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Außenpolitik und gesellschaftliche Entwicklung in Südafrika und Brasilien | BRICS | bpb.de

BRICS Editorial Realität oder Rhetorik? Hoffnung auf eine gerechte Weltordnung Deutschland, Europa und die neuen Gestaltungsmächte Brasilien: Sozialer Fortschritt, demokratische Unruhe und internationaler Gestaltungsanspruch Russland und seine Rolle in den BRICS Indien: Unentschlossen im Club China: Aus den BRICS herausgewachsen? Außenpolitik und gesellschaftliche Entwicklung in Südafrika und Brasilien

Außenpolitik und gesellschaftliche Entwicklung in Südafrika und Brasilien

Britta Rennkamp

/ 14 Minuten zu lesen

Die globale Wirtschaftskrise ist inzwischen auch in den BRICS-Staaten angekommen. In den ersten Krisenjahren galten die Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika als relativ resistent gegenüber dem Einbruch der Finanzmärkte in den USA und Europa. Teilweise profitierten die Märkte in diesen Ländern sogar von der Krise, da sie für internationale Investoren nun lukrativer wurden. Vom Wirtschaftswachstum wurden neben den etablierten Oberschichten vor allem die neuen Mittelschichten begünstigt, die in Brasilien und teilweise auch in Südafrika in den vergangenen Jahren herangewachsen sind.

Aus der Gesellschaftsforschung ist die Bedeutung der gesellschaftlichen Mitte bekannt. Die Wählerschaft der Mitte wird von den politischen Parteien stark umkämpft, hier entscheiden sich Stabilität und Wandel einer Gesellschaft und häufig auch der Ausgang von Wahlen. In diesem Aufsatz befasse ich mich mit der Frage nach der Bedeutung der gesellschaftlichen Mitte in wirtschaftlichen Boom- und Krisenzeiten für politische Stabilität und Wandel in zwei außenpolitisch gut verankerten BRICS-Staaten, Brasilien und Südafrika. Im Zentrum steht dabei die Frage nach dem Verhältnis von außenpolitischer Präsenz, sozioökonomischer Entwicklung und gesellschaftlicher Stabilität. Südafrika und Brasilien gelten als Regionalmächte mit einer Vorreiter- und Pionierrolle in ihrer jeweiligen Region. Daher sind sowohl die innen- als auch die außenpolitischen Entwicklungen in beiden Ländern von regionaler und globaler Bedeutung. Inwiefern ergibt sich hier eine Diskrepanz zwischen der außenpolitischen Rolle beider Länder, ihrer Wirtschaftskraft und ihrem sozialen Zusammenhalt? Sind die neuen Mittelschichten durch die Wirtschaftskrise wieder absturzgefährdet? Mit welchen politischen Konsequenzen müssen wir rechnen? Sowohl in Brasilien als auch in Südafrika wird 2014 gewählt. In der Vergangenheit gab es viele internationale Analysen, welche die Wirtschaftskraft für Anleger anpries, während die inländischen Berichte wesentlich nüchterner ausfielen.

Außenpolitischer Wandel

In den außenpolitischen Strategien der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff und des südafrikanischen Präsidenten Jacob Zuma lassen sich einige Parallelen ablesen. Bei beiden lässt sich zum Beispiel der Versuch einer Balance zwischen Kontinuität und vorsichtiger Neuausrichtung erkennen. Die Vorgänger der jetzigen Amtsinhaber – Ignácio Lula da Silva in Brasilien (2003–2011) und Thabo Mbeki in Südafrika (1999–2008) – gestalteten die Außenpolitiken ihrer Länder in den frühen 2000er Jahren ganz neu. Damals wurden die Grundsteine für die heutigen Süd-Süd-Kooperationsforen gelegt. Beide verfolgten dabei eine stark von ihnen persönlich geprägte Außenpolitik, jedoch mit sehr unterschiedlichem Ergebnis. Lula da Silva genießt heute noch hohe Anerkennung und Beliebtheit, während Mbeki die innenpolitischen Missstände vor allem in der Energie- und der Gesundheitspolitik so vernachlässigte, dass er 2008 den Parteivorsitz im African National Congress (ANC) verlor und damit die Legitimation für sein Präsidentenamt. Nach einem kurzen Zwischenspiel von Kgalema Motlanthe im Amt übernahm im Mai 2009 Jacob Zuma die Präsidentschaft.

