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Kohäsion? Integration? Inklusion? Formen und Sphären gesellschaftlicher (Ein-)Bindung | Gesellschaftliche Zusammenhänge | bpb.de

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Kohäsion? Integration? Inklusion? Formen und Sphären gesellschaftlicher (Ein-)Bindung

Kurt Möller

/ 16 Minuten zu lesen

Die Frage danach, "was die Welt im Innersten zusammenhält", ist nicht erst seit Goethes Faust eine der komplexesten Fragen der Menschheit. Nicht viel bescheidener nimmt sich demgegenüber das Erkenntnisinteresse daran aus, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt zustande kommt. Unter Überschriften wie "Was hält die Gesellschaft zusammen?" wird diesem Interesse auch in Bezug auf die gegenwärtige Gesellschaft Deutschlands in den vergangenen Jahrzehnten vermehrt nachgegangen.

Die Initiatoren dieser Debatte gehen davon aus, dass der "Zusammenhalt" bedroht erscheint und in dieser Gefährdung sozialer Ordnung eine fundamentale gesellschaftliche Problematik liegt. Auch sei unter den Vorzeichen zunehmender Individualisierung eine gewisse Kohäsion der gesellschaftlichen Akteure unumgänglich, ja notwendig. Angenommen wird, dass ohne Referenz auf etwas wie auch immer geartetes Gemeinsames kommunikative Anschlüsse und Bindungen sowohl der Individuen untereinander als auch unter gesellschaftlichen Kollektiven und Institutionen sowie Regionen erheblich erschwert, wenn nicht tendenziell verunmöglicht würden. Entsprechend ist die Rede von gesellschaftlichen Diagnosen wie "Desintegration", "Regulations- und Kohäsionskrisen", "Entsicherung" und "Richtungslosigkeit" gesellschaftlicher Entwicklungen.

Kohäsion könnte danach als eine Qualität von Gesellschaft verstanden werden, die auf zwei Ebenen zu sichern ist: Auf der Ebene der Spielräume der Individuen müsste der Zugang zu und die Beteiligung an relevanten gesellschaftlichen Einheiten und damit die Wahrung sozialer Chancen so geregelt werden, dass soziale Beziehungen und Bindungen entstehen, die Wahrnehmungen, Empfindungen, Orientierungen und Handlungen in einer Weise zu prägen vermögen, die soziale Ordnung entstehen lassen; dies zumindest soweit, dass Chaos, hier begriffen als Gegenteil von Ordnung, vermieden wird. So wäre etwa der Zugang zum und die Teilhabe am Arbeitsmarkt so zu regeln, dass die Zugangsvoraussetzungen den Subjekten berechenbar und erwerbbar, der Arbeitsmarkt selbst über Prinzipien wie Leistungsfähigkeit, Leistungsbereitschaft, Vergabe von Arbeitsplätzen nach Qualifikation grundlegend geordnet erschienen.

Auf der Ebene überindividueller Einheiten (wie Kollektive, gesellschaftliche Institutionen, Generationen, Sachzusammenhänge) wäre eine Balance herzustellen, welche die Passung der jeweiligen Einheiten zueinander organisiert und die Submergenz ("Untergehen") oder Emergenz ("Auftauchen") von Einheiten strukturierend verarbeitet. Wo etwa regional Wohlstandsentwicklungen und Arbeitslosenquoten etwa aufgrund des Verschwindens der DDR-Ökonomie so stark differieren, dass die grundgesetzlich verbriefte Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse bedroht ist oder gar nicht mehr hergestellt werden kann, entstehen Probleme gesellschaftlicher Kohäsion.

Diese beiden Aufgaben werden vielfach als Herausforderungen zur Herstellung von Sozialintegration (Einbeziehung von Individuen in gesellschaftliche Prozesse) und Systemintegration (Anschlussfähigkeit gesellschaftlicher Subsysteme untereinander) begriffen. Verwunderlich ist es deshalb nicht, wenn sich auf der Suche nach einer Lösung des in dieser Weise identifizierten Kohäsionsproblems eine weitere Frage in den Mittelpunkt drängt: (Wie) Kann Integration gelingen?

