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Richard Wagners Antisemitismus | Richard Wagner | bpb.de

Richard Wagner Editorial Lassen sich Werk und Künstler trennen? Wagners politisch-ästhetische Utopie und ihre Interpretation Richard Wagner als politisches und emotionales Problem Richard Wagners Antisemitismus Wagner und Verdi – Nationalkomponisten oder Europäer? Wagner-User: Aneignungen und Weiterführungen Zu den politischen Dimensionen von Musik

Richard Wagners Antisemitismus

Dieter Borchmeyer

/ 18 Minuten zu lesen

In einem Aufsatz über Hitler und Wagner hat der Historiker Saul Friedländer 2000 auf das merkwürdige Faktum aufmerksam gemacht, dass es keine einzige schriftliche oder verbürgte mündliche Mitteilung Hitlers gibt, in der er sich auf Wagners Antisemitismus beruft. Bekanntlich war Wagner Hitlers Lieblingskomponist und eine Kulturgröße ersten Ranges, ja eine ideologische Projektionsfigur. In diesem Prospekt spielt aber der Antisemitismus keine sichtbare Rolle. Hitler suchte Wagner offensichtlich als eine über alle politische Tendenz und allen Tageskampf erhabene reine Kulturerscheinung zu mythisieren. Für die Judenverfolgung brauchte er andere Gewährsleute, ja er konnte Wagner hier nicht brauchen, da es ihm nicht verborgen bleiben konnte, dass jener nicht nur über einen beträchtlichen jüdischen Freundes- und Anhängerkreis verfügte, sondern dass sein Antisemitismus ein anderer war als der nationalsozialistische, da er nicht auf die Ausmerzung der Juden, sondern, in welch verschwiemelter Form auch immer, auf ihre letztendliche Integration zielte.

Das ändert natürlich nichts an der Tatsache, dass sein Verhältnis zum Judentum zu den prekärsten Seiten seines Charakters gehört. In einem Brief an Franz Liszt vom 18. April 1851 hat er gestanden, sein "groll gegen diese Judenwirthschaft" sei seiner Natur "so nothwendig wie galle dem blute". Dieser Groll nimmt im Laufe der Jahre immer mehr Züge eines Verfolgungswahns an, der durch keinerlei Fakten gedeckt ist (seine Hauptwidersacher waren so gut wie niemals Juden, umgekehrt hat er aber von jüdischen Freunden, Mentoren und Anhängern immer wieder bedeutende Unterstützung erfahren), so dass man von einer regelrechten Obsession reden kann. Sie drückt sich nirgends deutlicher aus als in Wagners Brief an König Ludwig II. vom 22. November 1881, in dem er bekennt: "dass ich die jüdische Race für den geborenen Feind der reinen Menschheit und alles Edlen in ihr halte: dass namentlich wir Deutschen an ihnen zu Grunde gehen werden, ist gewiss, und vielleicht bin ich der letzte Deutsche, der sich gegen den bereits alles beherrschenden Judaismus als künstlerischer Mensch aufrecht zu erhalten wusste".

Die ablehnende Haltung Wagners gegenüber dem Judentum taucht in seinen schriftlichen Äußerungen erst um 1850 auf. Weder seine früheren Beziehungen zu jüdischen Bekannten wie dem Philologen Samuel Lehrs (dem Gefährten der Pariser Elendsjahre), dem Dirigenten Ferdinand Hiller oder dem Schriftsteller Berthold Auerbach scheint durch antijüdische Affekte getrübt gewesen zu sein, noch gehen vereinzelte antijüdische Affektäußerungen, wie sie sich auch bei jüdischen Autoren finden, über das Zeitübliche hinaus. Verächtliche Bemerkungen über Juden gehörten im 19. und frühen 20. Jahrhundert Jean-Paul Sartres "Réflexions sur la question juive" (1946) zufolge fast zum "Gesellschaftsspiel" unter Gebildeten. Von der Jahrhundertmitte an artikuliert sich Wagners antijüdische Haltung freilich umso drastischer, beginnend mit seinem pseudonym veröffentlichten Aufsatz "Das Judenthum in der Musik".