Lulas grand strategy sah eine Abkehr von der klassischen Kooperation vor allem mit Europa und den USA und eine verstärkte Hinwendung zu Afrika und dem globalen Süden vor. Dieser Kurswechsel führte zu einer vielfältigeren internationalen Zusammenarbeit mit neuen Kooperationspartnern und -foren. Die Elemente dieser außenpolitischen Neuausrichtung waren Wirtschaftsdiplomatie, regionale und Süd-Süd-Kooperation sowie Multilateralismus, um ein multipolares internationales System zu stärken.

Als Nachfolger Nelson Mandelas, des ersten Präsidenten nach Überwindung des Apartheidsystems, setzte Mbeki sein außenpolitisches Augenmerk ebenfalls auf Afrika und Süd-Süd-Kooperation. Mandelas Amtszeit (1994–1999) dagegen war zunächst eine Phase außenpolitischer Neuorientierung und politischen Lernens gewesen, nachdem das Land nach jahrzehntelangen Sanktionen als Folge des rassistischen Minderheiten-Regimes wieder in die internationale Gemeinschaft aufgenommen worden war. Mbeki rief wiederholt dazu auf, die südafrikanische Außenpolitik auf "zwei Beine zu stellen". Das bedeutete, sich von der traditionellen Zusammenarbeit mit dem Norden strategisch zu emanzipieren und die Kooperation mit den Entwicklungsländern auszuweiten. Im Zentrum der Süd-Süd-Kooperation standen zwei Ansätze: Erstens die "afrikanische Renaissance" mit dem Ausbau interafrikanischer Institutionen wie der Afrikanischen Union (AU) und der Entwicklungsgemeinschaft des Südlichen Afrikas (SADC), und zweitens die sogenannte Schmetterlingsstrategie, die mit Afrika im Zentrum die Zusammenarbeit mit Asien und Lateinamerika stärken sollte. Mbekis rückständige Gesundheitspolitik – er bestritt hartnäckig einen Zusammenhang von HI-Virus und AIDS – kostetet ihn jedoch auch international einiges an Ansehen.

Beide Präsidenten, Thabo Mbeki und Lula da Silva, sorgten für einen Umschwung und eine Neuausrichtung der Außenpolitik mit einem starken Fokus auf die Zusammenarbeit zwischen Entwicklungsländern. Ihre Nachfolger und heutigen Amtsinhaber, Jacob Zuma in Südafrika und Dilma Rousseff in Brasilien, setzen beide auf Kontinuität in der Außenpolitik und konzentrieren ihre Aufmerksamkeit allerdings stärker auf innenpolitische Themen. Es lässt sich somit in beiden Fällen eine Abkehr von der aktiven "präsidentiellen" Diplomatie beobachten.

Kooperationsforen

In den vergangenen zehn Jahren haben sich Südafrika und Brasilien außenpolitisch immer enger mit Indien, China und Russland verbunden. Als die Bank Goldman Sachs 2001 in ihrem Bericht über die BRICs vorhersagte, dass Brasilien, Russland, Indien und China mit ihrer gemeinsamen Wirtschaftskraft die Triade aus Europa, USA und Japan bis 2050 in sämtlichen Wirtschaftsindikatoren überholen würden, hatte wohl niemand damit gerechnet, dass diese Gruppe einmal zu einer politischen Institution werden würde. Das kleine "s" stand damals noch für den Plural. Weihnachten 2010 erhielt Südafrika die Einladung, der Gruppe beizutreten. Doch bis heute gilt es eher als Juniorpartner. Seine Wirtschaftskraft und Bevölkerungsgröße sind ein Viertel derer Brasiliens. Aber auch Brasilien ist klein im Vergleich zu den Flächenstaaten Indien und China mit ihren Milliardenbevölkerungen.

Trotz der Unterschiede zwischen den fünf Ländern haben ihre Präsidenten auf den jährlichen Gipfeln, die bisher in jedem BRICS-Land reihum einmal stattfanden, ausreichende Gemeinsamkeiten ausloten können. Nach dem fünften BRICS-Gipfel im südafrikanischen Durban im März 2013 wurde die Rolle der Gruppe als Wirtschaftsinteressenverband deutlicher. So wurden in der sogenannten eThekwini-Erklärung des Durbaner Gipfels vier Hauptresultate festgehalten: erstens das Vorhaben einer gemeinsamen BRICS-Entwicklungsbank, zweitens einen Fonds für unvorhergesehene Ausgaben (Contingent Reserve Agreement, CRA), drittens einen Rat für Unternehmen und Handel (Business Council) und viertens einen weiteren Rat für die Zusammenarbeit von Think-Tanks in den fünf Ländern.

