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Was ist "Organisierte Kriminalität"?

Klaus von Lampe

/ 14 Minuten zu lesen

Im Zuge der Aufarbeitung der NSU-Morde ist viel von mangelnder Zusammenarbeit der Polizei- und Verfassungsschutzbehörden die Rede gewesen und von einer Unterschätzung der Gefahr des Rechtsextremismus. Ein Problem könnte aber auch an ganz anderer Stelle zu finden sein. Ein wesentliches Hindernis bei den Ermittlungen war die beharrliche Annahme, der oder die Täter seien der Organisierten Kriminalität zuzurechnen. Hierfür gab es keine konkreten Hinweise, jedoch entstand offenbar in den Köpfen der meisten Ermittler angesichts des Migrationshintergrunds der Opfer und der hinrichtungsartigen Tatbegehung das Bild von "Mafia-Morden".

Nun ist es einfach, im Nachhinein die Arbeit der Sicherheitsbehörden zu kritisieren. Der Fall der NSU-Morde soll hier jedoch lediglich dazu dienen, ein allgemeineres Problem aufzuzeigen: dass ein diffuses, klischeehaftes Verständnis von Organisierter Kriminalität wichtige Entscheidungen im Bereich der inneren Sicherheit beeinflussen kann, zum Teil mit katastrophalen Folgen.

Was also ist Organisierte Kriminalität? Die Antwort auf diese Frage ist nicht leicht, denn es handelt sich jedenfalls nicht um ein für den unbefangenen Beobachter klar abgrenzbares, zusammenhängendes Phänomen. Drogenhandel, Menschenhandel, Mafiosi, Gangster, Rockerbanden und andere Erscheinungen, die nach der einen oder anderen Auffassung dazu gehören sollen, fügen sich nicht von selbst zu einem kohärenten Gesamtbild zusammen. Vielmehr muss ein Zusammenhang erst auf der gedanklichen und begrifflichen Ebene hergestellt werden. Organisierte Kriminalität ist demnach zunächst einmal nur ein konstruierter Begriff – und zwar einer, dem klare Konturen und eine klare Struktur fehlen. Denn die Meinungen, was aus welchen Gründen der Organisierten Kriminalität zuzurechnen ist, gehen weit auseinander.

Grundannahmen über das Wesen "Organisierter Kriminalität"

Drei Grundannahmen über das Wesen Organisierter Kriminalität lassen sich unterscheiden. Nach einer Auffassung handelt es sich um eine besondere Kategorie kriminellen Verhaltens. "Organisierte Kriminalität", so etwa die offizielle deutsche Definition, ist im Kern "die planmäßige Begehung von Straftaten". Das bedeutet, die Grenze zwischen organisierter und nicht-organisierter Kriminalität verläuft irgendwo auf einem Kontinuum zwischen spontaner, impulsiver Straftatbegehung einerseits und planmäßiger, auf Dauer angelegter Straftatbegehung andererseits.

Nach einer anderen Auffassung sind nicht in erster Linie Straftaten organisiert, sondern Straftäter. Der Begriff "Organisierte Kriminalität" soll sich danach auf kriminelle Organisationen beziehen, zum Beispiel auf "Gruppen" mit "formaler Struktur", wie es in der Definition der bundespolizeilichen US-Ermittlungsbehörde FBI heißt. Die Grenze zwischen organisierter und nicht-organisierter Kriminalität ist demnach irgendwo zwischen den Extrempunkten sozial isolierter Einzeltäter einerseits und komplexer Zusammenschlüsse von Straftätern andererseits zu ziehen.

