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Dank Autobranche im Turbomodus: Die slowakische Wirtschaft

Gerit Schulze

/ 16 Minuten zu lesen

Trotz schwieriger Startbedingungen hat die kleine Republik zwischen Donau und Tatra in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte abgeliefert. Für deutsche Exporteure ist dieser Markt heute wichtiger als Indien oder Brasilien.

Die Wirtschaft der Slowakei hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine beispiellose Erfolgsgeschichte abgeliefert. Im Schatten des Vorzeige-Reformers Tschechien ist es Bratislava gelungen, den jungen EU-Staat auf Augenhöhe mit dem stets stärkeren Nachbarn in Böhmen und in Mähren zu bringen. Als die beiden Länder 2004 der Europäischen Union beitraten, lag die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung der Tschechischen Republik bei 79 Prozent des EU-Durchschnitts, die Slowakei kam auf gerade einmal 57 Prozent. Heute steht das Verhältnis bei 84 Prozent (Tschechien) und 76 Prozent (Slowakei).

Dabei war die Ausgangslage mehr als schwierig. Tschechien konnte aufbauen auf hundert Jahre Industrietradition: Maschinenbau in Plzeň (Pilsen) und Brno (Brünn), Flugzeugmotoren in Prag, Kohle und Stahl in Ostrava (Ostrau), Textilien in Liberec (Reichenberg), Autos in Mittelböhmen. Der slowakische Landesteil hingegen galt innerhalb der Tschechoslowakei immer als rückständiger, trotz großer Anstrengungen zur Industrialisierung seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Noch 1968 wurde die Aufholdauer der Slowakei gegenüber den tschechischen Landesteilen auf 20 Jahre geschätzt. Die eilige Industrialisierung, die den Rückstand möglichst rasch überwinden sollte, hatte zwischen Košice (Kaschau) und Bratislava (Pressburg) einige Kollateralschäden verursacht. Zu ihnen gehörte die große Abhängigkeit von Rohstoffen aus der ehemaligen Sowjetunion (Gas, Eisenerze, Öl) und die für die meisten Transformationsländer typische einseitige Ausrichtung auf Absatzmärkte im Osten. Die Industrielandschaft vieler Regionen kennzeichnete eine Monostruktur, bei der häufig ein Großbetrieb dominierte. Die Wertschöpfung war in der Regel gering, meist wurden nur Güter mit wenig Verarbeitungsstufen produziert.

Als dann die Föderation mit Tschechien zerfiel und 1993 ein Neustart als souveräner Staat anstand, schien die Ausgangslage eher trist: Zur nicht mehr zeitgemäßen Industrie mit riesigen Metallurgie- und Maschinenbaukombinaten sowie dem starken Fokus auf Rüstungsprodukte kamen nun ausbleibende Transferzahlungen aus Prag und die Abwanderung kluger Köpfe. Durchgehende Verkehrsverbindungen innerhalb des Landes fehlten. Das ausgeprägte ökonomische West-Ost-Gefälle und der kleine Binnenmarkt waren schwere Bürden für den Sprung in die Marktwirtschaft. Die Schocktherapie der Couponprivatisierung, die noch zu tschechoslowakischen Zeiten begonnen hatte, beschleunigte zwar zunächst die Transformation. Doch der nach 1994 zunehmend autoritär regierende Ministerpräsident Vladimír Mečiar nahm das Tempo aus dem Reformprozess. Er stoppte die Öffnung der Wirtschaft und protegierte die großen Staatsbetriebe, deren Management entscheidenden Einfluss auf die Wirtschaftspolitik erlangte. Die Westbindung der Slowakei stand zu diesem Zeitpunkt noch auf der Kippe.

Paukenschlag Flat Tax

Diese Befürchtungen waren jedoch mit dem Amtsantritt der neuen Regierung unter Mikuláš Dzurinda 1998 passé. Er öffnete die Wirtschaft wieder für ausländische Investoren und sorgte mit einem Paukenschlag für Aufmerksamkeit: der Einführung einer Flat Tax per 1. Januar 2004. Einkommen und Unternehmensgewinne wurden nun pauschal mit 19 Prozent besteuert. Ebenso wurde die Mehrwertsteuer auf diesen Satz vereinheitlicht. Experten und Investoren waren begeistert, die Steuereinnahmen begannen zu sprudeln. Da im Mai desselben Jahres die Aufnahme in die EU anstand, startete die Konjunktur des kleinen Landes richtig durch.