"Das Judenthum in der Musik"

Wagners Pamphlet schaltete sich 1850 in eine von seinem Freund Theodor Uhlig angefachte, insbesondere gegen den Komponisten Giacomo Meyerbeer (1791–1864) gerichtete Kampagne ein, wobei er Argumente versammelte, die quer durch das gesamte politische Spektrum der Zeit verbreitet waren und zumal im Umkreis der Revolution von 1848 Konjunktur hatten. Auch die sogenannten Jungdeutschen, die linkshegelianische und sozialistische Bewegung waren von antijüdischen Vorurteilen nicht frei. Den "eigentlichen Sündenfall" Wagners sieht der Kulturwissenschaftler Jens Malte Fischer erst in der von Verfolgungswahn und Verschwörungsphobie gekennzeichneten Zweitpublikation der Schrift 1869. Sie sei mutwillig in eine Situation relativ friedlicher Entwicklung in Deutschland hineingeplatzt und habe – im Gegensatz zu der fast wirkungslosen Erstpublikation – üble Folgen gehabt. Fischer rechnet sie der Phase eines "Frühantisemitismus" zu, der noch nicht von einer ausgeformten rassistischen Voraussetzung her argumentiert, aber bereits mit unveränderlichen Wesensbestimmungen "des Jüdischen" operiert.

Der Begriff des Antisemitismus, der seit den späten 1860er Jahren vereinzelt auftaucht, ist erst 1879 durch das Pamphlet "Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum" von Wilhelm Marr als Kampfbegriff zum Schlagwort geworden und hat sich dann rasch auch in anderen europäischen Sprachen verbreitet. Die Prägung dieses Begriffs markiert äußerlich den trotz vielfacher Überschneidungen deutlichen Unterschied zwischen der "traditionellen" Judenfeindschaft und ihrer modernen Metamorphose, welche erst aus der politischen, sozialen und ökonomischen Entwicklung der 1870er Jahre erklärbar ist. Erst jetzt verschmolzen Rassentheorien (wie diejenige des französischen Diplomaten und Schriftstellers Arthur de Gobineau, der zwar die Ungleichheit der "Rassen" zum Thema seines Hauptwerks machte, aber von Antisemitismus noch entfernt war) mit der bisher religiös oder soziokulturell motivierten Judenfeindschaft zum eigentlichen Rassenantisemitismus.

Der moderne Antisemitismus setzt historisch die grundsätzliche Lösung der "Judenfrage" durch die politische und soziale Gleichstellung der Juden voraus. Der Abschluss dieses Emanzipationsprozesses ist in Deutschland durch die Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 3. Juli 1869 markiert, die zwei Jahre später zum Reichsgesetz erklärt wird. Erst im Jahr der Reichsgründung werden die letzten Ghettos geschlossen. Die antisemitische Bewegung seit den 1870er Jahren, die im nun geeinten deutschen Reich Ausfluss des neuen nationalen Identitätsgefühls und der aus ihm resultierenden Abwehr von "Fremdgruppen" ist, sucht den historischen Prozess der jüdischen Assimilation rückgängig zu machen, strebt die Juden wieder in eben die Separation zurückzudrängen, welche gerade der Erklärungsgrund für die traditionelle Judenfeindschaft gewesen ist.

Wagners Aufsatz von 1850 steht auf der Grenze zwischen "traditionellem" Antijudaismus und modernem Antisemitismus. Unter dem vermeintlich aufklärerischen Vorwand, das Abstoßende der "jüdischen Erscheinung" aufdecken zu müssen, um zu einer Befreiung von "Selbsttäuschung" gelangen zu können, beschreibt Wagner nun die Merkmale dieser Erscheinung, welche im Nichtjuden die "instinktmäßige Abneigung" auslösen. Verräterischer Weise gibt Wagner in ein und demselben Satz zunächst vor, die Antipathie gegen Juden "erklären" zu wollen, um dann zuzugestehen, die Erklärung diene dazu, "diese instinktmäßige Abneigung zu rechtfertigen, von welcher wir doch deutlich erkennen, daß sie stärker und überwiegender ist, als unser bewußter Eifer, dieser Abneigung uns zu entledigen". Die vorgeblich aufklärerische Methode dient also einem durch und durch antiaufklärerischen Ziel: der Rechtfertigung, nicht der Überwindung der ins Bewusstsein gehobenen Aversion gegen alles (vermeintlich) Jüdische. Letztere erhält von Wagner gewissermaßen eine moralische Unbedenklichkeitsbescheinigung.

Der Schriftsteller Berthold Auerbach hat in einer Aufzeichnung vom 2. Mai 1881 Wagner als den ersten bezeichnet, der "die Stirn hatte, in den Sphären der Bildungswelt offen und geradezu auszusprechen, er empfinde eine Idiosynkrasie (Abscheu, d. Red.) gegen die Juden", und ihnen "das Recht und die Fähigkeit absprach", sich in der Kunst "schaffend zu erweisen". Wagner "begann den kühnen Frevel an der Bildung und Humanität. Nach seinem Vorgange legten andere die sittliche Scham ab, sich offen zu Vorurteil, zu Haß und Verfolgung zu bekennen". Nie zuvor habe "ein Künstler seinen Namen mit absolutem Judenhaß befleckt, und so gewiß Richard Wagner in der Geschichte der Kunst stehen wird (…), so gewiß wird sich mit seinem Namen die traurige Kunst verbinden, die dazu gehört, der Vernunft und der Humanität ins Gesicht zu schlagen".