Nach einer dritten Auffassung ist das zentrale Moment Organisierter Kriminalität die Ausübung von Macht, entweder durch Kriminelle allein oder in einer Allianz von Kriminellen und gesellschaftlichen Eliten. Im ersten Fall spricht man von "illegal governance" beziehungsweise "extralegal governance". Dabei geht es um die Regulierung gesellschaftlicher Sphären, die der Staat entweder aus prinzipiellen Gründen nicht regulieren will, zum Beispiel illegale Märkte und kriminelle Milieus, oder nicht regulieren kann, weil ihm die notwendigen Ressourcen fehlen, zum Beispiel um die Kontrolle über entlegene Gegenden oder abgeschottete Subkulturen auszuüben. Im zweiten Fall spricht man von Organisierter Kriminalität als einem systemischen Zustand, gekennzeichnet durch die Korrumpierung der verfassungsmäßigen Ordnung im Zusammenwirken von Unterwelt, Wirtschaft und Politik. Nach diesen Sichtweisen liegt die Grenze zwischen organisierter und nicht-organisierter Kriminalität zwischen anarchischen kriminellen Milieus ohne jegliche Ordnung und ohne jeglichen politischen Einfluss einerseits und der Ausübung von Macht durch kriminelle Akteure in kleinerem oder größerem gesellschaftlichen Rahmen andererseits.

Es ist müßig sich darüber zu streiten, welche der drei genannten Grundauffassungen über das Wesen Organisierter Kriminalität die richtige ist und wo genau die Grenze zwischen organisierter und nicht-organisierter Kriminalität verläuft. Denn es gibt keine Grundlage, auf der diese Fragen verbindlich beantwortet werden könnten.

Klischee und Realität

Genauso wie es in die Irre führt, sich für nur ein "richtiges" Verständnis von Organisierter Kriminalität zu entscheiden, wäre es falsch, die unterschiedlichen Vorstellungsbilder lediglich als Facetten ein und desselben Phänomens zu begreifen. So zum Beispiel die Vorstellung, dass Organisierte Kriminalität in ihrer reinsten Form von mächtigen kriminellen Organisationen verkörpert wird, die hoch effizient und kontinuierlich Straftaten begehen. Wenn solche Organisationen nicht existieren, sollen sie jedenfalls den logischen Endpunkt einer geradlinigen Entwicklung von nicht-organisierter zu zunehmend stärker organisierter Kriminalität bilden. Jedes Ereignis, das dem Klischeebild Organisierter Kriminalität entspricht, sei es ein spektakulärer Mord, ein bedeutender Drogenfund oder eine versuchte Schutzgelderpressung, wird als Indiz dafür gesehen, dass dieser Prozess auch in Deutschland im Gange ist. Diese Vorstellung einer eindimensionalen, linearen Entwicklung von nicht-organisierter zu organisierter Kriminalität geht jedoch an der Realität vorbei. Denn die Organisiertheit der Straftatenbegehung, der Organisationsgrad von Straftätern und die Machtfülle von Kriminellen sind Faktoren, die sich relativ unabhängig voneinander entwickeln. Es kann also zum Beispiel sehr gut sein, dass kontinuierlich und planmäßig Straftaten begangen werden, etwa im Drogen- oder Menschenhandel, ohne dass entsprechend komplexe Organisationen dahinterstehen. Typischerweise wirken in diesen Bereichen Einzelpersonen und kleine Gruppen auf der Grundlage kurzfristiger Absprachen zusammen. Kriminelle Unternehmen, die mehrere Marktebenen umfassen, zum Beispiel von der Drogenherstellung über den Drogenschmuggel bis zum Drogenhandel in Absatzländern, wie das etwa beim sogenannten Cali-Kartell der Fall war, bilden die Ausnahme. Der bürokratische Aufwand ist einfach zu groß und macht derartige Organisationen in besonderem Maße anfällig für Strafverfolgung.

Beispiel sizilianische Mafia

Selbst Mafiaorganisationen wie die sizilianische Cosa Nostra entsprechen nicht dem Klischeebild. Auf den ersten Blick handelt es sich bei der Cosa Nostra um eine kriminelle Organisation, die im Drogenhandel und anderen Kriminalitätsbereichen aktiv ist und gleichzeitig die Rolle einer Art "Unterweltregierung" in den von ihr kontrollierten Teilen Siziliens spielt. Bei näherem Hinsehen stellen sich die Dinge etwas anders dar.

