutliche Parallelen bestehen. Der Rixdorfer aus Berlin, die Step-Tänze aus den USA, der Londoner Lambeth-Walk und eben auch der Tango, sie alle brachen mit der bürgerlichen Tanzdistanz, indem sie das "Schieben" zum Bewegungsstil machten. Sie alle wurzelten in ländlichen Tanzweisen und entstanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Vorstädten der Metropolen im multiethnischen Milieu der Armen, Arbeiter und Ganoven. Alle enthielten das sexuelle Moment und wurden eng umschlungen getanzt – als "Schieber", der proletarischen Internationale des Tanzes.

Im Übrigen war die "Schiebermütze" – englisch flat cap, französisch casquette – ebenfalls kosmopolitisch. Tatsächlich kommt die ambivalente Bedeutung der neuen Tänze gerade im berlinerischen Begriff des "Schiebers" gut zum Ausdruck. Der Begriff, der ursprünglich für den Vorarbeiter geprägt wurde, ist später auf kleine Gauner, Krisengewinnler und Zuhälter übertragen worden. Aber natürlich steckt darin auch eine Anspielung auf den Geschlechtsakt. Dass der proletarische Ursprung der Tanzmode auch später latent mitschwang, ist aus einem Gedicht herauszuhören, das damals in einer Berliner Tageszeitung erschien: "Mensch, was nützt dir Rang und Titel,/Schönheit, Schick und reiche Mittel,/wenn du nicht das eine kannst,/wenn du noch nicht Tango tanz’st?!/Jeder Gimpel ist dir über,/der ein richt’ger Tango-Schieber."

Biegsam, wie es der Tanz erfordert

Dem proletarischen Tango wurde die zweifelhafte Ehre zuteil, von Europas Lebewelt mit Kusshand adoptiert zu werden. "Gegen Morgen, nachdem Fässer voll Champagner geleert worden waren und ich selbst mich in gehobenster Stimmung befand, hatte ich die Idee, den Apachentango mit einem wunderschönen jungen Menschen zu tanzen", verriet Isodora Duncan, die als von Gewändern umhüllte Barfuß-Ballerina dem modernen Tanz den Weg ebnete. Europas Tango-Helden waren die "Ritter von Snob mit Einglas, gekrümmter Rückenlinie und nasaler Sprachbehandlung", die "Incroyables von 1913". Ihnen diente die männliche Hand, leicht abgespreizt, als Prellbock für antanzende Paare.

Private déjeuners, thés und soupers, damals Fixpunkte des gesellschaftlichen Lebens, wurden nun vom Tango erobert. "Wo man sonst zu einem Souper gebeten wurde, steht auf der Karte: Kaltes Büfett und Tango", staunte die Presse. Frauenzeitschriften gaben Anleitung, wie ein thé tango stilvoll zu gestalten sei. Man "tangote" auf Dampfern, am Badestrand und beim Picknick. Über das Tanzen im Freien mokierten sich allerdings die Spezialisten, da unebener Grund beim "exakten Tanzvollzug" hinderlich sei. Derweil kam die Tango-Verwertung in Schwung. Zahlreiche Unternehmen entdeckten das Zauberwort: "Es fing an mit einem kleinen Kuchen, den ein Pariser Zuckerbäcker Tango taufte. Einem Stoffhändler war ein gelber Satin total verschossen und drohte liegenzubleiben; ein Angestellter taufte ihn Tango und siehe da, man riß sich um den Stoff. Dann kam die Tangobluse, der Tangohut, das Tangobriefpapier, Bleistift, Haarnadeln, Kragen, Korsette, Schuhe, Parfüme, Tangofedern, ein Necessaire Tango. Kein Laden ohne zwanzig verschiedene Tangopostkarten."