Wagner entwickelt in seinem Pamphlet ein durch und durch negatives Klischeebild: von der angeblich abstoßenden äußeren Erscheinung "des Juden", über seine in Artikulation und Syntax vermeintlich hässliche Sprache, seine vorgeblich leidenschaftslose Rationalität, bis zum unterstellten Mangel an genialer künstlerischer Produktivität und der "Fratze" des jüdischen Gottesdienstes, insbesondere des Synagogengesanges. Sein Argumentationsziel ist es, das Scheitern, ja die Unmöglichkeit der echten Assimilation der Juden herauszustellen. Damit weist er unwiderleglich über die Grenzen des "traditionellen" Antijudaismus auf den modernen Antisemitismus voraus – von dem ihn andererseits das Fehlen einer ausgeprägt rassenideologischen Perspektive, die ausdrückliche Beschränkung auf die Betrachtung der Rolle des Judentums im modernen Kunstbetrieb und der Verzicht auf politisch-rechtliche Forderungen, welche der Emanzipation der Juden entgegenwirken würden, noch trennen.

Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass die Kardinalthese des modernen Antisemitismus in Wagners Judentum-Aufsatz im Kern bereits enthalten ist: Die Emanzipation habe nicht zur Aufgabe der Sonderstellung der Juden geführt, so die Argumentation des politischen Antisemitismus, sondern die Unterdrückung sei in Herrschaft umgeschlagen. Die Juden hätten sich (aufgrund ihrer rassischen Fremdheit) nicht wirklich assimiliert, sondern suchten als gleichbleibend geschlossene Gruppe Kultur, Wirtschaft und Politik zu monopolisieren. Diesem Prozess könne nach der Überzeugung des politischen Antisemitismus nur durch Aufhebung der Gleichberechtigung der Juden entgegengewirkt werden.

Erlösungsfantasien

Wagners Angriff gilt vornehmlich der Rolle der Juden in der Musik, deren Einfluss an dem verächtlich abgefertigten und nicht einmal mit Namen genannten Meyerbeer (seinem großmütigen Mentor, den er mit Undankbarkeit straft) und an der weit differenzierter gewürdigten "tragischen" Gestalt Felix Mendelssohn Bartholdys demonstriert wird. Bei aller musikalischen Begabung sei Letzterer etwa nie über einen epigonalen Formalismus hinausgekommen, da ihm die volkstümliche Basis gefehlt habe, aus dem allein das schöpferische, "Herz und Seele ergreifende" Kunstwerk hervorgehe.

Dass erst nach dem Tod Ludwig van Beethovens (1827) jüdische Komponisten so starken Einfluss auf das musikalische Leben ausüben konnten, erklärt Wagner – der nicht wahrhaben will, dass das mit der rasch fortschreitenden Emanzipation der Juden zusammenhängt – durch die "innere Lebensunfähigkeit" der zeitgenössischen Musik im Allgemeinen, in der sich nun fremde Elemente einnisten könnten wie – eine wiederholt für die Juden verwendete Metapher – Würmer in einer Leiche. Die zunehmende Bedeutung der Juden demonstriere die "Unfähigkeit unserer musikalischen Kunstepoche", ja den unkünstlerischen Charakter der modernen Zivilisation überhaupt, deren "übles Gewissen" das Judentum bilde. Das "Judenthum in der Musik" ist für Wagner also das Paradigma einer verdorbenen, kunstfernen, bloß noch von Marktgesetzen bestimmten Zivilisation.

Scheint Wagner bis zum vorletzten Absatz seines Pamphlets den Juden keine Chance zu lassen, in irgendein positives Verhältnis zur gegenwärtigen Menschheit treten zu können, so eröffnet er am Ende eine nur von der verborgenen Idee des "Kunstwerks der Zukunft" her erklärbare Perspektive. Aus ihr ergibt sich nun ein spürbarer Gegensatz zum Antisemitismus der nächsten Jahrzehnte – wenn auch gerade aus den letzten Sätzen des Aufsatzes in der Wagner-Literatur unzulässig eine Brücke zum Genozid-Antisemitismus geschlagen worden ist. Wagner erinnert an den Publizisten Ludwig Börne: "Aus seiner Sonderstellung als Jude trat er Erlösung suchend unter uns: er fand sie nicht und mußte sich bewußt werden, daß er sie nur mit auch unserer Erlösung zu wahrhaften Menschen finden können würde. Gemeinschaftlich mit uns Mensch werden, heißt für den Juden aber zu allernächst so viel als: aufhören, Jude zu sein."