Die sizilianische Mafia besteht aus rund einhundert lokalen Gruppierungen, "Familien" genannt, die innerhalb ihres jeweiligen Einflussgebiets Abgaben von legalen und illegalen Unternehmen erheben und diesen im Gegenzug Schutz gewähren. Insoweit stimmt das Bild quasi-staatlicher Machtausübung. Es ist jedoch problematisch, die einzelnen Familien mit der Mafia insgesamt gleichzusetzen. Lange Zeit waren diese Familien weitgehend autonom. Der Zusammenhalt beschränkte sich auf die gegenseitige Anerkennung exklusiver Einflusssphären. Erst in den 1950er Jahren, rund 100 Jahre nach ihrer Entstehung, entwickelte die Mafia Ansätze einer einheitlichen Organisationsstruktur mit der Bildung von übergeordneten Koordinierungsgremien. Gleichwohl verblieb der Machtschwerpunkt bei den einzelnen Familien. Es ist daher nur begrenzt möglich, im Fall der sizilianischen Mafia von einer einheitlichen, zentral gelenkten Organisation auszugehen.

Noch problematischer ist es davon zu sprechen, die Mafia sei eine kriminelle Organisation in dem Sinne, dass sie etwa als Organisation mit Drogen handelt. Tatsächlich ist die einzige kriminelle Aktivität, die von den Familien beziehungsweise der Mafia insgesamt als Organisation koordiniert wird, die Ausübung quasi-staatlicher Gewalt, namentlich das Eintreiben von Schutzgeldern. Drogenhandel sowie andere illegale Geschäfte werden hingegen von einzelnen Mitgliedern in eigener Verantwortung betrieben. Wird also ein Mafia-Boss verhaftet, so hat dies zwar potenziellen Einfluss auf das Ordnungssystem der Mafia, die Erpressung von Schutzgeldern und die interne Konfliktschlichtung zwischen Mitgliedern, nicht aber auf die kriminellen Aktivitäten der einzelnen Mitglieder, etwa im Drogenhandel.

Um die Phänomene zu verstehen, die nach unterschiedlichen Auffassungen der Organisierten Kriminalität zugerechnet werden, ist somit eine nüchterne und differenzierte Betrachtungsweise notwendig, jenseits der Klischees, die von den Medien beharrlich reproduziert werden. Im Grunde geht es darum, wie sich Kriminelle mehr oder weniger pragmatisch den Herausforderungen stellen, die sich aus den Bedingungen der Illegalität ergeben. Sowohl die "Organisation" von Straftaten wie auch die "Organisation" von Straftätern lassen sich in diesem Sinne als Problemlösungsstrategien interpretieren und nicht etwa als Produkt einer finsteren Verschwörung.

Logik der Straftatbegehung

Die Art und Weise der Straftatbegehung wird in erster Linie von der inhärenten Logik des jeweiligen Delikts bestimmt und in zweiter Linie von den verfügbaren Ressourcen. Zum Beispiel gibt es unterschiedliche Verfahren für die Herstellung der synthetischen Droge Methamphetamin. Welches Verfahren zum Einsatz kommt, ist abhängig davon, welche Chemikalien als Rohstoffe zur Verfügung stehen und welche Fachkenntnisse vorhanden sind. Ob und inwieweit die Beteiligten Mitglieder etwa einer Mafia-Organisation oder einer Rockerbande sind, oder ob die Drogenherstellung im Machtbereich einer bestimmten kriminellen Gruppe stattfindet, hat demgegenüber keinen unmittelbaren Einfluss auf die Tatausführung. Denn die logistischen Notwendigkeiten bleiben von derartigen Rahmenbedingungen unberührt. Allenfalls ein indirekter Zusammenhang kann sich ergeben, zum Beispiel wenn die Mitgliedschaft in einer Mafia-Organisation oder Rockerbande zu Kontakten führt, die für die Beschaffung von Rohstoffen oder von Know-how nützlich sind.

Organisation von Straftätern

Die Organisation von Straftätern lässt sich am besten verstehen, wenn man danach fragt, welchen Bedürfnissen bestimmte kriminelle Strukturen gerecht werden. Fünf Grundbedürfnisse von Kriminellen lassen sich unterscheiden:

  • Zugang zu Ressourcen, die die Begehung von Straftaten ermöglichen oder erleichtern,

  • eine Ideologie zur Rechtfertigung kriminellen Verhaltens,

  • sozialer Status,

  • Sicherheit vor Strafverfolgung,

  • Sicherheit vor anderen Kriminellen.