Zwar konnten sich die BRICS noch nicht auf einen Standort für die gemeinsame Entwicklungsbank einigen, aber am Rande des G20-Gipfels in St. Petersburg im September 2013 wurden mittlerweile die finanziellen Zusagen für den CRA konkretisiert. Die Finanzierung des zunächst geplanten Volumens von 100 Milliarden US-Dollar wurde folgendermaßen aufgeteilt: Russland, Brasilien und Indien zahlen jeweils 18 Milliarden, China übernimmt den größten Anteil von 41 Milliarden, und Südafrika trägt fünf Milliarden US-Dollar bei. Der Fonds, der auf einen Vorschlag Brasiliens im Jahr 2012 zurückgeht, ist eine Vorsichtsmaßnahme: Sollte eines der fünf Länder in Liquiditätsschwierigkeiten geraten, soll der CRA stabilisieren.

Die BRICS-Entwicklungsbank ist für die Gruppe wichtig, um ein Gegengewicht zu der Vormachtstellung Europas und der USA in den bestehenden Finanzstrukturen zu schaffen. Die Schwellenländer kritisieren nicht nur die in ihren Augen ungerechte Stimmrechtsverteilung im Internationalen Währungsfonds (IWF), sondern auch die Vormachtstellung Europas und der USA in den IWF-Leitungsgremien. Auch nach der Stimmrechtsreform von 2010 (der damalige südafrikanische Finanzminister Trevor Manuel leitete die Reformkommission), ist die Kritik nicht verstummt, da die Mehrheit der Stimmrechte nach wie vor an die USA und europäische Länder geht. Die Krise in Europa hat es den Schwellenländern, vor allem China und Brasilien, aber ermöglicht, sich stärker innerhalb des IWF zu etablieren und in die Rettungspakete des IWF für die südeuropäischen Länder einzuzahlen. Die Unterstützung aus den Schwellenländern für Europa war ein Zeichen der wirtschaftlichen Machtverschiebungen der sich abzeichnenden neuen Weltordnung, die zehn Jahre vorher in dem BRIC-Papier von Goldman Sachs und in anderen Analysen ansatzweise antizipiert wurde.

Die Schwerpunktsetzung der BRICS-Gruppe auf die Umstrukturierung der globalen Finanzarchitektur ist in den zurückliegenden zwei Jahren deutlicher geworden. Zwar gibt es eine lange Liste für weitere angestrebte Kooperationsvorhaben, aber seit dem Gipfel von Durban gibt es erstmals konkrete Pläne zur Bildung gemeinsamer Institutionen zur finanziellen Zusammenarbeit. Der Fokus auf diesen Politikbereich ist auch im Hinblick auf das Alleinstellungsmerkmal der Gruppe gegenüber anderen Gruppierungen wichtig. In den frühen Tagen der BRICS gab es noch Ungewissheit über die Beziehungen der Gruppe zu den G7/G8, der Gruppe der damals bedeutendsten Industrienationen, die auch Russland und das krisengeschüttelte Italien umfassen. Mittlerweile haben sich die G20, in denen auch die BRICS-Länder vertreten sind, als bedeutendstes Entscheidungsforum für die Reformen der internationalen Finanzarchitektur herauskristallisiert. Diese Entwicklung zeigt, dass die traditionell beziehungsweise ehemals führenden Industrienationen wichtige Entscheidungen nicht mehr alleine treffen können und die G7 und G8 allmählich obsolet werden.

In den IBSA- und BASIC-Foren kooperieren Brasilien und Südafrika trilateral mit Indien beziehungsweise multilateral mit Indien und China. Dabei hat sich das IBSA-Forum zwischen Indien, Brasilien und Südafrika mit einem eigenen Fonds zur Forschungsförderung vor allem als Plattform für Wissenschafts- und Technologiekooperation etabliert. Ursprünglich hatte die Zusammenarbeit zwischen den drei Ländern ebenfalls als strategische Gegenmachtbildung begonnen. Die drei Länder bemühten sich damals gemeinsam mit Japan und Deutschland um einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Das IBSA-Forum besteht inzwischen seit zehn Jahren und ist damit das älteste und kleinste der neuen Kooperationsforen.