Natürlich schwenkte auch die Mode auf das Thema ein. Das typische Tango-Kleid wurde vom Knie abwärts immer dünner. Exzentrische Modelle zeigten dort nur mehr Fransen und erlaubten, der ungehinderten Bewegung der Beine wegen, Einblicke, die auf der Straße als skandalös empfunden wurden.

Frauenrechtlerinnen, Künstler und Kunstgewerbler hatten sich seit Beginn der 1890er Jahre mit einer weiblichen "Reformkleidung" beschäftigt. So wollten sie die Frauen von der bis viele Pfunde schweren Unterwäsche befreien, insbesondere vom Korsett, das die Luft abschnitt. Mochten die neuen Entwürfe noch so praktisch sein, sie wurden häufig als plump abgelehnt. Nachdem aber die Pariser Modeschöpfer, angeführt von Paul Poiret, korsettlose Silhouetten mit ihrem Raffinement versahen und selbst Tango-Kleider lancierten, konnten sich auch die Damen der Oberwelt für den einfachen Schnitt begeistern. Statt Korsett bot nun der Handel leichtere "Leib-Träger", laut Hersteller so "biegsam, wie es der Tanz erfordert". Die neuen, klaren Linien schufen einen modernen Typus. Auch die Herren vom Tanzclub waren Vorreiter modischer Finessen. Sie blendeten mit Monokel, amerikanischen Polsterschultern und matt glänzenden Pumps.

Der Tanz selbst wurde ebenfalls zum Geschäft. Tango-Koryphäen waren als Lehrer bald so gefragt, dass sie von der feinen Kundschaft bis zu zweihundert Mark Stundenhonorar verlangt haben sollen, weit mehr als ein guter Monatslohn. Allein die prägnantesten Figuren des Tango, darunter der "Corte" (bereits von den Step-Tänzen als "Break" bekannt) und die "Schere" (Kreuzlauf der Füße) erschienen kompliziert genug, um mäßig talentierte Schüler längere Zeit bei der Stange zu halten. Nebenbei wurden, um das Geschäft weiter zu beleben, Tango-Ableger lanciert, die es in dessen Schlepptau jeweils jedoch nur zu kurzlebiger Publizität brachten. Solche künstlichen Kreationen, die Phantasienamen wie TaoTao, Furlana, Rouli Rouli oder Chichipanga trugen, blieben zumeist reine Bühnentänze. Einzig die brasilianische Maxixe setzte sich zeitweise als Turniertanz durch. Sie alle zu erlernen, war für Normaltänzer viel zu mühevoll, zumal man oft schon mit dem Tango überfordert war. "Der größte Teil der Tangofreunde", urteilte Koebner, "ist rein theoretischer Natur."

Schwofende Avantgarde

Mit seiner neuartigen Rhythmik, seiner Sentimentalität und erotischen Dramaturgie riss der Tango die Bürger aus ihrem Phlegma. Das war aber noch nicht alles. "Jeder Tango muß verschieden getanzt werden", erklärte der Experte. Es genüge also nicht mehr, "die Technik der einzelnen Schritte zu kennen." Stattdessen komme es auf die Phantasie und das musikalische Empfinden der Tänzer an. Denn, so die Erkenntnis, "der Tango gewährt eine ungehinderte Aeußerung des Körpers, während die alten Tänze Turnübungen waren". Wenn, so wäre anzumerken, man ihn nicht gerade Sport und Etikette unterworfen hätte.

Tango war etwas grundsätzlich anderes. Und dieses Andere bestand darin, dass er gerade keine bis ins Letzte fixierte Choreografie hatte, sondern eine offene Struktur. Diese Offenheit, die er mit anderen modernen Tänzen gemein hatte, lag nicht zuletzt in seiner Entstehung begründet. Er war eben nicht erdacht, sondern hatte sich wie von selbst auf der Tanzfläche entwickelt, da, wo niemand den Taktstock schlug. "Wie die Völker tanzen, das bringen ihnen keine Schulen bei. Sie lernen es selber. Tänze kommen wie die neuen Zeiten von ganz allein", bemerkte dazu eine berühmte Bühnentänzerin. Und wie dies aussehen konnte, das beschrieb ein über den Tango empörter Berliner Saalbesitzer folgendermaßen: "Das Anwachsen dieser Unsitte (ist) auf die ‚Musik für alle‘ – die Leierkästen – zurückzuführen. Die Jugend eignet sich nach dem Takte dieser Musik auf Rollschuhen die Gymnastik dieser Tänze an", behauptete der Mann. Man hat den bevölkerten Kreuzberger Hinterhof geradezu vor Augen.