Diese Formel vom "Aufhören, Jude zu sein" verbindet Wagner mit den Traktaten zur "Judenfrage" auch aus dem liberalen und sozialistischen Lager (etwa Karl Marx’ Schrift "Zur Judenfrage", 1843), die allesamt auf die These hinauslaufen, die vollständige Emanzipation der Juden sei erst möglich, wenn sie ihre Sonderexistenz als Juden aufgäben. Wolle der Antisemit, so Jean-Paul Sartre, den Juden "als Menschen vernichten, um nur den Juden, den Paria, den Unberührbaren bestehen zu lassen", so strebe der Liberale "ihn als Juden zu vernichten, um ihn als Menschen zu erhalten, als allgemeines abstraktes Subjekt der Menschen- und Bürgerrechte".

Diese menschen- und bürgerrechtliche Ansicht verwandelt Wagner in eine Erlösungsideologie. Aufhören, Jude zu sein, könne man nicht durch die bequeme äußerliche Assimilation an den Menschen der bestehenden Gesellschaft, sondern nur durch die Teilnahme der Juden am revolutionären Selbstvernichtungs- und Erlösungsprozess des gegenwärtigen, seiner wahrhaften Menschheit entfremdeten Menschen. Nun folgt in der ursprünglichen Fassung der Schrift der Appell an die Juden: "Nehmt rückhaltlos an diesem selbstvernichtenden blutigen Kampfe theil, so sind wir einig und untrennbar!" In der Neuauflage von 1869 – eben dem Jahr, in dem die bürgerliche Gleichstellung der Juden durch die Verfassung des Norddeutschen Bundes formell verankert wird – hat Wagner diesen Satz bezeichnend verändert: "Nehmt rückhaltlos an diesem, durch Selbstvernichtung wiedergebärenden Erlösungswerke theil, so sind wir einig und ununterschieden." Und er fährt fort: "Aber bedenkt, daß nur eines eure Erlösung von dem auf euch lastenden Fluch sein kann: die Erlösung Ahasver’s, – der Untergang!" Nicht nur von Selbstvernichtung (deren Freiwilligkeit bereits den Gedanken an eine physische Liquidation ausschließt) ist die Rede, sondern von Wiedergebärung, von Erlösung durch diese (Selbst-)Vernichtung – welche selbstverständlich nur ein symbolischer Akt ist, der eine mystische Umwandlung des ganzen menschlichen Wesens zur Folge haben soll. Durch sie werde der Jude erst zum wahrhaften Menschen – was der assimilierte Jude nicht sein könne, weil derjenige, an den er sich assimiliert, vom wahrhaften Menschen nicht weniger weit entfernt sei als er. Aus Wagners Sicht kann allein das ungenannte "Kunstwerk der Zukunft" diese Verwandlung bewirken: Allein dieses könne den Juden "erlösen", sofern er sich bedingungslos dem Selbstvernichtungsprozess unterwirft, der aus der depravierten Zivilisation zum utopischen Ideal jenes Kunstwerks hinführen soll.

Von daher erklärt sich auch Wagners sonderbare Attraktion von Juden in seinem weiteren und engeren Wirkungs- und Lebenskreis, das zwischen Demütigung und Heilsangebot fluktuierende Ritual seines Umgangs mit seinen jüdischen Freunden, zumal mit seinem Parsifal-Dirigenten Hermann Levi. Der Pianist Joseph Rubinstein zum Beispiel hat den Schluss von Wagners Aufsatz über das Judentum genau in dem hier erörterten Sinne verstanden, wenn er in einem Brief vom Februar 1872 den Zugang zu Wagner sucht und die Bereitschaft, sich vollständig dem Bayreuther Unternehmen zu widmen, damit begründet, "daß die Juden untergehen müssen". Der materialistische Philosoph und radikale Antisemit Eugen Dührung hat in seinem Buch "Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage" (1881) Wagners Erlösungsattitude gegenüber den Juden einer höhnischen Kritik unterzogen. Sie sei ein Zeichen dafür, "daß Herr Wagner sich selbst nicht hat von den Juden erlösen können"; gerade sie stünden "im Gefolge der Leier des Bayreuther Orpheus", da sein Aufsatz sie zu der Hoffnung berechtige, durch Anschluss an sein Werk "in eine höhere Geistessphäre erhoben" zu werden "und daß auf diese Weise der Gegensatz ausgeglichen würde. Die zur Bayreuther Orphik beisteuernden Leute vom Judenstamme werden also hiermit von ihren Judeneigenschaften losgesprochen. Das ist mehr als Ablaß." Doch "was nicht einmal Christus erreicht" habe, werde Wagner erst recht nicht gelingen: "die Juden von sich selbst zu erlösen".