Die Frage setzt offensichtlich voraus, dass Integration etwas ist, was gelingen können sollte, was anzustreben ist, selbst wenn die Antwort auf sie negativ ausfallen sollte. Soweit Integration als ein positiv besetzter Begriff verstanden wird – was gesellschaftlich beispielsweise in sozialpolitischen und pädagogischen Vorstellungen weit verbreitet ist –, kann die Frage als in höchstem Maße legitim aufgefasst werden. Gleichwohl: In sozialwissenschaftlichen Kontexten wird sie jenseits der Verfolgung etablierter Integrationstheorien vermehrt problematisiert. Nicht nur, dass auf Probleme von "Über-Integration", etwa in national(istisch)e Bezüge, ethnische Gruppierungen, fundamental-religiöse Ideologien oder auch tradierte Männlichkeitsbilder verwiesen wird und Integration damit als unbedachte gesellschaftliche Zielformulierung diskreditiert erscheint; viel grundsätzlicher wird aus dem systemtheoretischen Blickwinkel soziologischer Analyse der Begriff der Integration selbst infrage gestellt. Ja, er wird geradezu demontiert und durch den Leitbegriff der Inklusion aus dem Zentrum der Erklärung von sozialer Anschlussfähigkeit verdrängt. Ist diese Revision notwendig oder wenigstens weiterführend?

Der Hinweis darauf, dass sich innerhalb der Diskussion über die Sicherung der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Handicap, in der Sonderpädagogik und in der "Behindertenhilfe" der Inklusionsbegriff längst durchgesetzt hat und selbst in einschlägigen politischen Programmen Verwendung findet, wirkt wenig überzeugend, weil hier ein Inklusionsbegriff zur Anwendung kommt, der viel oberflächlicher benutzt wird, als die Systemtheorie ihn begreift. Zumeist wird in solchen Kontexten argumentiert, dass Integration (hier von "Behinderten") eine Art Assimilationsprozess meine, innerhalb dessen, die Sphäre, in die hinein die Individuen mit Handicap integriert werden, unverändert bleibe, während seitens der zu Integrierenden Anpassungsleistungen zu erbringen seien, die aber letztlich nicht zu Gleichberechtigung, sondern nur zu einer Randexistenz innerhalb der Integrationssphäre führe.

Inklusion bedeute demgegenüber ein neues Paradigma. Ziel ist es, dass alle Mitglieder der im Inklusionsprozess zu schaffenden sozialen Einheit sich mit wechselseitiger Anerkennung von Gleichwertigkeit trotz eventuell wahrgenommener Unterschiedlichkeiten begegnen. Inklusion ist also hier (wie auch in vergleichbaren Diskussionssträngen etwa zur Inklusion von Menschen mit "Migrationshintergrund") stark normativ besetzt. Und: Er tritt schlicht an die Stelle des Integrationsbegriffs.

Im systemtheoretischen Denken sind die Dinge etwas anders gelagert: Der Integrationsbegriff bleibt – wenn auch in seinem Bedeutungsumfang gleichsam "abgewertet" – erhalten und wird jeden normativen Gehalts entkleidet. Integration meint hier "nichts anderes als die Reduktion der Freiheitsgrade von Teilsystemen", etwa von Teilsystemen wie der Wirtschaft, dem Bildungssystem oder der Politik, und "ist, so verstanden, kein wertgeladener Begriff und ist auch nicht ‚besser‘ als Desintegration". Integration wird damit auf einen Aspekt dessen eingeengt, was als Systemintegration begreifbar ist und die Autonomie der Teilsysteme einschränkt. Eine derartige Einschränkung kann dann notwendig sein, wenn eine zu starke Kooperation der Teilsysteme vorliegt – etwa von Religion und Rechtssystem in theokratischen Staaten oder auch in modernisierten Gesellschaften von traditionalistischem Familienleben und Betreuungs- oder Beschulungssystem im Sinne einer unzureichenden Flexibilität des letzteren gegenüber neuen Konstellationen privater Lebensformen und veränderter Arbeitsmarktbeteiligung.

