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Editorial | Nomaden | bpb.de

Nomaden Editorial Nomaden – Aufbrüche und Umbrüche in Zeiten neoliberaler Globalisierung Herrschaft im kolonialen Raum: Territorialität als Ordnungsprinzip Sesshaftmachung als Unterwerfung – Die kasachischen Nomaden im Stalinismus Truly Nomadic? Die Mongolei im Wandel Der Nomade als Theoriefigur, empirische Anrufung und Lifestyle-Emblem. Auf Spurensuche im Globalen Norden

Editorial

Anne Seibring

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"Das große Heer der Arbeitsnomaden", so betitelte die "Zeit" im Sommer 1962 einen Artikel über die zunehmende Anzahl von Pendlern im Stuttgarter Raum. Von diesen "hin- und herwandernden Arbeitsheeren" gehe eine beträchtliche Beunruhigung aus: "Wenn im Leben seßhafter Bürger nomadenhafte Züge plötzlich solche Bedeutung erlangen, so zeigt dies, daß unsere klassische Raumvorstellung von Stadt und Umland nicht mehr stimmt." Hier offenbart sich, wie sich unsere Vorstellungen von Raum und Mobilität gewandelt haben: Wer täglich zur Arbeit pendelt, wird kaum mehr als Vorreiter mobiler und multilokaler Arbeitsformen wahrgenommen. Heute überwiegt das Bild eines dank digitaler Technologie von Ort und Zeit entbundenen "Arbeitsnomaden".

Mit traditionell nomadisch lebenden und wirtschaftenden Gruppen haben diejenigen, die einen solchen postmodernen Lifestyle praktizieren, fast nichts gemeinsam. Verkürzt dargestellt, zählen letztere zu den Gewinnern, erstere zu den Verlierern einer globalisierten Welt und Wirtschaft. Die Privatisierung von Land entzieht vielen Nomaden althergebrachte Gewohnheitsrechte bei der Nutzung von Weideland; Klimawandel und Umweltzerstörungen engen den Lebens- und Wirtschaftsraum zusätzlich ein. Auf den internationalen Märkten können nur wenige nomadische Nischenprodukte aus Asien und Afrika, etwa die Kaschmirwolle, bestehen.

Öffentliche Verwaltungen und andere staatliche Autoritäten betrachten zudem die Nicht-Sesshaftigkeit permanent oder zyklisch umherziehender Gruppen seit der Frühen Neuzeit oft als rückständig und als Problem für deren bürokratische Erfassung. So stießen etwa während der Kolonialzeit unterschiedliche Raumordnungsvorstellungen aufeinander, als die Europäer ihr Modell des Territorialstaates Gebieten oktroyierten, die stark von nomadischer und halbnomadischer Lebensweise und nicht-territorialen Herrschaftsformen geprägt waren. Ein zweites Beispiel liefert die Sowjetunion der stalinistischen Ära: Hier wurde nicht nur zwangskollektiviert, sondern auch zwangsweise sesshaft gemacht. (Unkontrollierte) Mobilität stand und steht Vorstellungen effektiven Regierens häufig entgegen.