In seinen "Aufklärungen über das Judenthum in der Musik" von 1869 hat sich Wagner, nicht ohne scheinheiligen Gestus, dagegen gewehrt, dass man ihm eine "für unsere aufgeklärten Zeiten so schmachvolle, mittelalterliche Judenhaß-Tendenz" unterstellt habe. Die "Schlußapostrophe des Aufsatzes" zeuge doch von einer für die Juden "hoffnungsreichen Annahme": "Wie nämlich von humanen Freunden der Kirche eine heilsame Reform derselben (…) als möglich gedacht worden ist, so faßte auch ich die großen Begabungen des Herzens wie des Geistes in das Auge, die aus dem Kreise der jüdischen Sozietät mir selbst zu wahrer Erquickung entgegengekommen sind."

Wagner beschließt seine "Aufklärungen" mit der Feststellung: Solle das Judentum "uns in der Weise assimilirt werden, daß es mit uns gemeinschaftlich der höheren Ausbildung unserer edleren menschlichen Anlagen zureife", so sei es freilich "ersichtlich, daß nicht die Verdeckung der Schwierigkeiten dieser Assimilation, sondern nur die offenste Aufdeckung derselben hierzu förderlich sein kann".

Wagners "Judenthum in der Musik" ist nach der Wiederveröffentlichung 1869 immer wieder vorgehalten worden, er greife mit dem Judentum seine eigenen intellektuellen und künstlerischen Grundlagen an. "Denn gestehen wir’s nur, mit dem Aufsatze Das Judenthum in der Musik hat der humoristische Mensch nur eine genaue Charakteristik seiner selbst gegeben", heißt es in einem Artikel des "Beobachters an der Spree" vom 24. Mai 1869, in Übereinstimmung mit zahllosen anderen Polemiken gegen Wagner. Die "Eigentümlichkeiten und Schwächen" seines eigenen Künstlercharakters entsprächen genau dem, so Gustav Freytag in seinem Aufsatz "Der Streit über das Judenthum in der Musik" (1869), was er am jüdischen Künstlertum tadle. "Im Sinne seiner Broschüre erscheint er selbst als der größte Jude."

Wagner und die antisemitische Bewegung

Wagners Judenfeindschaft ist offenbar die Nachwirkung seiner Pariser Notjahre 1839 bis 1841. Der stark von Juden geprägte Pariser Kunstbetrieb, in dem er nicht reüssierte, die Demütigung durch ständige Misserfolge, die Konkurrenz zu Meyerbeer, die Verquickung eines tiefsitzenden Neidkomplexes mit frisch angelesener Ideologie, zumal dem von antijüdischen Akzenten nicht freien Gedankengut des französischen Frühsozialismus – all dies erklärt zu einem guten Teil die aufkeimende Abneigung Wagners gegen alles Jüdische.

In Wagners Schriften nach 1850 spielt die "Judenfrage" (abgesehen von der Neuauflage des Judentum-Aufsatzes) nur noch eine Nebenrolle – ganz zu schweigen von seinem musikdramatischen Werk, in dem trotz gegenteiliger Spekulationen keine philologisch dingfest zu machenden jüdischen Figuren oder antisemitischen Anspielungen auftauchen, weder in seinen romantischen Opern vor seiner antijüdischen "Wende" um 1850 noch in Ring, Tristan, Meistersingern und Parsifal.

Erst in seinen letzten Lebensjahren gewinnt die "Judenfrage" wieder an Bedeutung in Wagners Schriften, und das hängt zweifellos mit der seit Wilhelm Marrs Pamphlet "Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum" (1879) heftig um sich greifenden antisemitischen Agitation zusammen. Obwohl Wagner den Begriff des Antisemitismus nur in Anführungszeichen gebraucht und in einem Brief vom 23. Februar 1881 an den Berliner Theaterdirektor Angelo Neumann, einen seiner zahlreichen jüdischen Freunde, bekundet, der "gegenwärtigen ‚antisemitischen‘ Bewegung" stehe er "vollständig fern", zeigen die Tagebücher seiner Frau Cosima doch, dass er die Anfänge der antisemitischen Agitation um 1880 nicht nur mit Aufmerksamkeit verfolgt, sondern sich immer wieder, wenn auch nicht immer mit ihren Zielen, so doch mit ihren ideologischen Prämissen identifiziert hat. Die genannte Schrift von Wilhelm Marr hat er sofort nach ihrem Erscheinen gelesen. Cosima vermerkt im Februar 1879 über diese Broschüre, sie enthalte "Ansichten (…), die, ach! Richards Meinung sehr nahe stehen".