In den fünf Jahren nach dem EU-Beitritt verdoppelte sich der Bestand ausländischer Direktinvestitionen, das Bruttoinlandsprodukt legte um über ein Drittel zu. Europäische und asiatische Unternehmen engagierten sich besonders im Fahrzeugbau und der Elektrotechnik, aber auch in der Metall- und Holzverarbeitung, der Kunststoffindustrie oder der Produktion von Baustoffen. Neben dem verarbeitenden Gewerbe war die Bauwirtschaft eine tragende Säule des Wachstums. Erst 2009 kam es im Zuge der globalen Finanzkrise zum ersten Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) seit einem Jahrzehnt. Doch auch von dieser Delle erholte sich die kleine Volkswirtschaft schnell. Anders als im Nachbarland Tschechien geht es seitdem ohne Pause bergauf.

Für 2015 und die kommenden drei Jahre erwartet das Finanzministerium jeweils ein Wachstum von über drei Prozent. Damit setzt sich die Slowakei in der Spitzengruppe der dynamischsten Volkswirtschaften Europas fest und dürfte den Rückstand zum Westen weiter verringern. Allerdings hängt der positive Ausblick von der Entwicklung im Rest Europas ab. Denn die Slowakei hat eine extrem hohe Exportquote von 90 Prozent (Verhältnis der Ausfuhren zum Bruttoinlandsprodukt). Rund 85 Prozent der slowakischen Exporte gehen in die EU. Allein auf Deutschland entfällt mehr als ein Fünftel der Ausfuhren. Umgekehrt bezieht das Tatraland rund 75 Prozent seiner Importe aus dem EU-Raum.

Deutschland ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner. Das Volumen des bilateralen Warenaustauschs wächst seit der Unabhängigkeit des Landes mit überdurchschnittlichem Tempo. Gestartet mit weniger als 1,5 Milliarden Euro im Jahre 1993 erreichten die gemeinsamen Güterströme 2014 bereits einen Wert von über 24 Milliarden Euro. Für deutsche Unternehmen ist die Slowakei als Absatzmarkt heute wichtiger als so große Länder wie Indien, Mexiko oder Brasilien. Sie verkauften 2014 zwischen Donau und Tatra Produkte für rund 11,3 Milliarden Euro. Am meisten gefragt sind deutsche Fahrzeuge und Kfz-Teile, Maschinen und Chemieerzeugnisse.

Wie viele EU-Staaten profitiert die Slowakei vom hohen Bedarf deutscher Unternehmen nach Vorleistungsgütern. Diese Nachfrage sorgt laut einer Studie von Prognos für etwa fünf Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung. Etwa vier Prozent der Beschäftigten hängen direkt von der Nachfrage aus Deutschland ab. Dazu tragen in großem Maße auch die deutschen Investoren in der Slowakei bei, die dort Vorprodukte für ihre Muttergesellschaften herstellen.

Beliebter Investitionsstandort

Die Bedeutung der Slowakei dokumentieren ohnehin nicht mehr nur die Warenströme, sondern immer mehr auch die ausländischen Investitionen vor Ort. Da im Nachbarland Tschechien Gewerbeflächen knapper werden, die Kosten schneller steigen und Personal zunehmend schwieriger zu finden ist, rückt die Slowakei verstärkt ins Blickfeld. Hinzu kommen höhere Investitionsanreize und die Währungssicherheit durch die Mitgliedschaft im Euroraum.

Die Nationalbank in Bratislava verzeichnete Mitte 2015 einen Bestand ausländischer Direktinvestitionen (ADI) von über 52 Milliarden Euro. Die Bundesbank gab den Bestand der mittelbaren und unmittelbaren deutschen ADI in der Slowakei Ende 2013 mit 7,6 Milliarden Euro an. Davon sind 1,8 Milliarden Euro in den Kfz-Sektor geflossen, 800 Millionen Euro in IT und Telekommunikation sowie 500 Millionen Euro in die Energiebranche.

