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Deutschland – Einwanderungsland im Herzen Europas

Sven Astheimer

/ 13 Minuten zu lesen

Heute weiß Elena Llorente, wie lang der Weg ist. Die 36 Jahre alte Spanierin kam nach Deutschland mit dem Wunsch, hier zu arbeiten, ihren Horizont zu erweitern und neue Dinge zu lernen. Was sie jedoch als Erstes lernen musste, war, dass es ungleich schwerer ist, sich in einem anderen Land durchzusetzen als in der eigenen Heimat. Sie musste viele Rückschläge einstecken und mit Kränkungen klarkommen, fühlte sich zeitweise ausgenutzt und allein gelassen. Aber eines, sagt die Madrilenin mit erhobenem Haupt, sei ihr immer klar gewesen: "Aufgeben kam nicht infrage, dazu bin ich viel zu stolz."

Deutschland, das neue Einwanderungsland im Herzen Europas – kaum jemand hätte dies noch vor ein paar Jahren für möglich gehalten. Im vergangenen Jahrzehnt ging dieser Titel noch eindeutig an Großbritannien, das seine Grenzen früh für Bürgerinnen und Bürger der neuen EU-Mitgliedsländer aus Mittel- und Osteuropa öffnete, während unter anderem Deutschland die Schotten so lange wie möglich dicht machte. Die damals rasch wachsende britische Wirtschaft stillte ihren enormen Hunger auf qualifizierte Fachkräfte in Polen, Ungarn oder dem Baltikum – bis die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 ausbrach und die Wachstumsträume jäh beendete. Während also anderswo die Blasen an den Märkten platzten, entpuppte sich das bis dahin für seine "Old Economy" oft belächelte Deutschland als solider Hafen in der stürmischen See der Weltwirtschaft.

Heute steht die größte Volkswirtschaft im Euroraum glänzend da. Deutsche Unternehmen sind hochgradig wettbewerbsfähig, ihre Produkte rund um die Welt begehrt. Dazu braucht es gutes Personal. Die Chancen am Arbeitsmarkt sind so gut wie lange nicht: Deutschland hat die zweitniedrigste Arbeitslosenquote nach Österreich, bei Frauen und Männern unter 25 Jahren ist es sogar das Maß der Dinge. Während in Krisenländern wie Griechenland und Spanien die Jugendarbeitslosigkeit längst mehr als 50 Prozent beträgt, klagen zwischen Baden und Vorpommern die Unternehmen immer häufiger darüber, dass sie nicht mehr genügend gute Mitarbeiter finden.

Dass der deutsche Arbeitsmarkt viele Chancen bietet, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Die Folge: 2012 wanderten fast eine Million Ausländer nach Deutschland ein. Das waren 125.000 oder 15 Prozent mehr als im Jahr zuvor und insgesamt so viele wie seit 1995 nicht mehr. Die höchsten Zuwachsraten entfielen auf die krisengeschüttelten Mittelmeerländer des Euroraums: Das Plus bei den eingewanderten Griechen, Portugiesen und Italienern betrug jeweils mehr als 40 Prozent, für Spanier waren es sogar 45 Prozent. Auf der iberischen Halbinsel hatte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Beginn des Jahres 2011 persönlich die Werbetrommel gerührt, als sie arbeitslose, junge Spanier nach Deutschland einlud. In Spanien ist seitdem vom "efecto Merkel", dem Merkel-Effekt, die Rede. Denn hoch qualifizierte junge Menschen pilgerten anschließend scharenweise zu Jobmessen im ganzen Land, um ihre Bewerbungen bei den deutschen Arbeitgebern mit den klangvollen Namen abzugeben. Die Goethe-Institute von Barcelona bis Sevilla konnten gar nicht so schnell neue Lehrer einstellen, wie die Nachfrage nach Deutschkursen stieg. Was lange Jahre undenkbar schien, nahm plötzlich Gestalt an: Junge Spanier machten sich in großer Zahl auf den Weg ins weit entfernte, kalte Deutschland.