Diese Grundbedürfnisse werden entweder in der Form befriedigt, dass sich Straftäter zusammenschließen und sich gegenseitig Unterstützung gewähren, oder dass Kriminelle einzeln oder als Gruppe anderen Kriminellen entsprechende "Serviceleistungen" anbieten. In der Realität kann sich ein kompliziertes, nur schwer entwirrbares Beziehungsgeflecht ergeben. Um den Überblick zu behalten, hilft es, wenn man kriminelle Strukturen nach Funktionen unterscheidet und in drei Typen einteilt: ökonomische, soziale und quasi-staatliche.

Ökonomische kriminelle Strukturen

Ökonomische kriminelle Strukturen dienen unmittelbar der Erzielung von materiellem Gewinn. Straftäter wirken insbesondere zusammen, um Eigentums- und Vermögensdelikte (so zum Beispiel Diebstahl, Raub und Betrug) zu begehen oder illegale Güter und Dienstleistungen (etwa Drogen, Waffen oder Kinderpornografie) anzubieten. In weiterem Sinne kann auch die kollektive Begehung von Sexualdelikten, zum Beispiel der organisierte Missbrauch von Kindern, dieser Kategorie zugerechnet werden. Durch die Zusammenarbeit kann die Begehung von Straftaten erleichtert oder überhaupt erst ermöglicht werden. Insofern ist es rational, wenn Straftäter sich zusammenschließen. Andererseits ergeben sich Risiken, mit denen ein Einzeltäter nicht konfrontiert ist. Zum einen erhöht sich durch Komplizen und sonstige Mitwisser das Strafverfolgungsrisiko, denn sie sind potenzielle Polizeiinformanten, verdeckte Ermittler und Zeugen. Zum anderen laufen Straftäter Gefahr, selbst Opfer von Straftaten zu werden. Organisierte Straftäter können Opfer von Diebstahl, Raub und Betrug werden, und sie können miteinander in Streit geraten, ohne dass sie Schutz bei der Polizei und den Gerichten suchen können.

Es gibt unterschiedliche Strategien, mit denen sich Straftäter vor den Risiken des Zusammenwirkens mit anderen Straftätern zu schützen versuchen. Sie können Komplizen und Mitwisser auf einen kleinen Kreis vertrauenswürdiger Personen beschränken, namentlich auf Freunde und Verwandte. Das ist jedoch nur begrenzt praktikabel. Wie es scheint, nimmt mit dem Umfang krimineller Unternehmungen nicht nur die Größe von Tätergruppierungen zu, sondern auch deren Heterogenität. Das bedeutet, wer im großen Maßstab Straftaten begeht, wird tendenziell mit Straftätern kooperieren, zu denen keine enge Vertrauensbeziehung besteht.Straftäter können sich auch durch die Androhung und Anwendung von Gewalt Respekt verschaffen und sich so davor schützen, durch andere Straftäter Schaden zu erleiden.

Soziale kriminelle Strukturen – Straftätervereinigungen

Die Anwendung von Gewalt eskaliert jedoch leicht und wird schnell zu einem unkalkulierbaren Risiko. Deshalb gibt es in kriminellen Milieus eine Reihe von Mechanismen zur Gewaltvermeidung und gewaltfreien Konfliktschlichtung. Einer dieser Mechanismen ist die Bildung von Straftätervereinigungen. Dabei handelt es sich um kriminelle Strukturen, die in erster Linie soziale Funktionen erfüllen. Sie sind unter anderem durch ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl ihrer Mitglieder und die Verpflichtung zu gegenseitiger Hilfe und Rücksichtnahme gekennzeichnet.

Beispiele für derartige Zusammenschlüsse sind italienische Mafia-Organisationen wie die sizilianische Cosa Nostra oder die kalabrische ’Ndrangheta, die chinesischen Triaden, die japanischen Yakuza-Gruppen, die Diebe im Gesetz (vory-v-zakone) der ehemaligen Sowjetunion sowie Rockerbanden wie die Hells Angels und Bandidos, wobei Rockerbanden im Unterschied zu den anderen genannten Gruppierungen keine rein kriminellen Organisationen sind, sondern in der Regel sogar den Status offiziell registrierter Vereine besitzen.