Systemintegration kann aber auch durch einen Konflikt zustande kommen, der die Ressourcen der Teilsysteme so stark in Anspruch nimmt, dass ihre Flexibilität im Zusammenspiel mit dem, was ihnen als ihre Umwelt entgegentritt, absorbiert wird. Man denke etwa in Deutschland an den Dauerkonflikt zwischen Atomindustrie und Umweltbewegung, der eine Politik des gezielten Förderns erneuerbarer Energien lange behindert hat. Daher schlussfolgert Niklas Luhmann: "Das Problem des Konflikts ist die zu starke Integration der Teilsysteme" in den Streit, sodass es zur Aufgabe der Gesellschaft werden kann, "für hinreichende Desintegration zu sorgen". Insofern "ist Gegnerschaft also ein Integrationsfaktor ersten Ranges". Aus dieser Perspektive müsste – so könnte man meinen – die integrationsbezogene Frage nach den Bedingungen gesellschaftlicher Kohäsion geradezu umgedreht werden: (Wie) Kann Desintegration gelingen?

Freilich ist aus systemtheoretischer Sicht auch diese Frage verkürzt, denn mit der Einführung des Begriffs der Inklusion wird der Fokus auf die Teilhabe an Kommunikation im Rahmen von ausdifferenzierten Funktionssystemen (wie etwa Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft) ausgerichtet. Dieser Fokus bezieht sich damit auch auf das Feld, das mit dem Terminus "Sozialintegration" belegt wird, nämlich – systemtheoretisch gesprochen – darauf, in welcher Form und bis zu welchem Grad Individuen in soziale Prozesse involviert sind und wie Teilsysteme und ihre Organisationen auf sie zugreifen. Dabei wird In- oder Exkludiertsein schlicht registriert und nicht normativ aufgeladen – etwa nach dem Motto: Inklusion ist gut, Exklusion schlecht. Moderne, funktional differenzierte Gesellschaften existieren nämlich nach dieser Vorstellung durch das kommunikativ organisierte "Pulsieren" von (Teil-)Systemen, die in wechselseitiger Adressierung von Kommunikation "mit jeder Themenwahl expandier(en) und retrahier(en)", mal "Sinngehalte" aufnehmen, mal fallenlassen, also mal Inklusion ermöglichen, mal Exklusion erzwingen.

Von einem "letzten, integrierten Einheitssinn", wie er etwa für das monarchistisch regierte Deutsche Reich mit seiner Zentrierung des Nationalbewusstseins auf "Kaiser, Gott und Vaterland" noch Geltung beanspruchte, ist für werteplurale Gesellschaften mit ihrer Heterogenität und Vielfalt an partikularen Normbezügen demnach nicht (mehr) auszugehen.

Teilhabeungleichheiten liegen demgemäß quasi "in der Natur der Sache" und gelten als zumindest temporär tolerabel, zumal Vollinklusion in der ausdifferenzierten Gesellschaft nicht mehr vorkommt, das heißt, dass jemand aus manchen Funktionssystemen exkludiert, in anderen aber inkludiert sein kann, und erst eine sehr hohe Exklusionskumulation zum Abdriften in die "schwarzen Löcher" sozialen Anschlussverlustes führen kann. In- und Exklusion ist damit ein gesellschaftlicher Strukturierungsmechanismus, der das normative Verständnis von Sozialintegration nicht voraussetzt. Heißt das, dass Kohäsion normativ entbunden denkbar ist?

Hier wird behauptet: Nein. Denn wenn Inklusion Individuen Teilhabe an Teilsystemen gewährt, diese Individuen darin bestimmte Leistungs- und Publikumsrollen übernehmen und als Personen damit für gesellschaftliche Prozesse relevant sind, dann gewinnen sie darin den Status von Entscheidern und Akteuren. Sie sind dann sozialisationstheoretisch gesprochen "produktiv realitätsverarbeitende Subjekte", die in aktiver Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen, die sie vorfinden, Produzentinnen und Produzenten ihrer eigenen Vergesellschaftung sind. Das heißt, sie haben nicht nur Rollen inne, sondern nehmen sich auch in einem bestimmten Kontext sozialer Ereignisse wahr: Sie erleben ihn als zu gestaltenden und sich als Gestaltende oder Bilanzierende ihrer Gestaltungsaktivitäten.