In wichtigen Wirtschaftszweigen dominieren deutsche Investoren heute das Geschehen in der Slowakei. Besonders sichtbar ist das im Einzelhandel mit der Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland), dem Rewe-Konzern (Penny Market, Billa), dm-Drogeriemärkten oder der Metro Group (Cash & Carry Abholmärkte). RWE und Eon sind im Strom- und Gasgeschäft unterwegs. Im Bereich Telekommunikation hat die Deutsche Telekom 2015 vom slowakischen Staat die restlichen 49 Prozent an Slovak Telekom erworben und kontrolliert diese nun komplett. Das Unternehmen ist Marktführer bei Festnetz, Breitband und Bezahlfernsehen. Die meisten deutschen Investitionsprojekte wurden jedoch im Fahrzeugsektor realisiert. Die Leuchtturminvestition von Volkswagen in Bratislava hat viele Zulieferer für die Branche angezogen, unter anderem Continental, INA Schaeffler, Hella, Getrag Ford Transmissions oder ZF Friedrichshafen.

In jüngster Vergangenheit hat sich die Schlagzahl neuer Projektankündigungen in der Automobilindustrie noch einmal erhöht. Autositzspezialist Brose will bei Prievidza (Privitz) in der Zentralslowakei 50 Millionen Euro investieren und 600 Mitarbeiter einstellen. Die koreanischen Teilehersteller Sungwoo und Samhwa Tech kündigten neue Fabriken an. Österreichs ZKW vergrößert die Scheinwerferproduktion in Topoľčany (Topoltschan). Tajco aus Dänemark baut ein Zentrum zur Komplettierung von Auspuffen in Malacky (Malatzka). Honeywell erweitert die Fertigung von Turbogebläsen in Prešov und macht das Werk zur zweitgrößten Anlage weltweit für diese Produkte.

Auch die Automobilkonzerne haben Ausbaupläne. Volkswagen investiert in seine Werkhallen in Bratislava. Unter anderem sind eine neue Montagelinie für SUV-Fahrzeuge, ein Diagnosezentrum sowie eine Teststrecke geplant.

Wichtigste Nachricht des Sommers 2015 war aber die Ankündigung des indisch-britischen Autokonzerns Jaguar Land Rover, in Nitra (Neutra) eine Produktionsstätte für Luxusgeländewagen zu errichten. Die Fabrik soll über eine Milliarde Euro kosten und rund 4.000 Menschen Arbeit bringen. Den geplanten Jahresausstoß gibt Jaguar Land Rover mit bis zu 300.000 Fahrzeugen an, der ab 2018 erreicht werden könnte. Das Unternehmen nannte die dort "etablierte Premium-Automobilindustrie" einen wichtigen Grund für die Standortentscheidung. Schließlich lässt Volkswagen in Bratislava bereits die großen SUV-Modelle VW Touareg und Audi Q7 montieren. Auch das dichte Zuliefernetz in der Nähe des westslowakischen Nitra dürfte Jaguar beeinflusst haben. Hinzu kommen finanzielle Anreize, mit denen die Regierung strategische Investoren anlockt. Laut Wirtschaftszeitschrift Trend könnte der zur indischen Tata Group gehörende Konzern direkte Zuschüsse oder einen Steuernachlass in Höhe von maximal 130 Millionen Euro bekommen. Doch einer der ausschlaggebenden Faktoren dürften die gut ausgebildeten und vergleichsweise günstigen Fachkräfte sein. In der Automobilindustrie liegt der Durchschnittslohn bei 1160 Euro (erstes Halbjahr 2015).

Immer weniger Fachkräfte

Bei der jährlichen Konjunkturumfrage der Deutsch-Slowakischen Industrie- und Handelskammer (DSIHK) unter ausländischen Unternehmen in der Slowakei gehören die Arbeitskosten stets zu den am besten bewerteten Standortfaktoren. Positiv sehen die Manager auch die Produktivität und Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer sowie deren Qualifikation. Größter Standortvorteil ist aus Sicht der befragten (meist deutschen) Unternehmen aber die Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Kaum Bewegung gab es in den letzten Jahren bei den negativ bewerteten Faktoren. Dazu zählen die ausländischen Firmenvertreter die mangelnde Bekämpfung der Korruption, die geringe Transparenz öffentlicher Vergabeverfahren, Probleme mit der Rechtssicherheit und der schwierige Zugang zu EU-Fördermitteln. Immer häufiger wurde zuletzt auch die nachlassende Verfügbarkeit von Personal als Bremsklotz für die Entwicklung genannt. In den Boomregionen wie dem Hauptstadtbezirk ist es schon heute schwierig, Fachkräfte zu finden. Engpässe gibt es bei Informatikern, Elektrotechnikern, CNC-Maschinenfahrern oder Mechanikern. Gesucht werden außerdem Werksleiter mit Fremdsprachenkenntnissen, Controller und Qualitätsmanager.