Die BASIC-Gruppe aus Brasilien, Südafrika, Indien und China kristallisierte sich bei den Verhandlungen auf der 15. UN-Klimakonferenz 2009 in Kopenhagen heraus und besteht als Ministerial- und Expertenforum fort. Die Gruppe ist zu einem bedeutenden Pol der Gegenmachtbildung gegenüber der klimapolitisch aktiven Europäischen Union und der Allianz der Industriestaaten USA und Japan geworden, die sich gegen ein neues Klimaabkommen aussprechen. Innerhalb des Blocks der Entwicklungs- und Schwellenländer (G77) haben die BASIC-Länder eine Art Lokomotivfunktion übernommen. Dennoch sind sie sich in ihren Positionen nicht immer einig. Die indische Delegation etwa nahm die südafrikanische Forderung nach CO2-Emissionsreduktionszielen für alle Staaten im Vorfeld der 19. Klimakonferenz in Warschau (November 2013) skeptisch auf. Insgesamt zeigt sich, dass sowohl Brasilien als auch Südafrika aktiv zur Ausgestaltung neuer Allianzen für die Gegenmachtbildung beitragen, auch wenn Südafrika bei finanziellen Zusagen in den BRICS nach wie vor ein Juniorpartner bleibt.

Soziale Entwicklungen

Sowohl in Brasilien als auch in Südafrika hat sich das wirtschaftliche Wachstum im vergangenen Jahr verlangsamt. Der brasilianische Wirtschaftsboom hatte zuvor ungefähr drei Jahre angedauert. Wachstumsraten von acht bis zehn Prozent gekoppelt mit einem seit 2002 laufenden Programm zur Reduzierung von extremer Armut trugen merklich zur Umstrukturierung der brasilianischen Gesellschaft bei. Doch Brasilien galt, ähnlich wie Südafrika, auch als Rekordmeister in Sachen ökonomischer Ungleichheit. Im Laufe der zurückliegenden fünf Jahre haben sich die Werte hinsichtlich ökonomischer Ungleichheit für Brasilien deutlich verbessert. Den politischen Erfolg schrieb sich die Arbeiterpartei (PT) auf die Fahnen, die unter Lula da Silva ein Cash-Transferprogramm für Familien großflächig ausweitete. Lulas Nachfolgerin Rousseff hat diese Sozialpolitik fortgesetzt und die Anstrengungen für ein "Brasilien ohne Armut" verstärkt. Trotz des anhaltenden Wachstums und der sozialpolitischen Fortschritte machte aber gerade die gewachsene Mittelschicht Rousseff zunächst einen Strich durch die Rechnung, als vor allem sie im Sommer 2013 protestierend auf die Straße ging.

Die südafrikanische Wirtschaft hingegen wurde bereits ab Ende 2008 mit negativen Wachstumszahlen von der globalen Wirtschaftskrise beeinträchtigt. Das Wachstum erholte sich danach jedoch wieder und pendelte zwischen 4,8 Prozent im Jahr 2010 und 0,9 Prozent im Jahr 2013. Die hohe Arbeitslosigkeit von 25 Prozent, unter Jugendlichen sogar 50 Prozent, sind die Hauptursache von Armut und Ungleichheit in Südafrika.

In beiden Ländern ist der Ruf nach Reformen groß. In Südafrika fehlt es an strukturierten Berufsausbildungsprogrammen, um die Zahl ungelernter Arbeitskräfte zu reduzieren und die Wirtschaftsstrukturen langfristig von einer rohstoffexportierenden Ökonomie auf eine technologie- und wissensintensivere Volkswirtschaft umzustellen. In Brasilien sind die hohen Steuern, der schwere Bürokratieapparat und die hohen Verschuldungsraten Auslöser für die Besorgnis internationaler Analysten. Eines der Hauptprobleme ist auch die hohe Verschuldungsrate der privaten Haushalte. Die Mittelschichten sind zwar gewachsen, aber sie leben auf Pump. Brasilianische Haushalte verwenden inzwischen fast die Hälfte ihres Einkommens auf den Schuldendienst. Da die Haushalte so kaum sparen können, steht der wirtschaftliche Aufstieg der Mittelschichten auf einem instabilen Fundament.