Die Mitgliedschaft in diesen Vereinigungen hat für Kriminelle den Vorteil, dass sie Vertrauensbeziehungen zu einer großen Zahl anderer Krimineller schaffen, ohne dass zwischen ihnen enge persönliche Beziehungen bestehen müssen. Die Pflicht zu gegenseitiger Hilfe bedeutet, dass Kriminelle in ihren legalen und illegalen Aktivitäten kollektiven Schutz durch alle anderen Mitglieder genießen. Wenn sie gemeinsam Straftaten begehen, gilt der Grundsatz der gegenseitigen Rücksichtnahme und im Streitfall stehen interne Mechanismen der Konfliktschlichtung zur Verfügung.

Quasi-staatliche Strukturen

Ähnliche Mechanismen der Konfliktvermeidung und Konfliktschlichtung können sich auch innerhalb ganzer krimineller Milieus entwickeln. In der reinsten Ausprägung bilden sich quasi-staatliche Strukturen in der Weise, dass eine Gruppierung verbindlich festsetzt, wer welche illegalen Aktivitäten in welcher Form ausüben darf. Das hat zur Folge, dass bestimmte besonders unpopuläre Straftaten wie etwa Straßenraub und Heroinhandel unterbunden werden und der Kreis der Kriminellen, die bestimmte Straftaten begehen, zum Beispiel mit Drogen handeln oder illegale Glücksspiele betreiben, überschaubar bleibt. Damit werden konfliktträchtige Konkurrenzsituationen vermieden und die Wahrscheinlichkeit von Gewalttaten reduziert. Insgesamt trägt diese Art der Regulierung krimineller Milieus dazu bei, unliebsame Aufmerksamkeit seitens der Medien und der Strafverfolgungsbehörden zu vermeiden.

Quasi-staatliche Strukturen können auf der Grundlage von Vereinbarungen zwischen einzelnen Kriminellen und kriminellen Gruppierungen geschaffen werden. Sie können aber auch dadurch entstehen, dass sich eine kriminelle Gruppierung im Machtkampf gegen andere kriminelle Gruppierungen durchsetzt. Dann ist die Ausübung quasi-staatlicher Macht typischerweise mit der Erhebung von Abgaben verbunden. Kriminelle müssen dann einen Teil ihrer Erlöse als eine Art "Unterwelt-Steuer" abführen.

Kriminelle Gruppierungen, die eine Vormachtstellung innerhalb der Unterwelt erlangt haben, nutzen mitunter ihre Position zur reinen Erpressung aus, ohne irgendwelche Gegenleistungen in Form von Schutz und Konfliktschlichtung zu erbringen. Langfristig sind quasi-staatliche Strukturen jedoch, ebenso wie der Staat, auf Legitimation angewiesen, also auf das Gefühl der Machtunterworfenen, dass die Machtausübung eine Berechtigung hat.

Unter bestimmten Bedingungen kommt es vor, dass quasi-staatliche Strukturen ihren Machtbereich über kriminelle Milieus hinaus auf solche Bereiche der legalen Gesellschaft ausdehnen, die vom Staat nur begrenzt oder gar nicht reguliert werden. Das ist etwa der Fall in wettbewerbsintensiven Wirtschaftsbranchen. Klassisches Beispiel ist die private Müllabfuhr im Großraum New York, wo kriminelle Gruppierungen auf Einladung von Unternehmern Kartellabsprachen herbeigeführt haben.

Kriminelle Netzwerke und kriminelle Organisationen

Zwei Dinge sind in Bezug auf die genannten drei Typen krimineller Strukturen (ökonomische, soziale und quasi-staatliche) zu betonen. Zum einen handelt es sich nicht notwendig um Organisationen wie die sizilianische Cosa Nostra oder Rockerbanden, die formelle Strukturen aufweisen und aufgrund strenger Rekrutierungsverfahren eine klare Trennlinie zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern ziehen. Häufig sind es netzwerkartige Strukturen ohne irgendwelchen organisatorischen Zusammenhalt, die diese Funktionen erfüllen. Es kommt mitunter sogar vor, dass bestimmte Funktionen, zum Beispiel quasi-staatliche Funktionen in Form der Konfliktschlichtung, von Einzelpersonen wahrgenommen werden, die im Milieu über ein entsprechendes Prestige verfügen.