Gleichzeitig sind aber trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs noch über 11 Prozent der Erwerbsfähigen ohne Arbeit. Der Grund ist häufig eine zu geringe Qualifizierung oder fehlende Mobilität bei der Jobsuche. Oft entspricht die theorielastige Ausbildung nicht den modernen Anforderungen der Wirtschaft. Die Regierung des Landes führt deshalb ein duales Ausbildungssystem nach dem Vorbild der deutschsprachigen Länder ein. Seit dem Schuljahr 2015/16 können Berufsschulen und Unternehmen gemeinsam praxisorientierte Lehrberufe anbieten. Zu den Vorreitern gehören deutsche Investoren wie T-Systems, Volkswagen, Hella oder Vacuumschmelze. Das Interesse der Schüler war zum Start aber gering. Trotz 1440 angebotener Ausbildungsplätze schlossen nur 422 Lehrlinge einen Ausbildungsvertrag nach dem neuen System ab. Auf diesem Gebiet ist noch viel Überzeugungsarbeit nötig, um die Slowakei langfristig als attraktiven Investitionsstandort zu sichern.

Ohnehin schneidet das Land in internationalen Rankings längst nicht so gut ab, wie bei den ausländischen Unternehmen, die bereits vor Ort engagiert sind. Im Global Competitiveness Index des World Economic Forum rangiert die Slowakei 2015 nur auf Platz 67 von 140 untersuchten Volkswirtschaften. Das war zwar ein deutlicher Sprung nach vorn gegenüber dem Vorjahr (Platz 75). Doch die drei wichtigsten Wettbewerber innerhalb der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Ungarn) finden sich in der Tabelle durchweg weiter oben. Selbst vermeintlich schwierige Standorte wie Ruanda oder Kasachstan haben bessere Platzierungen erreicht. Die Autoren des Competitiveness Index kritisieren in der Slowakei vor allem Bürokratie und Korruption, die Steuererhebung und die restriktiven Regulierungen am Arbeitsmarkt. Bei den Themen wirtschaftliche Reife und Innovation belegt das Land nur einen Platz im Mittelfeld.

Besser bewertet der Doing Business Report der Weltbank die Slowakei. Die Studie untersucht die Standortbedingungen für Unternehmen und ordnet das Land 2015 auf Platz 37 von 189 Staaten ein. Damit liegt es vor Tschechien (44) und Ungarn (54). Allerdings hat auch die Weltbank einige Kritikpunkte. Sie betreffen vor allem die Vergabe von Baugenehmigungen (Platz 110), die Steuerpraxis (100) oder die komplizierten Prozesse bei der Gründung einer Firma (77).

Von der einst hoch gelobten Flat Tax ist heute nicht mehr viel übrig. Seitdem die sozialdemokratische Partei Smer-SD 2012 die absolute Mehrheit im Parlament errungen hat, lässt Regierungschef Robert Fico den einheitlichen Steuersatz aushöhlen. Zuerst wurden Besserverdienende zur Kasse gebeten. Sie müssen seit 2013 auf Einkommen, die 35.000 Euro im Jahr übersteigen, 25 Prozent Steuern zahlen. Für Unternehmen kletterte die Körperschaftsteuer 2013 auf 23 Prozent, bevor sie ein Jahr später wieder um einen Prozentpunkt gesenkt wurde. Schließlich führte die Regierung 2014 eine sogenannte Steuerlizenz ein. Diese Mindeststeuer von 480 bis 2.880 Euro müssen alle Unternehmen zahlen, unabhängig davon, ob sie Gewinne erzielen oder nicht. Außerdem wurden unter Premierminister Fico die Beitragsbemessungsgrenzen für die Sozialversicherungen erhöht und das Arbeitsrecht auf Druck der Gewerkschaften reformiert. Die Probezeiten haben sich verkürzt, Kündigungsfristen und Abfindungsregeln im Sinne der Arbeitnehmer wurden angepasst.