Auch in Südafrika ist der Schuldendienst im Vergleich zum Gesamteinkommen mit 7 bis 12 Prozent vergleichsweise hoch. Im Vergleich zu Brasilien erscheint dies gering, aber auch hier hat die Verschuldung vor allem beim Kauf von Konsumgütern stark zugenommen. Sowohl die Verschuldung als auch die Zinsen sind insbesondere in den unteren Einkommensschichten proportional höher.

Die hohe Einkommensungleichheit wirkt sich auch auf den sozialen Zusammenhalt aus. Sowohl in Brasilien als auch in Südafrika gab es im zurückliegenden Jahr schwere soziale Proteste. In Südafrika gibt es diese zwar kontinuierlich, aber nicht flächendeckend wie im Sommer 2013 in Brasilien. Im südafrikanischen Marikana kamen im Herbst 2012 bei Bergarbeiterstreiks 34 Arbeiter und zwei Polizisten ums Leben. Die dramatischen Vorfälle warfen Fragen nach der Kompetenz der Polizei, aber auch der Ungleichheiten und Unwirtschaftlichkeit der Erzbergwerke im Norden des Landes auf. Die Landarbeiteraufstände am Kap wenige Wochen später zeigten die Ungleichheit in der landwirtschaftlichen Industrie, die durch einen Billiglohnsektor implizit subventioniert wird. Es kam zu gewalttätigen Ausschreitungen unter Saisonarbeitern, die einen Mindestlohn von umgerechnet 15 US-Dollar pro Tag forderten und am Ende zehn Dollar zugesagt bekamen. Die Proteste in den Townships und informellen Siedlungen, deren Bewohner service delivery fordern, also die Bereitstellung grundlegender Infrastruktur in Form von Sanitäranlagen, Wohnraum, Wasser und Strom, gehören in Südafrika mittlerweile zum Alltag.

Perspektiven vor den Wahlen

In Südafrika wird nach wie vor vielfach vor allem entlang der Hautfarbe gewählt, was insbesondere der Democratic Alliance (DA) Probleme bereitet, neben weißen und "farbigen" Wählern auch die Stimmen schwarzer Wähler zu erreichen. Zwei neue Parteien haben sich 2013 gegründet, Agang und die Economic Freedom Fighters (EFF). Sie zielen auf die frustrierte ANC-Wählerschaft. Beiden Parteien fehlt jedoch noch ein konkreter Fokus, und sie werden es kaum schaffen, dem ANC und dem Amtsinhaber Jacob Zuma 2014 die Mehrheit streitig zu machen.

In Brasilien haben sich in den vergangenen sechs Monaten soziale Unruhen flächendeckend in vielen urbanen Zentren des Landes ausgebreitet. Die zunächst von Preiserhöhungen im öffentlichen Verkehrswesen in São Paulo und Rio de Janeiro ausgelösten Proteste richteten sich rasch auch gegen vieles andere. Neben dem Nahverkehrswesen und der Infrastruktur insgesamt wurden bald auch Bildung und die Gesundheitsversorgung zu Hauptthemen der Proteste. Aber auch die Energiepolitik und die Frage, wie die Gewinne aus den neuen Ölvorkommen gerecht investiert werden können, dienen als Auslöser für Protestaktionen.

In den ersten Wochen der Protestwelle demonstrierten hauptsächlich Jugendliche und Studenten. Viele Linke, zu denen auch Präsidentin Rousseff selbst zählt, fanden sich an ihre Jugendtage als Protestler gegen die Militärdiktatur in den 1970er und 1980er Jahren erinnert. Bald traten auch Professoren- und Lehrerverbände, Arbeitergewerkschaften und Menschen aus den unteren Einkommensschichten dazu. Doch es geht in Brasilien heute nicht darum, ein illegitimes Regime zu stürzen. Im Gegenteil: Umfragen zufolge befürworten 42 Prozent der Brasilianer eine Wiederwahl Dilma Rousseffs im kommenden Jahr. Nach den jüngsten Umfragewerten würde sie sich bereits im ersten Wahlgang gegen Aecius Neves von der Oppositionspartei der brasilianischen Sozialdemokratie (PSDB) und Eduardo Campos, den Kandidaten der Sozialistischen Partei Brasiliens (PSB), durchsetzen. Neves und Campus kämen derzeit nur auf 21 beziehungsweise 15 Prozent der Stimmen. Die ehemalige PT-Anhängerin und Kandidatin der Grünen Partei, Marina Silva, konnte sich nicht rechtzeitig registrieren und unterstützt nun Campus. Eine weitere Absplitterung der Linken hätte Rousseffs Wiederwahl möglicherweise gefährdet.