Wagner hat nahezu alle entscheidenden antisemitischen Publikationen gelesen, die um 1880 erschienen sind, ob es sich um die einschlägigen Schriften von Constantin Frantz, Paul de Lagarde, Wilhelm Marr oder Eugen Dühring handelt. Trotz mancher Skepsis hat er dem antisemitischen Schrifttum im Prinzip, seinen privaten Äußerungen zufolge, seine Zustimmung nicht versagt. Auch mit dem einflussreichsten politischen Repräsentanten der Bewegung, dem preußischen Hofprediger Adolf Stöcker, hat er unverhohlen sympathisiert. Stöcker gründete 1878 die "Christliche-soziale Bewegung", aus der 1880 die "Berliner Bewegung" hervorging, die Keimzelle der in den nächsten Jahrzehnten aus dem Boden schießenden antisemitischen Parteien bis hin zur "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (seit 1919). Stöcker entfachte eine fanatische Agitation gegen die "jüdische Vorherrschaft" in Wirtschaft, Politik und Presse mit dem Ziel der Aufhebung der politischen Rechte der Juden. In seinen Gesprächen mit Cosima nimmt Wagner wiederholt positiv Stellung zu Stöckers Programm. "Ich lese eine sehr gute Rede des Pfarrers Stöcker über das Judenthum", schreibt Cosima am 11. Oktober 1879 in ihr Tagebuch. "R(ichard) ist für völlige Ausweisung. Wir lachen darüber, daß wirklich, wie es scheint, sein Aufsatz über die Juden den Anfang dieses Kampfes gemacht hat." Hier wird also von Wagner selbst sein Aufsatz über das musikalische Judentum als Initialzündung der antisemitischen Agitation ausgegeben.

In den Tagebüchern Cosimas finden sich freilich auch viele positive Worte Wagners über die Juden, wobei die Skala der Affirmation von ironischer Anerkennung bis zu unverhohlener Bewunderung reicht. Das betrifft zumal das antike Judentum, mit dem er durch August Friedrich Gfrörers mehrbändige "Geschichte des Urchristenthums" (1838) bekannt wurde, die er in der Parsifal-Zeit eingehend studierte. Die Juden allein hätten "den Sinn für das Ächte sich bewahrt (…) den die Deutschen so ganz verloren hätten", bemerkt er einmal, weshalb "manche sich an ihn klammerten". Als die Repräsentanten der ältesten Religion seien sie "doch die allervornehmsten" – ein Gedanke, der auch in einem Gespräch über Joseph Rubinstein anklingt: "So ein Jude benimmt sich doch ganz anders wie wir Deutschen, sie wissen, ihnen gehört die Welt, wir sind dés hérités!"

Eine Anschauung, die in den Gesprächen mit Cosima ständig wiederkehrt, ist die, "daß die Juden mindestens 50 Jahre zu früh uns amalgamiert worden sind": "Wir mußten erst etwas sein", das heißt, die Deutschen hätten erst selbst – nach so langer Abhängigkeit vom romanischen Vorbild – kulturell emanzipiert sein müssen. So aber hätten die Juden "zu früh in unsere Kulturzustände eingegriffen" und verhindert, "daß das allgemein Menschliche, welches aus dem deutschen Wesen sich hätte entwickeln sollen, (…) auch dem Jüdischen zugute" gekommen wäre. "Wenn ich noch einmal über die Juden schriebe, würde ich sagen, es sei nichts gegen sie einzuwenden, nur seien sie zu früh zu uns Deutschen getreten, wir seien nicht fest genug gewesen, um dieses Element in uns aufnehmen zu können." Wagner hat aus seiner theoretischen Judenfeindschaft im Übrigen kaum Konsequenzen für seinen persönlichen Umgang gezogen, wie sein jüdischer Freundeskreis zeigt (zu dem neben den genannten Joseph Rubinstein, Hermann Levi und Angelo Neumann der Pianist Karl Tausig, der Dirigent Heinrich Porges und weitere gehörten).