Elena Llorente ist eine von ihnen. Nachdem sie ihr Psychologiestudium in Madrid abgeschlossen hatte, arbeitete sie zunächst als Lehrbeauftragte an der Universität und parallel dazu in Pflegeheimen. "Der Wunsch, ins Ausland zu gehen, war schon immer da", sagt sie. 2011 fasste sie den Entschluss, dass es an der Zeit war, den Neuanfang in einem anderen Land zu wagen. Deutschland war sofort ihre erste Wahl. Llorente wusste um die vermeintlich guten Chancen am Arbeitsmarkt, nennt die reiche Kultur und, für Spanier eher ungewöhnlich, das Wetter in Deutschland als weitere Gründe. Sie mag es nicht nur heiß, sagt sie lachend. Zudem seien die Winter im hochgelegenen Madrid auch ziemlich kalt. Als Touristin hatte sie Deutschland zudem schon ein wenig kennengelernt und im Sommer 2010 mit einem Deutschkurs in einer spanischen Sprachschule angefangen. "Ich dachte, das lerne ich schnell", sagt sie. Heute sitzt Llorente in einem Berliner Café und spricht darüber, wie viel Fleiß dazu gehört, die neue Fremdsprache zu beherrschen. Deshalb lautet ihr Rat an ihre Landsleute, sich nicht ohne ausreichende Sprachkenntnisse auf das Abenteuer Deutschland einzulassen.

Im Januar 2012 schrieb sie die ersten Bewerbungen an Unternehmen im Raum Berlin. Die meisten Ausländer zieht es in die deutschen Großstädte, vornehmlich in die Hauptstadt. Die Berater der Arbeitsagenturen klagen bisweilen darüber, wie schwierig es sei, den Kandidaten klarzumachen, dass viele offene Stellen eher von Mittelständlern aus der Provinz kommen. Sauerland statt Spreestrand – das ist nicht jedem sofort zu vermitteln. "Die stehen mit dem Koffer bei uns in Berlin und fragen, wann sie zu arbeiten anfangen können", berichtet eine Mitarbeiterin der Arbeitsagentur über die Vorstellungen von so manchem Neuankömmling. Dabei ist gerade der Berliner Arbeitsmarkt ein vergleichsweise hartes Pflaster. Auch Elena Llorente handelte sich einige Absagen ein, bevor sie schließlich eine Stelle bei einem Berliner Personaldienstleister im Talentmanagement bekam. Die Aufgabe schien ihr wie auf den Leib geschneidert: "Ich sollte spanische Pflegekräfte nach Deutschland bringen." Mit dem neuen Job im Gepäck, zog Llorente im Juli 2012 aus der spanischen in die deutsche Hauptstadt. In die neue Aufgabe habe sie sich rasch eingefunden, erzählt sie, die Arbeit habe ihr Spaß gemacht. Doch im Dezember, kein halbes Jahr später, machte die Firma plötzlich dicht. Für Llorente war der Verlust des Arbeitsplatzes und damit ihres sicheren Einkommens ein Schock: "Ich war alleine, weit weg von der Heimat."

Die Zuwanderer müssen schon kurz nach der Ankunft im Zielland einige ihrer Illusionen über Bord werfen, wenn der harte Alltag sie eingeholt hat. Zu Beginn dieses Jahres empfing der hessische Sozialminister Jens Grüttner medienwirksam den Pfleger Ignacio Úbeda am Flughafen Frankfurt/M. Der junge Mann war der erste Teilnehmer eines Programms, das spanische Pflegekräfte nach Deutschland bringen sollte. Úbeda trat seinen Dienst in einer Einrichtung vor den Toren Frankfurts an. Nach wenigen Monaten gab er aus privaten Gründen auf und trat, diesmal ohne öffentlichkeitswirksame Fotos mit dem Sozialminister, den Rückweg nach Spanien an.