Rentner fahren gratis Bahn

Skeptisch beäugt die Wirtschaftswelt auch die ständig neuen "Sozialpakete", die die sozialdemokratische Regierung mit Blick auf das Wählerklientel schnürt. Schließlich stehen im Frühjahr 2016 Parlamentswahlen an. Zu den umstrittenen Maßnahmen zählen kostenlose Bahnfahrten für Rentner, Schüler, Behinderte und Waisenkinder. Berufspendler bekommen staatliche Zuschüsse für Zeitkarten. Der Mindestlohn steigt 2016 von derzeit 380 Euro auf 405 Euro. Zu den weiteren Plänen gehören geringere Zuzahlungen für Medikamente, der Neubau von Grundschulen und die Halbierung des Mehrwertsteuersatzes für einige Grundnahrungsmittel wie Fleisch und Brot.

Noch kann sich Bratislava diese Mehrausgaben leisten. Das Haushaltsdefizit soll 2016 auf unter zwei Prozent des BIP sinken (nach geplanten 2,7 Prozent Defizit für 2015). Bis 2018 will der Finanzminister sogar einen ausgeglichenen Etat vorlegen. Doch die Zukunftsfähigkeit der Slowakei sichern die "Sozialpakete" kaum. Denn während im Nachbarland Tschechien Themen wie Industrie 4.0 oder Forschung und Entwicklung längst auf der politischen Agenda stehen, verpasst Bratislava hier wichtige Trends.

Bei den Innovationen zeigt sich das besonders deutlich. Laut Eurostat gibt die Slowakei pro Jahr nur 0,8 Prozent des BIP für Forschung und Entwicklung aus (2013). Das ist deutlich weniger als der Durchschnitt der 28 EU-Mitglieder (2,0 Prozent). Alle Nachbarländer, mit denen der Transformationsstaat in direkter Konkurrenz steht, stecken mehr Geld in die Forschung: Polen 0,9 Prozent des BIP, Tschechien 1,9 Prozent und Ungarn 1,4 Prozent. Deutschland (2,9 Prozent) und Österreich (2,8 Prozent) spielen ohnehin in einer anderen Liga.

Als Volkswirtschaft, deren Wirtschaftsleistung zu fast einem Drittel in der Industrie entsteht, muss die Slowakei ihre Anstrengungen bei der Entwicklung innovativer Produkte aber erhöhen. Auch die Digitalisierung der Wertschöpfungsstufen unter dem Stichwort Industrie 4.0 darf sie dabei nicht vernachlässigen.

Die Wirtschaftspolitik hat bislang zu sehr auf die Ansiedlung reiner Produktionsstätten und auf die Schaffung von Arbeitsplätzen gesetzt. Doch solche Fabriken sind schnell demontierbar und wandern weiter, wenn der Lohndruck steigt. Das musste die Slowakei in jüngster Vergangenheit besonders in der Elektroindustrie erfahren. Panasonic, Emerson, Elektroconnect, Lenovo oder Leoni hatten Produktionsstätten geschlossen und diese nach Osteuropa oder Nordafrika verlegt. Das betraf vor allem die Montage von Fernsehgeräten, die zu den wichtigsten Exportgütern gehören. Erst langsam steuert die Regierung um und setzt bei der öffentlichen Förderung von Investitionsprojekten mehr Akzente auf Wertschöpfung. Seit 2015 können 25 Prozent der Ausgaben für die Entwicklung innovativer Produkte die Steuerbasis noch einmal zusätzlich verringern. Daneben wirken sich weitere 25 Prozent der Lohnkosten für Absolventen, die extra für Forschungsarbeiten eingestellt werden, steuermindernd aus.

Tabelle 1: Ausländische Direktinvestitionen nach Regionen, Bestand zum Jahresende 2012 (in Mio. Euro)

In Übereinstimmung mit den EU-Regelungen bekommen Unternehmen auf Antrag auch direkte Zuschüsse und Steuererleichterungen für Forschungsarbeiten. Die maximale Förderung beträgt dabei 15 Millionen Euro pro Firma und Projekt bei experimenteller Forschung (höchstens 25 Prozent der Gesamtkosten); 20 Millionen Euro für industrielle Forschung (höchstens 50 Prozent der Gesamtkosten) und 40 Millionen Euro für Grundlagenforschung (bis zu 100 Prozent der Gesamtkosten). Für kleinere Unternehmen können die Fördersätze in Ausnahmefällen auch höher liegen.