Trotz seiner vielfach privat geäußerten Sympathie mit der antisemitischen Bewegung hat Wagner eine offizielle Verteidigung ihrer Ziele konsequent vermieden, ja sich in dem erwähnten Brief an Angelo Neumann vom 23. Februar 1881 ausdrücklich von ihr distanziert. Als Bernhard Förster, einer der rüdesten Vertreter des politischen Antisemitismus zu dieser Zeit, 1880 eine Massenpetition gegen das vermeintliche Überhandnehmen des Judentums initiiert, lehnt Wagner eine Unterschrift seinerseits ab.

Neumann gegenüber nennt Wagner auch einen theoretischen Grund für seine Ablehnung der antisemitischen Bewegung: "Ein nächstens in den 'Bayreuther Blättern‘ erscheinender Aufsatz von mir wird dies in einer Weise bekunden, daß Geistvollen es sogar unmöglich werden dürfte, mich mit jener Bewegung in Beziehung zu bringen." Es handelt sich hier um den Aufsatz "Heldenthum und Christenthum" (1881), in dessen Mittelpunkt der Gedanke einer Überwindung der "Rassengegensätze" steht. Man könne sich nicht davor verschließen, "daß das menschliche Geschlecht aus unausgleichbar ungleichen Racen besteht", heißt es zunächst unter Berufung auf Gobineaus "Essai sur l’inégalité des races humaines" (1853–1855). Und doch sei "beim Überblick aller Racen die Einheit der menschlichen Gattung unmöglich zu verkennen"; in dem sie konstituierenden Moment sei "die Anlage zur höchsten moralischen Entwicklung" zu erfassen. Gegen die Ungleichheit der "Rassen" gibt es für Wagner ein "Antidot", dessen Genuss gerade den "niedrigsten Racen" – im Abendmahl als "dem einzigen ächten Sakramente der christlichen Religion" – zur Gleichheit mit den höheren verhilft: das "Blut Jesu". "Das Blut des Heilandes, von seinem Haupte, aus seinen Wunden am Kreuze fließend, – wer wollte frevelnd fragen, ob es der weißen, oder welcher Race sonst angehörte? Wenn wir es göttlich nennen, so dürfte seinem Quelle ahnungsvoll einzig in Dem, was wir als die Einheit der menschlichen Gattung ausmachend bezeichneten, zu nahen sein, nämlich in der Fähigkeit zu bewußtem Leiden."

Das ist indirekt gegen Arthur de Gobineau gerichtet. "Gedenkt man des Evangeliums", bemerkte Wagner bereits am 14. Februar 1881 – einen Tag, nachdem er mit Gobineaus Essay bekannt wurde –, wisse man, "daß es auf etwas andres ankommt als auf Racenstärke". Trotz aller persönlichen Sympathie und Bewunderung für Gobineau protestiert er in den Gesprächen mit Cosima immer wieder gegen dessen fatalistischen Rassengedanken. So merkwürdig es heute klingen mag: Wagner war zwar Antisemit, aber kein Rassist, Gobineau hingegen Rassist, aber kein Antisemit. "Bei Tisch explodiert er förmlich zu Gunsten des Christlichen gegenüber dem Racengedanken", schreibt Cosima am 2. Juni 1881. Seine eigene Musik, sein Tristan ist in seinen Augen "die Musik für die Aufhebung aller Schranken, also auch der Racen".

Das "Blut des Heilandes" könne als "göttliches Sublimat" der "ganzen leidenden menschlichen Gattung (…) nicht für das Interesse einer noch so bevorzugten Race fließen; vielmehr spendet es sich dem ganzen menschlichen Geschlechte", schreibt Wagner in "Heldenthum und Christenthum". Im Geiste Jesu solle sich die Verwandlung der Menschheit von einem "natürlichen", durch den Antagonismus der "Rassen" bestimmten Zustand zu einem "moralischen" vollziehen, der die allgemeine Übereinstimmung der menschlichen Gattung verwirkliche.

Vor diesem Hintergrund ist die widersprüchliche Haltung zum Judentum beim späten Wagner zu sehen. Einerseits kann er sich nicht von seiner grundlosen neurotischen Zwangsvorstellung einer Verfolgung seiner Person und seines Werks von jüdischer Seite befreien, sieht sich vielmehr in ihr durch die neue antisemitische Bewegung bestätigt, anderseits widerspricht diese Bewegung seiner Überzeugung von der Einheit des Menschengeschlechts und der bloßen "Vorläufigkeit" des "Rassengegensatzes". In dieser Überzeugung aber sieht Richard Wagner die Grundlage seines eigenen musikdramatischen Werks, das sich dergestalt über die antisemitische Obsession seines Autors erhebt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Saul Friedländer, Hitler und Wagner, in: ders./Jörn Rüsen (Hrsg.), Richard Wagner im Dritten Reich, München 2000, S. 165–179.