Für Elena Llorente kam dieser Schritt nicht infrage. "Ich hatte beschlossen zu bleiben und mich durchzukämpfen." Sie besuchte weiterhin die Sprachkurse am Goethe-Institut und sichtete den Stellenmarkt. Die Zahl der Vorstellungsgespräche in dieser Zeit schätzt sie auf 60, die der Bewerbungsschreiben auf noch viel höher. Im Jobcenter hatte sie zunächst das Gefühl, auf den Prüfstand gestellt zu werden. "Die wollten sehen, wie ernst ich es meine", glaubt Llorente heute. Im Frühjahr 2013 bekam sie eine neue Betreuerin, der sie großes Bemühen attestiert. Aber die Angebote waren dünn gesät. "Ich spreche deutsch, was ist los", habe sie sich von Selbstzweifeln geplagt häufig gefragt. Um nichts unversucht zu lassen, fuhr sie für ein Einstellungsgespräch bis nach München. Im Gespräch stellte ihr Gegenüber nach zehn Minuten fest, dass die Spanierin keine kaufmännische Ausbildung hat und damit für die Stelle leider nicht infrage kommt. Alles umsonst. "Das hätte man auch vorher klären können", sagt sie noch heute verärgert. Im Sommer 2013 führte sie ein Praktikum zu einem Personaldienstleister nach Köln. "Ich durfte nichts machen", sagt sie im Rückblick und führt das als Reaktion auf einen Fehler gleich zu Beginn zurück. Die Hoffnung auf eine Festanstellung im Anschluss war schnell zerstoben. "Ich war so enttäuscht." Die Liste der Fehlschläge wurde immer länger. Einige Stellen scheiterten an einer fehlenden Approbation. In einer Klinik in Rheinland-Pfalz sagte man ihr, dass ihr Akzent eine einwandfreie Kommunikation mit den Patienten verhindere. Sie suchte einen Logopäden auf, um etwas dagegen zu tun. "Der hat mich aber nicht genommen, weil ich gesund sei."

Schließlich wurden ihre Ausdauer und Hartnäckigkeit aber doch belohnt, als sie im Jobcenter einen Bildungsanbieter entdeckte, der Psychologen für verschiedene Einrichtungen in Sachsen-Anhalt suchte. Die Arbeit bestand aus der Berufsvorbereitung für Rehabilitanden. "Das war der Traumjob für eine spanische Psychologin", sagt Llorente. Diesmal ging alles recht schnell und unkompliziert. Sie bekam eine Stelle in Stendal. Das bedeutet nun, jeden Tag um 4.45 Uhr aufzustehen und täglich vier Stunden mit dem Zug zu pendeln. Doch die Spanierin ist nach den ersten Wochen glücklich: "Es lohnt sich." Und die Zeit im Zug lasse sich gut nutzen. Elena Llorente blickt heute auf zwei bewegte Jahre in Deutschland mit "sol y sombra", Licht und Schatten, zurück. Häufig spricht sie über ihre Erfahrungen auch mit Freunden aus der Heimat. Viele spielen ebenfalls mit dem Gedanken, ihre berufliche Zukunft in Deutschland zu suchen. Elena Llorentes Rat ist derselbe geblieben: "Lernt Deutsch, lernt Deutsch."

Ausreichende Kenntnisse in der Landessprache nennen Wissenschaftler als einen Schlüsselfaktor nicht nur für die Kommunikation am Arbeitsplatz, sondern auch für eine erfolgreiche Integration in das neue private Umfeld. Denn lässt sich womöglich gerade bei qualifizierten Arbeitskräften wie Ingenieuren dienstlich noch vieles auf Englisch bewältigen – spätestens im örtlichen Sportklub oder im Gesangverein hat man in der Regel ohne Landessprache kaum eine Chance dazuzugehören. Die Sprache dürfte auch ein Grund dafür sein, dass ein Großteil der ausländischen Zuwanderer nicht aus dem Mittelmeerraum, sondern nach wie vor aus Mittel- und Osteuropa stammen. Denn in vielen dieser Länder wird Deutsch noch als Fremdsprache an der Schule unterrichtet, gibt es deutschstämmige Bevölkerungsgruppen und gemeinsame kulturelle Wurzeln. Zudem hat Deutschland mit Tschechien und Polen lange gemeinsame Grenzen.