Der zweite Punkt ist, dass sich die drei Grundtypen krimineller Strukturen nicht gegenseitig ausschließen. Ein kriminelles Netzwerk oder eine kriminelle Organisation können mehrere Funktionen erfüllen. So haben die "Familien" der sizilianischen Cosa Nostra, wie bereits angedeutet, sowohl den Charakter einer Geheimgesellschaft, die ihren Mitgliedern Schutz und Status gewährt, als auch den einer "Unterweltregierung" mit quasi-staatlichen Funktionen. Seltener, und eher nur in kleinerem Rahmen denkbar, können kriminelle Strukturen sowohl die Funktion eines illegalen Unternehmens als auch soziale und quasi-staatliche Funktionen erfüllen. Denn die Anforderungen an die Organisationsstruktur sind sehr unterschiedlich. Hierarchien mit zentralisierter Entscheidungsgewalt, die insbesondere für quasi-staatliche Strukturen typisch sind, sind bei illegalen Unternehmen in der Regel zu unflexibel und wegen des hohen internen Kommunikationsbedarfs zu anfällig für Strafverfolgung.

Die offizielle deutsche Definition organisierter Kriminalität wird der Bandbreite von kriminellen Strukturformen gerecht, indem sie praktisch keine Anforderungen an das Vorhandensein von Organisationsstrukturen stellt. Das auf Dauer angelegte, arbeitsteilige Zusammenwirken von mindestens drei Personen ist das einzige, was in dieser Hinsicht erforderlich ist, um von Organisierter Kriminalität zu sprechen.

Erklärungsansätze und Bedrohungsszenarien

Wenn man sich die gesamte Bandbreite der Phänomene betrachtet, die mit dem Begriff "Organisierte Kriminalität" erfasst werden, dann kann man feststellen, dass vieles davon aus der Natur der Sache heraus erklärbar ist. Viel von dem, was die Organisation von Straftaten und Straftätern ausmacht, ist den Bedingungen der Illegalität und den logistischen Notwendigkeiten der jeweiligen Deliktsbereiche geschuldet. Organisierte Kriminalität in diesem Sinne verstanden entwickelt sich in einem Rahmen, der durch Tatgelegenheiten, die Nachfrage nach illegalen Gütern und Dienstleistungen und die Intensität der Strafverfolgung bestimmt wird.

Ein zweiter Erklärungsansatz ist der Unwillen oder die Unfähigkeit des Staates, bestimmte gesellschaftliche Sphären effektiv zu regulieren. In diesem Machtvakuum entwickeln sich Mechanismen und Strukturen, die quasi-staatliche Funktionen erfüllen. Eine zentrale Frage in der Diskussion um Organisierte Kriminalität ist dabei, inwieweit Kriminelle und kriminelle Gruppierungen durch Gewalt und Korruption gezielt derartige Freiräume zu schaffen versuchen und darauf aus sind, den Staat zunehmend zu schwächen.

Solche Überlegungen stützen sich insbesondere auf Beispiele gewaltsamer Konfrontation zwischen Kriminellen und dem Staat. So hat etwa das sogenannte Medellin-Kartell mit einer Terrorkampagne gegen Vertreter des kolumbianischen Staates Anfang der 1990er Jahre versucht, die Auslieferung von Drogenhändlern an die USA zu verhindern. Etwa zur gleichen Zeit kulminierte der Versuch der sizilianischen Mafia, mit Hilfe von Anschlägen auf Politiker und Richter den italienischen Staat einzuschüchtern. In beiden Fällen behielt der Staat die Oberhand und zeigte, trotz eigener Schwäche, dass staatliche Ressourcen denen von Kriminellen, selbst wenn diese über Einnahmen in Millionenhöhe verfügen, überlegen sind.