  2. Richard Wagner, Sämtliche Briefe, hrsg. v. Gertrud Strobel/Werner Wolf, Leipzig 1967ff., Bd. III, S. 544.

  3. König Ludwig II. und Richard Wagner, Briefwechsel, bearb. v. Otto Strobel, Karlsruhe 1936, Bd. III, S. 230.

  4. Der Aufsatz erschien 1850 in der Leipziger "Neuen Zeitschrift für Musik". Als selbstständige Publikation wurde er – nun nicht mehr pseudonym – 1869 neu aufgelegt, partiell revidiert und mit einleitenden "Aufklärungen" versehen.

  5. Jens Malte Fischer, Richard Wagners "Das Judentum in der Musik". Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt/M.–Leipzig 2000, S. 89, S. 36.

  6. Unter dem Schlagwort "Judenfrage" wurde im 19. Jahrhundert in Europa über die rechtliche und gesellschaftliche (Gleich-)Stellung bzw. Emanzipation der Juden diskutiert, die von den Mehrheitsgesellschaften vielfach als Problem wahrgenommen wurde (vgl. Karl Marx’ "Zur Judenfrage", 1843). Mit dem Begriff "Endlösung der Judenfrage" tarnten die Nationalsozialisten schließlich ihre Absicht zur Vernichtung des Judentums.

  7. Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, Leipzig 1911, Bd. V, S. 69.

  8. Ebd., Bd. V, S. 67.

  9. Berthold Auerbach zit. nach: J.M. Fischer (Anm. 5), S. 353f.

  10. R. Wagner (Anm. 7), Bd. V, S. 76.

  11. Ebd., S. 79.

  12. Ebd., S. 84.

  13. Ebd., S. 83.

  14. Ebd., S. 85.

  15. Ebd. (Hervorhebung im Original).

  16. Ebd. (Hervorhebungen im Original).

  17. Eugen Dühring, Die Judenfrage, Karlsruhe–Leipzig 1881, S. 74.

  18. R. Wagner (Anm. 7), Bd. VIII, S. 241.

  19. Ebd., S. 258.

  20. Ebd., S. 260.

  21. Wilhelm Tappert (Hrsg.), Hurenaquarium und andere Unhöflichkeiten. Richard Wagner im Spiegel der zeitgenössischen Kritik, München 1968 (1876), S. 56f.

  22. Gustav Freytag, Gesammelte Werke. Erste Serie, Bd. VIII, Leipzig–Berlin o.J. (Grenzbote Nr. 22, 1869), S. 325–330, hier: S. 329f.

  23. Vgl. Hermann Danuser, Universalität oder Partikularität? Zur Frage antisemitischer Charakterzeichnung in Wagners Werk, in: Dieter Borchmeyer/Ami Maayani/Susanne Vill (Hrsg.), Richard Wagner und die Juden, Stuttgart–Weimar 2000, S. 79–102.

  24. Cosima Wagner, Die Tagebücher 1869–1883, hrsg. v. Martin Gregor-Dellin/Dietrich Mack, München 1976f., Bd. II, S. 309 (27.2.1879).

  25. Ebd., S. 424 (11.10.1879).

  26. Ebd., S. 829 (22.11.1881).

  27. Ebd., S. 129 (2.7.1878).

  28. Ebd., S. 94 (15.5.1878).

  29. Ebd., S. 247 (1.12.1878).

  30. Ebd., S. 290 (13.1.1879).

  31. Ebd., S. 236f. (22.11.1878).

  32. Vgl. ebd., S. 546 (16.6.1880).

  33. R. Wagner (Anm. 7), Bd. X, S. 275.

  34. Ebd., S. 276f. (Hervorhebung im Original).

  35. Ebd., S. 283.

  36. Ebd., S. 280f.

  37. C. Wagner (Anm. 24), S. 690 (14.2.1881).

  38. Ebd., S. 744 (2.6.1881).

  39. Ebd., S. 751 (19.6.1881).

  40. R. Wagner (Anm. 7), Bd. X, S. 282f.

  41. Ebd., S. 284f. Diese Zusammenhänge sind am vorzüglichsten dargestellt bei Wolf-Daniel Hartwich, Religion und Kunst beim späten Wagner, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 40 (1996), S. 297–323.

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Dr. phil., Dr. h.c., geb. 1941; Professor em. für Neuere Deutsche Literatur und Theaterwissenschaft an der Universität Heidelberg; Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Max-Joseph-Platz 3, 80539 München. E-Mail Link: dieter@borchmeyer.de