Man denke etwa an Politikerinnen und Politiker, die allesamt Parlamentsangehörige sind, aber darüber im Streit liegen, ob das "Betreuungsgeld" mehr oder weniger soziale Gerechtigkeit mit sich bringt. Da sie dies unter Umständen auf individuell sehr persönliche Weise über Fraktionszwänge hinweg tun können, stellt sich die Frage, wie sie das Erleben von gemeinsamer Zugehörigkeit zu der sozialen Einheit, die sie bilden, herstellen. Offenbar reproduzieren sie in diesem Beispiel diese Einheit so, dass sie sich wechselseitiger normativer Anschlussfähigkeit vergewissern, sich jedoch beispielweise nicht konsensuell auf eine eng gefasste kulturelle Norm – wie etwa "eine Mutter gehört zu ihren Kindern, zumindest wenn sie noch klein sind" – festlegen, sondern eine Identifikation mit einem höchst abstrakten normativen Prinzip – hier soziale Gerechtigkeit – vornehmen. Dies macht sie wechselseitig kommunikativ adressabel.

Die Deutungsoffenheit des Prinzips scheint nicht nur in diesem Fall eben dies gewährleisten zu können. "Allerwelts-Postulate" wie etwa "Freiheit", "Gleichheit", "Fairness" stiften offenbar die Möglichkeit, soziale Ordnung – mehr noch: die Institutionalisierung von basalen gegenseitigen Anerkennungsverhältnissen im Sinne kommunikativer Adressabilität – mittels symbolischer Integration zu (re-)produzieren; dies auch gerade dann, wenn die Elemente dieser Ordnung große Unterschiedlichkeit aufweisen oder sich wechselseitig als unterschiedlich wahrnehmen. Deutlich wird nun auch, dass Inklusion in mehr oder minder wichtige Funktionszusammenhänge der Gesellschaft symbolisch verhindert werden kann: Wenn symbolische Blockaden errichtet werden, indem die Deutungsoffenheit von normativen Referenzpunkten eingeengt wird, wenn beispielsweise soziale Unterstützung nur für "Deutsche" postuliert, Gleichbehandlung nur für "Weiße" propagiert wird und Gleichberechtigung der Geschlechter nicht bedeutet, dass die höheren Chefetagen faktisch auch für Frauen geöffnet werden. Halten wir fest:

  1. Wollen wir gesellschaftliche Kohäsion verstehen (oder gar befördern), kommen wir weder ohne den Integrationsbegriff noch ohne normative Bezugspunkte aus.

  2. Das Zustandekommen von sozialen Interdependenzgeflechten zwischen einzelnen (Sub-)Systemen (und damit Kohäsionsfaktoren) ist letztlich nicht hinreichend ohne Bezug auf ein mit Bewusstsein ausgestattetes, bedürftiges und intentional agierendes Subjekt zu verstehen.

  3. Gesellschaftliche Integration verläuft in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften nicht primär über die Herstellung von Konsens hinsichtlich spezifischer kultureller Normen, sondern über den Modus symbolischer Integration und damit auch über Konflikte.

  4. Das Funktionieren symbolischer Integration ist auf die Deutungspluralität des jeweiligen Referenzsymbols angewiesen. Überpointiert: Die relative Bedeutungslosigkeit der konkreten Auslegungen des Referenzsymbols, vielleicht gar die "freundliche Unaufmerksamkeit" ihnen gegenüber, gewährleistet Integration.

  5. Integration ist nicht immer "etwas Gutes", Desintegration nicht immer "etwas Schlechtes" wie die zum Teil menschenfeindliche und diskriminierend wirkende Berufung auf die Integrationsfunktion von Nation, Ethnie, "Rasse" oder Klasse aufzeigt.

Doch mit diesen Feststellungen sind die Hauptprobleme des Integrationsbegriffs noch nicht im Griff. Denn es gilt, nicht nur zu fragen, ob man Integration Inklusion terminologisch vorzieht, ob man Integration in die beiden Dimensionen von System- und Sozialintegration zerlegen will, ob man Integration normativ oder wertneutral zu begreifen hat und ob man dem jeweiligen terminologisch so bezeichneten Sachverhalt objektive Bedingungen und/oder subjektive Erfahrungen zugrunde legt. An mindestens vier weiteren Punkten sind Klärungen erforderlich. Sie betreffen:

  • den

    Komplexitätsgrad

    des mit dem Begriff Bezeichneten: Ist immer eine Gesellschaft, eine kollektiv verfasste gesellschaftliche Einheit oder ein Individuum in seiner jeweiligen Ganzheit gemeint, wenn mit Bezug auf Kategorien oder Akteure wie diese von Integration die Rede ist? Oder ist Integration auch partiell für umgrenzte Teilbereiche vorstellbar?