Deshalb bemühen sich gerade die ostdeutschen Bundesländer seit Jahren verstärkt um Arbeitskräfte aus den (süd-)östlichen Nachbarländern. Hier ist der demografische Wandel schon heute deutlich spürbar. Denn nach der Wende brachen die Geburtenraten in Ostdeutschland regelrecht ein. Weil die wirtschaftlichen Perspektiven äußerst vage waren, setzten die Menschen deutlich weniger Kinder in die Welt. Die Bevölkerung in Ostdeutschland schrumpft deshalb heute deutlich stärker als im Westen, wozu auch die anhaltende Binnenwanderung ihren Teil beiträgt. Im Westen sitzen die attraktiveren Arbeitgeber, welche die höheren Löhne zahlen. Im Osten dagegen werden zunehmend Schulen geschlossen und die Auszubildenden knapp, weshalb die Unternehmen und Betriebe ihre Fühler mehr und mehr ins Ausland ausstrecken. Auf den steigenden Druck am Lehrstellenmarkt hat die Industrie- und Handelskammer (IHK) in Erfurt mit einem besonderen Projekt reagiert und wirbt Azubis aus Mittel- und Osteuropa für Unternehmen in Thüringen an. Andernfalls drohte ein Drittel der Lehrstellen unbesetzt zu bleiben, beschrieb der Hauptgeschäftsführer Gerald Grusser die Situation. Den Anfang machten mehr als drei Dutzend junge Frauen und Männer aus Ungarn und Tschechien.

Viktor Oláh ist 21 Jahre alt und kommt aus Csongrád, einer Kleinstadt mit weniger als 20.000 Einwohnern im Südosten Ungarns. Dort hat er Abitur gemacht und eine Prüfung zum Maschinenbautechniker abgelegt. Eine angemessene Arbeit fand er in der Region jedoch nicht. Dazu hätte er wohl in die Hauptstadt Budapest gehen müssen oder in den stärker industrialisierten Westen des Landes, schätzt er. "Ob ich 100 Kilometer wegziehen muss oder 1.000, das war letztlich auch egal", sagt Oláh. Deshalb setzte er sich ernsthaft mit dem IHK-Projekt auseinander, von dem er in der Berufsschule gelesen hatte. "Die deutsche Industrie hat in Ungarn einen sehr guten Ruf", sagt Oláh. Sein Entschluss habe deshalb bald festgestanden, zusammen mit einem Freund an dem Projekt teilzunehmen.

Oláh hat sich für eine Ausbildung zum Zerspanungstechniker entschieden. Er arbeitet für Feuer Powertrain in Nordhausen, ein Hersteller von Kurbelwellen. Grundkenntnisse in Deutsch hatte er in der Schule gelernt. Dazu kamen Sprachkurse in Thüringen und in Budapest. Alle Programmteilnehmenden müssen diese Vorbereitung durchlaufen. "Die ersten drei Monate fielen mir dennoch sehr schwer", blickt Oláh zurück. Doch mittlerweile habe er das Gefühl, in seiner Wahlheimat angekommen zu sein. Er wohnt in einem Wohnheim in Nordhausen und hat mittlerweile auch einige Freunde gefunden. Seine Arbeitserfahrungen bezeichnet er als positiv. Der Ungar ist voll des Lobes über die modernen Maschinen, an denen er arbeitet. Der Maschinenpark sei viel besser als in ungarischen Firmen, hier könne man mehr lernen. Sein Azubi-Gehalt sei dreimal so hoch wie ein vergleichbares in Ungarn, die Lebenshaltungskosten dagegen ähnlich. "Ich will nach der Ausbildung in Deutschland bleiben", sagt Oláh deshalb. Das Interesse an seiner Arbeit sei in seiner Heimat nicht zuletzt wegen des Lohns und der Perspektiven groß. "Wenn ich das erzähle, wollen meine Freunde auch kommen." Für Ungarn sieht Oláh daraus gewaltige Probleme entstehen. "Wenn es so weitergeht, gibt es in zehn Jahren in einigen Regionen keine Facharbeiter mehr."