Grundsätzlich hat die Slowakei vier Bereiche definiert, in die öffentliche Investitionsförderung vorrangig fließen soll: verarbeitende Industrie, Technologiezentren, Shared Service Center (SSC) und Tourismus. Rückgrat der Industrie bleibt aber trotz aller Bestrebungen zur Diversifizierung die Automobilbranche. In den drei großen Fabriken von Volkswagen (Bratislava), PSA Peugeot Citroën (Trnava, deutsch Tyrnau) und Kia (Žilina) laufen jährlich rund eine Million Fahrzeuge vom Band. Pro Kopf gerechnet ist die Slowakei das Land mit dem größten Pkw-Ausstoß weltweit. Je 1000 Einwohner wurden im letzten Jahr 183 Fahrzeuge produziert. Im Umfeld der Werke sind nach Angaben des Verbands der Automobilindustrie ZAP SR bereits über 320 Hersteller von Kfz-Teilen tätig.

Abhängig vom Fahrzeugbau

Schon jetzt entfällt über ein Viertel der slowakischen Ausfuhren auf Produkte des Fahrzeugbaus. Die Branche trägt mit rund zwölf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei, deutlich mehr als im Nachbarland Tschechien (sieben Prozent). Mit 80.000 Beschäftigten sind die Kfz-Hersteller und ihre Zulieferer ein wichtiger Arbeitgeber. Wenn Jaguar Land Rover seine Fabrik bei Nitra errichtet, rückt das Tatra- und Donauland endgültig in die Reihe der großen Automobilnationen vor. Mit einer Fahrzeugproduktion von künftig 1,3 Millionen Einheiten pro Jahr würde die Slowakei dann sogar das fast doppelt so große Nachbarland Tschechien hinter sich lassen. Im Osten Europas hätte nur noch Russland eine größere Fahrzeugindustrie. Allerdings steigt auch die Abhängigkeit von der Fahrzeugbranche weiter. Nach Berechnungen der slowakischen Nationalbank würden zwischen 2018 und 2021 rund 0,6 Prozentpunkte des Wirtschaftswachstums allein auf die Großinvestition von Jaguar entfallen.

Zudem wird diese Investition das starke West-Ost-Gefälle in der Slowakei zementieren. Bis jetzt sind die westlichen Landesteile wirtschaftlich viel stärker als der Osten des Landes. Fast 70 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen sind in den Bezirk Bratislava geflossen, der laut Eurostat die sechstreichste Region in Europa ist. Seine Wirtschaftskraft pro Kopf lag 2013 um 84 Prozent über dem EU-Durchschnitt. Mit 49.000 Euro BIP (in Kaufkraftstandards) erwirtschaftet ein Bewohner der slowakischen Hauptstadt und ihres Umlands mehr als einer in so reichen Regionen wie Paris, Oberbayern oder Wien. Dagegen kommt die Ostslowakei nur auf 13.800 Euro und die Zentralslowakei auf 15.900 Euro.

Das Gefälle drückt sich auch in der Arbeitslosenstatistik aus. So verzeichnete Bratislava im August 2015 mit sechs Prozent Arbeitslosigkeit nahezu Vollbeschäftigung. In den Bezirken Košice und Prešov, die an die Ukraine grenzen, waren 15 bis 16 Prozent der Erwerbsfähigen als arbeitslos registriert, ebenso in der Region Banská Bystrica an der Grenze zu Ungarn. Dort sucht in manchen Kreisen wie Rimavská Sobota oder Revúca offiziell sogar jeder Vierte einen Job. Entsprechend groß ist die Lohnspreizung. Arbeitnehmer verdienen laut Statistikamt im Bezirk Bratislava 30 bis 40 Prozent mehr als in anderen Bezirken. Die Hauptstadt war 2014 die einzige Region mit einem Durchschnittslohn von über 1.000 Euro (1.110 Euro). Dagegen betrugen die Gehälter im Bezirk Prešov nur rund 660 Euro.