  • den

    sozialen Gerinnungsgrad

    des mit ihm Bezeichneten: Wollen wir Integration als einen bestimmten Zustand definieren oder belegen wir mit dem Begriff einen Prozess? Ist also Integration ein Status, der irgendwann erreicht ist (oder auch nicht), oder beschreibt sie einen dynamischen Entwicklungsverlauf, der verschiedene Stadien und Phasen umfassen kann, die sich relativ zueinander verhalten?

  • den

    Bezugspunkt

    , der die Verwendung des Begriffs rechtfertigt: Gibt es eine absolute Bestimmung von dem, was Integration meint, oder wird Integration relational verstanden, kann sie also im konkreten Fall über den Vergleich mit den Zuständen oder Prozessen, die andere Personen oder soziale Einheiten betreffen, bestimmt werden?

  • die

    Bedeutungsspanne

    des Begriffs: Erfolgt Integration immer "in etwas hinein"? Besteht also die Einheit schon, in die integriert wird oder werden soll? Oder sind unterschiedliche Sicht-, Denk- und Handlungsweisen zu integrieren, sodass sie eine "neue" soziale Einheit stiften? Soll "Integration" vielleicht für beide Bewegungen stehen?

Aus Platzgründen können diese Fragen hier nur aufgeworfen, aber nicht diskutiert werden. Stattdessen wird näher auf die schon eingeführten und anknüpfungswürdigen Begriffe der System- und Sozialintegration eingegangen, um sie für eine weitere Ausdifferenzierung des Integrationsbegriffs zu nutzen (und dabei implizit auch manche der gestellten Fragen zu beantworten).

Systemintegration und Sozialintegration

In Anlehnung an die Überlegungen von Reimund Anhut und Wilhelm Heitmeyer wird vorgeschlagen, Systemintegration nicht nur als die funktionale Passung der jeweiligen Subsysteme (wie etwa aufeinander abgestimmte Bildungs- und Beschäftigtensysteme) zu begreifen, weil im Folgenden die Integration von Menschen und nicht die ganzer (Sub-)Systeme im Mittelpunkt steht. Systemintegration wird daher auf die Frage des Funktionierens sozialer (Sub-)Systeme für das Individuum ausgelegt. Diese individuell-funktionale Systemintegration fokussiert auf den Erfahrungszusammenhang von systemischer Integration in Makrostrukturen auf Seiten des Subjekts.

Sozialintegration lässt sich im Anschluss an Max Weber analytisch in die Dimensionen gesellschaftlicher und gemeinschaftlicher Sozialintegration unterteilen (vgl. Abbildung in der PDF-Version). Während erstere sich schwerpunktmäßig auf gesellschaftliche Mesobereiche bezieht (wie Parteien, Kirchen, Vereinigungen), spielt sich letztere eher in den "kleinen Lebenswelten" (Benita Luckmann) der Mikrosysteme (wie Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft) ab. Dass Integration in diesen Integrationssphären jeweils etwas anderes bedeutet, liegt auf der Hand. Um diese Differenzen systematischer herausarbeiten zu können, sollten wir uns fragen, welche Leistungserwartungen mit Integration gesellschaftlich wie individuell verbunden werden.

Offenbar geht es vordringlich um drei Dinge: Zugehörigkeit, Teilhabe und Anerkennung. Integriert – auch im Sinne von inkludiert – ist nur jemand, der/die der sozialen Einheit, um die es jeweils geht, objektiv und auch dem eigenen Empfinden nach zugehörig ist. Integrationserwartungen gehen aber über bloße Zugehörigkeit hinaus – von Seiten des Subjekts wie auch letztlich von Seiten der Gesellschaft: Teilhabe im Sinne einer Beteiligung an Ressourcen, Entscheidungen und Kollektivhandlungen wird eingefordert. Seitens des Individuums sind Zugehörigkeit und Teilhabe aber nur dann für das Entstehen und den Beibehalt von Integrationsgefühlen hinreichend, wenn von der sozialen Umwelt Anerkennung entgegengebracht wird.