In der Hochphase der Proteste, im Juni und Juli 2013, waren die guten Umfragewerte für Rousseff zwar kurz eingeknickt – aber dennoch: Was macht eine Präsidentin, die sich mit den größten politischen Protesten in den vergangenen 30 Jahren auseinandersetzen muss, so beliebt? Die Antwort auf diese Frage liegt in der Natur der Proteste: Sie waren Ausdruck einer Systemkritik, die sich nicht gegen eine bestimmte Regierung oder eine bestimmte Person richtete. Denn Brasiliens politisches System ist föderal, entsprechend fragmentiert sind die Zuständigkeiten. Viele politische Bereiche, etwa Infrastruktur und Straßenbau, fallen in den Verantwortungsbereich der 27 Provinzverwaltungen, die von Gouverneuren geleitet werden. Andere Bereiche wie das öffentliche Nahverkehrswesen sind Aufgaben der Stadtverwaltungen. Für Gesundheits-, Bildungs-, Außen- und Sicherheitspolitik sowie Energiepolitik ist die Bundesregierung zuständig. Aber auch dies ist nicht völlig konsistent: Für Gesundheits- und Bildungspolitik etwa sind alle drei politischen Verwaltungsebenen verantwortlich. Die Forderungen der Demonstranten betrafen vor allem die Politikbereiche Transport, Infrastruktur, Bildung und Gesundheit und richteten sich somit nur selten gegen einzelne Gouverneure oder die Präsidentin.

Nachdem ihre erste Verunsicherung vorüber war, erkannte Rousseff eine Chance in der Krise und versuchte, den Demonstranten entgegenzukommen. Ende Juni brach sie ihr Schweigen und schlug einen "großen Pakt" für Brasilien vor, um die Forderungen der Demonstranten für ein besseres Brasilien einzubinden. Politiker und die Anführer der friedlichen Protestgruppen sollten zusammenkommen, um diesen Pakt zu entwerfen. Im Oktober 2013 zog die Präsidentin Bilanz und befand: "Das Glas ist immer noch halb voll, mit steigender Tendenz." Für das öffentliche Transportwesen wurden 25 Millionen US-Dollar zusätzlich zur Verfügung gestellt. Weiterhin hat Rousseff versprochen, die Öleinnahmen in Bildung zu investieren, mehr Ärzte aus dem Ausland anzuwerben sowie Maßnahmen gegen die Korruption einzuleiten.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sowohl in Südafrika als auch in Brasilien die aus der Armut emanzipierten Mittelschichten nur dünne oder keine Rücklagen haben. Aufgrund ihrer hohen Verschuldung sind diese Gruppen anfällig und könnten von einer Wirtschaftskrise am stärksten betroffen sein. Weitere Einbrüche im Wirtschaftswachstum beider Länder werden die Diskrepanz zwischen außenpolitischer Vormachtstellung und innenpolitischer Stabilität noch vergrößern. Die Proteste in Brasilien haben ansatzweise Reformen angestoßen. Dilma Rousseffs Wiederwahl ist vor allem deshalb wahrscheinlich, weil die anderen Kandidaten für ein politisches System stehen, gegen das sich die Proteste richteten. Es ist jedoch fraglich, ob Rousseff politisch stark genug sein wird, um weitreichendere Reformen durchzusetzen.

In Südafrika hingegen haben die punktuellen, wenn auch kontinuierlichen Aufstände keinen flächendeckenden Reformprozess anstoßen können. Im 20. Jubiläumsjahr südafrikanischer Demokratie wird sich der aktuelle politische Kurs trotz der neuen Parteigründungen höchstwahrscheinlich fortsetzen. Eine Wiederwahl Jacob Zumas ist in dem De-facto-Einparteiensystem so gut wie gesichert.

Ph.D., geb. 1978; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Energy Research Centre, University of Cape Town/Südafrika; zuvor unter anderem für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Brasilien tätig sowie für das Deutsche Institut für Entwicklungszusammenarbeit (DIE) in Bonn. E-Mail Link: britta.rennkamp@uct.ac.za