Organisierte Kriminalität ist vor diesem Hintergrund vor allem im Zusammenspiel mit gesellschaftlichen Eliten, die ihre Interessen mit kriminellen Mitteln verfolgen, eine Bedrohung. Das Gegenmittel ist eine Kombination aus starker Zivilgesellschaft, aufmerksamen Medien und gut funktionierenden Sicherheitsbehörden, die an Recht und Gesetz gebunden sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. beispielsweise Hans Leyendecker/John Goetz/Nicolas Richter, Die NSU-Morde sind unser 11. September, 27.4.2012, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/politik/1.1343041 (2.8.2013).

  2. Bundeskriminalamt, Bundeslagebild Organisierte Kriminalität 2011, Wiesbaden 2012, S. 10, online: Externer Link: http://www.bka.de/nn_193360/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/OrganisierteKriminalitaet/organisierteKriminalitaet__node.html?__nnn=true (2.8.2013).

  3. Vgl. FBI, Organized Crime, Glossary of Terms, Externer Link: http://www.fbi.gov/about-us/investigate/organizedcrime/glossary (2.8.2013).

  4. Vgl. Paolo Campana, Eavesdropping on the Mob, in: European Journal of Criminology, 8 (2011) 3, S. 213–228; Federico Varese, What is organized crime?, in: ders. (ed.), Organized Crime, London 2010; Stergios Skaperdas, The political economy of organized crime, in: Economics of Governance, 2 (2001) 3, S. 173–202.

  5. Vgl. Alan Block, East Side, West Side, New Brunswick 1983.

  6. Vgl. Gerben Bruinsma/Wim Bernasco, Criminal groups and transnational illegal markets, in: Crime, Law & Social Change, 41 (2004) 1, S. 79–94; Ron Chepesiuk, Drug Lords, Wrea Green 2005; Scott Decker/Margaret Townsend Chapman, Drug Smugglers on Drug Smuggling, Philadelphia 2008.

  7. Vgl. Diego Gambetta, The Sicilian Mafia, Cambridge, MA 1996; Letizia Paoli, Mafia Brotherhoods, New York 2003.

  8. Vgl. Rocky Sexton et al., Patterns of Illicit Methamphetamine Production, in: Journal of Drug Issues, 36 (2006) 4, S. 853–876.

  9. Vgl. James Quinn/Shane Koch, The nature of criminality within one-percent motorcycle clubs, in: Deviant Behavior, 24 (2003) 3, S. 281–305.

  10. Vgl. Joel Best/David Luckenbill, Organizing Deviance, Englewood Cliffs 1994.

  11. Vgl. Manfred Karremann, Es geschieht am helllichten Tag, Köln 2007.

  12. Vgl. Juan Gamella/Maria Luisa Jimenez Rodrigo, Multinational export-import ventures, in: Sharon Rödner Sznitman/Börje Olsson (eds.), A Cannabis Reader, Lissabon 2008; Klaus von Lampe, Criminals are not alone, in: Petrus van Duyne et al. (eds.), Crime Business and Crime Money in Europe, Nimwegen 2007.

  13. Vgl. Thomas Barker, Biker Gangs and Organized Crime, Newark NJ, 2007.

  14. Vgl. Anneliese Graebner Anderson, The Business of Organized Crime, Stanford, 1979, S. 45; D. Gambetta (Anm. 7), S. 33, S. 187.

  15. Vgl. Markus Henninger, "Importierte Kriminalität" und deren Etablierung, in: Kriminalistik, 56 (2002) 12, S. 714–729; Erich Rebscher/Werner Vahlenkamp, Organisierte Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 1988.

  16. Vgl. Luis Canon, Pablo Escobar, Berlin 1994.

  17. Vgl. Salvatore Lupo, Die Geschichte der Mafia, Düsseldorf 2002.

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Dr. jur.; Associate Professor am John Jay College of Criminal Justice, Chefredakteur der Zeitschrift "Trends in Organized Crime", John Jay College of Criminal Justice, 524 W. 59th St., 10019 New York, USA. E-Mail Link: kvlampe@jjay.cuny.edu