Doch auch die Gesellschaft setzt zumindest soweit auf wechselseitige Anerkennung ihrer Mitglieder, wie die symbolische Integration – oder systemtheoretisch gesprochen: die kommunikative Adressabilität – der einzelnen Systemelemente gewährleistet sein muss, um Kohäsion zu sichern. So werden etwa die parlamentarische Demokratie und ihre Debattenkultur in Deutschland dadurch gesichert, dass auch solche Parteien Vertreterinnen und Vertreter in das Parlament entsenden können, die den Verfassungsschutzbehörden als extremistisch und mehr oder minder verfassungsfeindlich erscheinen. Zugehörigkeit, Teilhabe und Anerkennung erweisen sich damit als Integrationsqualitäten, die in allen Integrationssphären zu berücksichtigen sind. In ihren konkreten Ausprägungen sind sie dort jedoch jeweils höchst unterschiedlich.

Auf der Ebene der Zugehörigkeit wird individuell-funktionale Systemintegration durch positionale Zugehörigkeiten zu Strukturen von Teilsystemen sichergestellt; etwa durch die Einnahme von Positionen im Beschäftigten- oder Bildungssystem. Zugehörigkeiten und Zugänge im Bereich der gesellschaftlichen Sozialintegration hingegen zielen auf eine kommunikativ-interaktive Präsenz in intermediären Instanzen (wie Kirchen, Gewerkschaften, Sozialverbänden) beziehungsweise bei informell (selbst-)organisierten Akteurskollektiven (wie politische Initiativen und Bewegungen). Während diese beiden Zugehörigkeitsformen öffentlich zu erwerben sind, stellt sich gemeinschaftliche Sozialintegration über lebensweltlich gegebene habituelle und/oder affektuelle Zugehörigkeiten zu Primärgruppen (wie Familie, Verwandtschaft, unmittelbarer Bekanntschaftskreis und andere Face-to-face-Beziehungen) her.

Entsprechend differieren die Partizipationsweisen: Regelt positionale Zugehörigkeit zu Systemstrukturen die Teilhabe an den materiellen und kulturellen Gütern einer Gesellschaft (ich kann beispielsweise ins Kino gehen und Freunde anschließend ins Restaurant zum Essen einladen, weil ich durch einen sicheren Arbeitsplatz das Geld dafür verdiene), so stehen unter Gesichtspunkten kommunikativ-interaktiver Zugehörigkeiten zu intermediären Instanzen und (Selbst-)Organisationen die Teilhabemöglichkeiten an öffentlichen Diskurs-, Entscheidungs- und gegebenenfalls auch Handlungsprozessen (wie parteiinterne Diskussionen, bewegungsförmige Protestaktionen, Auseinandersetzungen im Kirchengemeinderat oder im Moscheeverein) im Mittelpunkt. Unter Aspekten lebensweltlicher Zugehörigkeiten wiederum ist dies die Partizipation an kulturell tradierten und emotionalen Beziehungen sowie sonstigen Milieuressourcen (wie Verwandtschaftsbesuche, Kegelclubfahrten, Nachbarschaftsfeste).

Die Medien, über welche die jeweilige Partizipationsweise gewährleistet werden soll, unterscheiden sich ebenfalls erheblich. Systemintegrative Partizipation erfolgt über Medien wie die Garantie von Rechtsgleichheit, aber auch Sprache, Macht, Besitz, Geld, Konsumfähigkeit und instrumentelle Leistung: Man verdient sein Geld, leistet sich eine schöne Wohnung, kauft sich ein Flachbild-TV und kann dabei auf Garantieleistungen pochen, wenn das Gerät nicht funktioniert. Gesellschaftliche Sozialintegration mit ihren jeweiligen Partizipationsweisen wird dagegen primär über abstrakt-funktionale kommunikative Leistungen (vor allem solche der Interessendurchsetzung und des Interessenausgleichs) aufgebaut, dazu gehören beispielsweise Bereitschaften und Fähigkeiten zu Diskussion, Argumentation, Kompromissfindung oder Konfliktregulation. In gemeinschaftlichen Primärgruppen wird demgegenüber Teilhabe über die Gemeinsamkeit lebensweltlicher Traditionen und Konventionen (wie etwa über die Teilnahme am jährlich wiederkehrenden dörflichen Schützenfest oder über die Einhaltung der Fastenregeln im Ramadan) und/oder über emotionale Zuwendungen (wie etwa die Liebe zwischen Lebens(abschnitts)partnern) erfahren.