Für Uwe Locklair stellen sich dagegen ganz andere Probleme. Die 500 Mitarbeiter von Feuer Powertrain in Nordhausen sind gut ausgelastet. Der Personalnachschub macht dem Ausbildungsleiter jedoch Probleme. "Anzahl und Qualität der Bewerber haben in den vergangenen Jahren stark abgenommen", sagt Locklair. Deshalb habe man 2012 auch spontan beim IHK-Projekt mitgemacht. Eigentlich wollte man nur einen Kandidaten nehmen, aber daraus sind dann zwei geworden. Die Voraussetzungen waren einfach zu gut. Viktor Oláh habe schließlich Abitur. "So jemanden kriegt man hier kaum noch", sagt Locklair. "Der Geburtenknick ist jetzt da."

Gerade einmal seit ein paar Wochen ist Marta Dankowska in Deutschland. Die junge Polin hat im Mai ihr Abitur gemacht und kurz vorher eine parallele Ausbildung zur Hotelfachfrau erfolgreich beendet. Sie kommt aus der Nähe von Kattowitz und geht davon aus, dass sie auch in Schlesien eine Arbeit gefunden hätte. Aber der Schritt ins Ausland hat sie gelockt, zumal sie zuvor schon für drei Praktika in Deutschland gewesen war. "Als ich von dem Projekt gehört habe, wollte ich unbedingt mitmachen." Seit Anfang September wird sie im Hotel an der Therme in Bad Sulza zur Hotelfachfrau ausgebildet.

Polen ist nicht nur das einwohnerreichste der neuen EU-Mitgliedsländer aus der Region. Es stellt auch immer noch das größte Reservoir für Einwanderer nach Deutschland dar. Den Angaben des Statistischen Bundesamtes zufolge kamen 2012 fast 177.000 Polen nach Deutschland. Dahinter folgten Rumänen (116.000) und Bulgaren (59.000). Zum Vergleich: Trotz der hohen Zuwächse kommen Griechen und Spanier zusammengenommen gerade mal auf 75.000. Allerdings führen die Polen das Feld auch bei den Fortzügen der Ausländer aus Deutschland an. Rund 108.000 Fortzügler, darunter viele Saisonarbeiter, bedeuten im Saldo jedoch noch immer einen deutlichen Zuwachs an Migranten.

Obwohl sie erst einige Wochen in Deutschland ist, spricht Marta Dankowska schon sehr gut Deutsch. Geholfen hat ihr dabei ausgerechnet das deutsche Fernsehen, wie sie lachend erzählt. Denn in den schlesischen Gebieten Polens, wo der Großteil der deutschen Minderheit lebt, habe sie zum Beispiel den Kinderkanal von ARD und ZDF empfangen können. Außerdem hätten die Großeltern mit ihr geübt und die Deutschkenntnisse aus drei Jahren Unterricht vertieft. Ihre ersten Erfahrungen am neuen Arbeitsplatz haben sie bislang beeindruckt. Im Hotel an der Therme durchläuft sie alle Bereiche von der Arbeit im Restaurant bis zum house keeping. Derzeit sammelt sie Erfahrung an der Rezeption. In Polen wäre die Ausbildung nicht so breit, glaubt sie, dafür vieles spontaner, auch die Arbeitszeiten. "Hier weiß ich, wo mein Platz ist." Obwohl sie gerade erst angefangen hat, ist sich die junge Frau schon sicher, dass sie wie der Ungar Viktor Oláh nach der Ausbildung in Deutschland bleiben möchte. Auch unter ihren Freunden sind einige, die mit dem Sprung nach Deutschland liebäugeln. Marta Dankowskas Rat lautet, sich vorher ehrlich zu fragen, wie ernst das Ganze gemeint ist. "Man braucht den festen Willen, es schaffen zu wollen", sagt sie; man dürfe nicht im Hinterkopf haben, dass man nach zwei Wochen ja auch wieder nach Hause zurückkehren könne, wenn es einem nicht gefällt. Mit einer solchen Einstellung schaffe man es bestimmt nicht. Außerdem müsse man offen auf die neue Umgebung zugehen. Sie ist zwar erst seit Anfang September 2013 in Thüringen, hat aber schon einige Freundschaften geknüpft. Vor allem ihre Mitbewohner in einer Wohngemeinschaft helfen ihr bei der Eingewöhnung. Auch die Lehrer in der Berufsschule hätten sie von Anfang an ermutigt nachzufragen, wenn sie etwas nicht verstehe. Das sei bislang aber nur selten nötig, sagt sie.