Ein weiterer Grund für die Besonderheit der neuen Tänze waren ihre multiethnischen Wurzeln – im Falle des Tango die von Einwanderern unterschiedlichster Herkunft besiedelten Schmelztiegel rund um den Rio de la Plata. Der Tango kam als transkultureller Tanz über den Atlantik, ein Mischling aus europäischen, amerikanischen und afrikanischen Anteilen. Gerade auch daher rührte seine besondere, offene Struktur, die der Individualität freien Raum ließ und jede feste Ordnung auf der Tanzfläche unmöglich machte – und das war der eigentliche Skandal. Dass der Tango auf Individualität und Innovation angelegt war, darin glich er nicht nur dem modernen Bühnentanz, der sich als "Ausdruckstanz" gerade ebenfalls herausbildete. Es waren auch Merkmale, die sich damals in der modernen Kunst wie auch im modernen Design Bahn brachen. Beim freien Tango, könnte man zugespitzt sagen, gehörte jeder zur Avantgarde.

"Die Mörder tanzen Tango"

Aufgrund seiner Geschlechtssymbolik hatte der Tango trotzdem einen lasziven Ruf. Dem Irrtum, diese Darstellung mit dem Dargestellten zu verwechseln, saß insbesondere die Polizei auf. In München gab man 1914 die Parole aus: "Die Polizeidirektion wird auch heuer gegen anstößige Tänze entschieden vorgehen, mögen sie eine Bezeichnung führen, wie sie wollen. Auch der sogenannte Tango wird im allgemeinen zu diesen Tanzarten gehören." Die Praxis beschränkte sich allerdings meist auf die Beschlagnahme gemäßigt-erotischer Tango-Postkarten. Zwar hatte Kaiser Wilhelm II. höchstpersönlich seinen Offizieren untersagt, den Tango in Uniform zu tanzen. Aber angesichts des Kultes, der gerade von Mitgliedern der Aristokratie und des Besitzbürgertums um diesen Tanz getrieben wurde, schienen polizeiliche Maßnahmen wenig Erfolg versprechend. So wunderte sich auch niemand, dass am selben Tag, an dem die Münchner Polizei ihr energisches Vorgehen ankündigte, im Hotel "Bayerischer Hof" ungestört ein Ball im Zeichen des Tango stattfinden konnte. "Der Tango", das war offensichtlich, hatte "sich vom lästigen Ausländer unter Polizeiaufsicht zum staatlich-privilegierten Schützling der guten Gesellschaft gewandelt".

Im Februar des Jahres 1913 meldete die Wiener Presse eine Bluttat: Ein Ehemann, Prokurist und Sohn aus angesehener Familie, hatte seine Frau aus Eifersucht erschossen. Was der Sache die Würze gab: Die beiden, bekannte Figuren der Wiener Salons, waren als Tänzerpaar auf Elitebällen beklatscht worden. Der Täter wurde aufgrund eines Gutachtens, das ihm vorübergehende Verwirrung bescheinigte, bald auf freien Fuß gesetzt und konnte bereits in der nächsten Saison wieder als Tango-Held glänzen. "Das Leben starb. Die Mörder tanzen Tango", bemerkte der Wiener Publizist Karl Kraus in einer Satire zu diesem skandalösen Fall.