Entsprechend weichen die Anerkennungsformen in den drei Bereichen voneinander ab und nehmen jeweils spezifische Gestalt an. Im Bereich der systemintegrativen Zugehörigkeit und Partizipation wird Respekt im Wesentlichen über den eingenommenen Status und die damit verbundene Rolle erworben. Insbesondere schlagen daneben und in Verbindung damit Image und Prestige zu Buche.

Die beiden Formen der Sozialintegration hingegen sind auf wechselseitige Wertschätzung hin angelegt. Auf der Ebene des Gesellschaftlichen steht das zumindest symbolisch-integrative Teilen vieldeutiger universalistischer Normen im Zentrum der Anerkennungsprozesse: Werte wie Gerechtigkeit, Fairness und Gleichberechtigung der Subjekte. Gemeinschaftlich organisierte Primärgruppen können in ihrer Normorientierung davon durchaus abweichen, indem sie partikularistische, nur für ihre eigenen Verkehrskreise geltende Normen ausprägen (wie Blutrache, spezifische Ehrenkodizes, Priorisierung von Familiensolidarität) und neben emotionalen Bezügen und der Anerkennung von Berechenbarkeit durch Verhaltenskonformität (etwa, dass man sich etwas zu Weihnachten schenkt oder zum Geburtstag gratuliert) über sie persönliche Wertschätzung vermitteln.

Das Tableau macht deutlich, dass die Akzeptanz von Individuen und Gruppen vielfältige Formen annehmen kann und auch anerkennungsbezogene Rückmeldungen nicht nur plural ausfallen, sondern sich je nach Integrationssphäre sogar gegensätzlich darstellen können.

Dabei ist davon auszugehen, dass Integrationserfahrungen in der einen Sphäre, die Möglichkeiten zur Erfahrung von Integration in der anderen Sphäre mitbestimmen. Wer beispielsweise im System Schule nicht oder nur schlecht integriert ist, hat auch schlechtere Voraussetzungen, sich Erfolg versprechend in die interaktiv-kommunikative Auseinandersetzung innerhalb intermediärer Instanzen einzuschalten. Wer so stark in beispielsweise religiös, ethnisch oder politisch konturierte Primärgruppenbezüge eingebunden ist, dass diese sich nach außen relativ stark abschotten und Tendenzen zu hermetischer Schließung aufweisen, wird in der Sphäre gesellschaftlicher Sozialintegration und womöglich auch in der Sphäre der Systemintegration (etwa auf dem Arbeits- und/oder dem Wohnungsmarkt) geringere Chancen auf Zugehörigkeit, Teilhabe und Anerkennung haben. Was ist mit diesen Ausdifferenzierungen gewonnen?

Schlussfolgerungen

Wenn festgestellt wurde, dass der (Des-)Integrationsbegriff weiterhin analytischen Gewinn verspricht, so ist zunächst zu konstatieren, dass er nicht weiter mit jener oberflächlichen Unbekümmertheit benutzt werden sollte, die seine Verwendung vielfach kennzeichnet. Es macht einen Unterschied, mit welchen der infrage kommenden Sinngehalten er gefüllt wird und ob er Systemintegration oder Varianten der Sozialintegration meint. Die Kriterien, an denen die Integrationsqualitäten von Zugehörigkeit, Teilhabe und Anerkennung bemessen werden, unterscheiden sich entsprechend.

Für politische, sozialarbeiterische, pädagogische und sonstige gesellschaftliche Integrationsinitiativen zieht dies die Konsequenz nach sich, Integrationsarbeit in ihrer jeweiligen Reichweite kritisch zu prüfen, Konzeptionen passgenau zu entwickeln und in ihrer konkreten Umsetzung entsprechend zu spezifizieren. Dies betrifft das gesamte Spektrum der zahlreichen Programme, Projekte und Maßnahmen, die sich etwa in den Kontexten von Kinder- und Jugendhilfe, Migrationspädagogik und -politik, "Behindertenhilfe", beruflicher Förderung oder zivilgesellschaftlichem Engagement der Vermittlung von Zugehörigkeit, Partizipation und Anerkennung verpflichtet fühlen.