Den guten bisherigen Eindruck kann auch Heike Schäfers-Gurski bestätigen. Sie ist die Ausbildungsleiterin im Hotel an der Therme und hat schon Erfahrungen mit drei ungarischen Projektteilnehmern aus dem Vorjahr gesammelt. Den Rückgang an Bewerbern hat sie in den vergangenen Jahren ebenfalls miterlebt. "Früher hatte ich zu jedem Ausbildungsjahr rund 40 Bewerbungen für die Hotelberufe auf dem Tisch liegen", sagt Schäfers-Gurski, "heute bin ich bei zehn schon glücklich." Deshalb sei das IHK-Projekt eine gute Alternative.

Die Betreuung der ausländischen Auszubildenden gehe jedoch weit über den üblichen Aufwand hinaus, sagt Schäfers-Gurski: "Man ist hier auch ein bisschen der Mama-Papa-Ersatz." Vor allem zu Beginn der Lehre fallen viele organisatorische Erledigungen an: Die jungen Leute brauchen eine Krankenkasse, ein Konto bei einer örtlichen Bank und müssen beim Einwohnermeldeamt registriert werden. Für Marta Dankowska wurde ein möbliertes Zimmer in einer Wohngemeinschaft angemietet. Ein Jahr zuvor war Schäfers-Gurski mit den Ungarn sogar noch Möbel kaufen. Zudem muss sie deutlich mehr Ansprechzeit einplanen als üblich. "Ein deutscher Azubi kommt am Anfang mal mit ein paar Fragen und danach war es das meistens", sagt die Ausbilderin. Für die Programmteilnehmer müsse sie jeden Tag ansprechbar sein. Auch müsse der intensive Austausch mit der Berufsschule und der Kontakt zu den anderen Azubis im Austauschprogramm gehalten werden, damit niemand fern der Heimat vereinsame. Dafür erhalte sie von den Teilnehmenden aber auch eine Menge zurück: "Die Motivation ist eine ganz andere als bei vielen Deutschen", sagt sie. Die Ungarn und Polen hätten schließlich eine bewusste Entscheidung getroffen, bevor sie diesen Weg gegangen sind. Von hiesigen Bewerbern bekomme sie dagegen öfter mal Sätze zu hören wie: "Ich habe halt nichts anderes gekriegt." Und auch wenn sie in jedem Vorstellungsgespräch darauf hinweise, dass das Arbeiten an Wochenenden und Feiertagen zu niedrigem Verdienst die Regel sei, würden den meisten die Ausmaße dieser branchentypischen Belastungen doch erst im Laufe der Zeit bewusst. Dementsprechend hoch seien die Abbrecherquoten für die Hotelberufe. Dagegen falle die Einstellung der Ausländer ganz anders aus. "Sie haben sich bewusst für Deutschland entschieden und dafür viel aufgegeben", sagt Schäfers-Gurski. Das spüre man jeden Tag.

Ressortleiter "Beruf und Chance" der Wirtschaftsredaktion, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Hellerhofstraße 2–4, 60267 Frankfurt/M. E-Mail Link: s.astheimer@faz.de