Der Tanz ging tatsächlich weiter. Die feine Gesellschaft, mithin "Die oberen Zehntausend", tanzten getreu nach dem Titellied dieser Berliner Revue so lange, bis 1914 bei Kriegsbeginn ein allgemeines Tanzverbot dem Treiben offiziell ein Ende setzte und das große Töten begann: "Wir tanzen auf einem Pulverfaß/und grad das, grade das, grade das macht Spaß!/Man tanzt – und wenn schon die Lunte brennt –/man tanzt – man tanzt – bis zum letzten Moment!"

Fussnoten

Fußnoten

  1. Franz Wolfgang Koebner, Tanz-Brevier, Berlin 1913, S. 31.

  2. Koebner, Chefredakteur der Zeitschrift "Elegante Welt", war keineswegs Tanzjournalist. In den 1920er Jahren gründete er "Das Magazin", eine der führenden Zeitschriften für das kulturinteressierte Bürgertum.

  3. Vgl. Rainer E. Lotz, German Ragtime & Prehistory of Jazz, Chigwell 1985. In dieser kommentierten Diskografie im Kaiserreich erschienener Tonträger wird auf 371 Seiten die enorme Vielfalt der Musikimporte deutlich.

  4. Vgl. Astrid Eichstedt/Bernd Polster, Wie die Wilden. Tänze auf der Höhe ihrer Zeit, Berlin 1985.

  5. Zurückgegriffen wird hierbei insbesondere auf die in der Deutschen Tanzbibliothek in Leipzig gesammelten zeitgenössischen Quellen.

  6. Vgl. Der Kongress der Tanzmeister, in: Cabaret Tanz Revue, 3 (1913).

  7. Der Polizeipräsident gegen die Schiebetänze, in: Cabaret Tanz Revue, 3 (1913).

  8. Es wird weiter gewackelt, in: Cabaret Tanz Revue, 3 (1913).

  9. Ola Alsen, Tanzlust, in: Die Woche, 5 (1913) 41.

  10. Tango-Meinungen, in: Cabaret Tanz Revue, 3 (1913).

  11. Vgl. Der Tango in der Akademie, in: Cabaret Tanz Revue, 3 (1913).

  12. R.L. Leonard, Der verlästerte Tango, in: Elegante Welt, 2 (1913) 45.

  13. Ebd.

  14. Anzeigen in: Cabaret Tanz Revue, 3 (1913).

  15. Vgl. Nur nicht drängeln! Schieber, in: A. Eichstedt/B. Polster (Anm. 4).

  16. Tango, in: Berliner Morgenpost vom 13.10.1913.

  17. Isadora Duncan, Mein Leben – Meine Zeit, Wien 1981.

  18. Tango, in: Cabaret Tanz Revue, 3 (1913).

  19. Tango-Sitten, in: Berliner Illustrierte Zeitung vom 4.1.1913.

  20. F.W. Koebner (Anm. 1), S. 76.

  21. Anzeige in: Cabaret Tanz Revue, 3 (1913).

  22. Franz Wolfgang Koebner, Der Tango und Herr v. Jagow, in: Elegante Welt, 2 (1913) 27.

  23. F.W. Koebner (Anm. 1), S. 40.

  24. Ebd., S. 40.

  25. Ebd., S. 48.

  26. Madame Saharet, Die neuen Tänze, in: Cabaret Tanz Revue, 3 (1913).

  27. Zit. nach: Cabaret Tanz Revue (Anm. 8).

  28. Polizeibericht, Stadtarchiv München, Chronik: Januar 1914.

  29. Elegante Welt, 2 (1913) 48.

  30. In: Die Fackel, 15 (1913) 386, S. 24.

  31. "Die oberen Zehntausend – Amerikanische Tanzoperette", Metropoltheater Berlin 1909.

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Geb. 1952; freier Journalist und Autor; Endenicher Straße 300, 53121 Bonn. E-Mail Link: mail@berndpolster.de