Bevor über Inhalte und Methoden nachgedacht werden kann, sind jedoch auf der Ebene der Zielsetzungen einige Punkte zu klären. So gilt es, zu überlegen, ob Integration oder eine Kombination von Desintegration und (Re-)Integration – dies etwa bei der Bearbeitung von Fällen krimineller oder extremistischer Verstrickungen – anvisiert wird; wie weit (Des-)Integration betrieben werden soll: ob als Prozess oder als Zustand, als holistische oder auch partielle Angelegenheit, als neue Entitäten kreierende oder von vorhandenen Einheiten ausgehende Veränderung, als subjektive Erfahrung und/oder als objektiv messbares Faktum, als absolut gesetztes oder relationistisches Konstrukt; innerhalb welcher Sphäre(n) Aktivitäten angesiedelt werden sollen; welche der Integrationsqualitäten angestrebt werden und welche Interdependenzen zwischen den verschiedenen Sphären und zwischen den Qualitäten zu berücksichtigen sind.

Nicht zuletzt gilt es, den Stellenwert und die Funktion der Arbeit an Integration in einem weiteren Kontext zu reflektieren. Hier heißt die entscheidende Frage: Welche Erfahrungen der Kontrollierbarkeit des eigenen Lebens, welche positiv empfundenen sinnlichen Erlebnisse und welche Möglichkeiten zu Sinnstiftung und Sinnzuschreibung sind zu eröffnen, damit gesellschaftliche Kohäsion auf den Interaktionsbeziehungen selbst- und sozialkompetenter Persönlichkeiten mit handlungssicherer Identität und positivem, aber selbstkritischem Selbstwert beruhen kann?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Erwin Teufel (Hrsg.), Was hält die moderne Gesellschaft zusammen?, Frankfurt/M. 1996; Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Was hält die Gesellschaft zusammen?, Frankfurt/M. 1997.

  2. Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in einem entsicherten Jahrzehnt, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 10, Frankfurt/M. 2012, S. 15–41.

  3. Vgl. David Lockwood, Sozial- und Systemintegration, in: Wolfgang Zapf (Hrsg.), Theorien sozialen Wandels, Köln–Berlin 1970, S. 124–137; Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1981.

  4. Vgl. Wilhelm Heitmeyer/Peter Imbusch, Dynamiken gesellschaftlicher Integration und Desintegration, in: dies. (Hrsg.), Desintegrationsdynamiken, Wiesbaden 2012, S. 9–25.

  5. Vgl. Andreas Hinz, Segregation – Integration – Inklusion, in: GEW Berlin (Hrsg.), Von der Integration zur Inklusion, Berlin o.J., S. 6–19.

  6. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, S. 603f.

  7. Ebd., S. 604.

  8. Ders., Soziale Systeme, Frankfurt/M. 1987.

  9. Ebd., S. 200.

  10. Ders., Inklusion und Exklusion, in: ders., Soziologische Aufklärung 6, Opladen 1995, S. 238.

  11. Rudolf Stichweh, Inklusion/Exklusion, funktionale Differenzierung und die Theorie der Weltgesellschaft, in: Soziale Systeme, (1997) 3, S. 11.

  12. Vgl. Klaus Hurrelmann/Gudrun Quenzel, Lebensphase Jugend, 11. vollständig überarbeitete Auflage, Weinheim 2012.

  13. Vgl. Kurt Möller, Gestaltungsbilanzierungen – Integrations- und Desintegrationserfahrungen im biographischen Verlauf, in: W. Heitmeyer/P. Imbusch (Anm. 4), S. 187–208.

  14. Vgl. Peter Fuchs, Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie, in: Soziale Systeme, (1997) 3, S. 56–79.

  15. Vgl. Renate Möller/Uwe Sander, Stichwort: Integration, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, (2001) 2, S. 151–172.

  16. Vgl. Reimund Anhut/Wilhelm Heitmeyer, Desintegration, Anerkennungsbilanzen und die Rolle sozialer Vergleichsprozesse, in: W. Heitmeyer/P. Imbusch (Anm. 4), S. 75–100.

  17. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 19805.

  18. Ein vierter wichtiger Aspekt, Identifikation, wird hier aus Platzgründen nicht weiter berücksichtigt.

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Dr. phil., geb. 1954; Professor für Soziale Arbeit an der Hochschule Esslingen, Flandernstraße 101, 73732 Esslingen. E-Mail Link: kurt.moeller@hs-esslingen.de