Doch trotz der günstigen Löhne und besseren Verfügbarkeit von Arbeitskräften bleibt die Magnetwirkung der Ostslowakei bislang aus. Wichtigster Grund ist die schlechte Verkehrsanbindung. Züge zwischen Bratislava und Košice sind mindestens fünf Stunden unterwegs. Für Autos und Lkw gibt es keine durchgehende Autobahn. An der lebenswichtigen Verkehrsader D1 wird seit über 40 Jahren gebaut, doch immer noch fehlen große Teilabschnitte östlich von Žilina (Sillein). Rund 70 Kilometer sind derzeit nach Angaben der zuständigen Autobahngesellschaft NDS in Bau. Jede Übergabe einer Neubaustrecke wird in der slowakischen Presse frenetisch gefeiert. Dank einer effizienteren Ausschöpfung der EU-Mittel für den Straßenbau will die Regierung die Bauarbeiten nun beschleunigen. Bis 2019 sollen die beiden wichtigsten Städte des Landes per Autobahn miteinander verbunden sein.

IT-Valley im Osten

Ein Zukunftssektor, der weniger Betonpisten, und dafür eher eine Datenautobahn benötigt, hat sich im Osten des Landes schon jetzt etabliert: die IT-Branche. Košice ist zu einem kleinen Silicon Valley geworden. Bekannte internationale Branchengrößen beschäftigen dort bereits über 6.000 Software-Experten. Bis 2020 soll ihre Zahl auf 10.000 steigen. Microsoft, Cisco, IBM und Siemens sind präsent. Daneben haben sich interessante einheimische Startups angesiedelt. Zu ihnen gehören Games Farm, Inlogic Software oder Awaboom, die weltweit die Computerspielszene aufmischen. Erst dieses Jahr hatte der US-Riese GlobalLogic den Aufbau eines Entwicklungszentrums für ganz Mitteleuropa in der ostslowakischen Großstadt bekannt gegeben. 500 Beschäftigte sollen dort Mobilfunk-Apps programmieren.

Mehr als die Hälfte der Mitarbeiter in Košices Hightech-Branche sind bei deutschen Unternehmen beschäftigt. Allein bei T-Systems arbeiten etwa 3200 Fachkräfte. Sie betreuen die Netzwerke internationaler Kunden, entwickeln Software oder betreiben Telekommunikationsanlagen für den Mutterkonzern, zum Beispiel Firewalls. Schon seit 1995 lässt der Siemens-Konzern in Košice Software für Computertomografen, Ultraschall- oder Röntgengeräte entwickeln. Er hat dort ein Entwicklungszentrum für Medizintechnik aufgebaut.

Wichtigste Gründe für den Gang nach Osten sind das Fachkräftepotenzial und die Kostenvorteile. Während ein Programmierer in Bratislava laut Statistikamt durchschnittlich 2.200 Euro pro Monat verdient, bekommt sein Kollege in Košice nur 1.500 Euro. Noch größer ist der Gehaltsunterschied zu Deutschland, was das ostslowakische IT-Valley zunehmend interessant macht für die Auslagerung von Programmierarbeiten und anderen IT-Prozessen. Die deutschen Manager vor Ort schätzen außerdem die Netzinfrastruktur, die nach ihren Aussagen auf dem neuesten Stand sei. Breitbandanschlüsse bis ins letzte Haus und Datentransfers ohne Limits in alle Welt sprechen für Košice.

Solche Erfolgsgeschichten über die regionale und sektorale Ausdifferenzierung braucht die Slowakei, um sich für die Zukunft zu wappnen. Denn wie gefährlich die Abhängigkeit von wenigen starken Wirtschaftszweigen sein kann, zeigen die Sorgen um die aktuelle VW-Abgasaffäre. Sollte der Skandal den Volkswagen-Konzern in Schräglage bringen, so hätte das direkte Auswirkungen auf das Werk in Bratislava und die zahlreichen slowakischen Zulieferer der Wolfsburger. Investitionen würden gestrafft, Arbeitsplätze stünden zur Disposition, der Aufschwung wäre in Gefahr.

Dennoch steht das Land inzwischen weitaus besser da als zum Start seiner Transformationsperiode. Die Slowakei ist heute ein wettbewerbsfähiger Standort, der weltweit gefragte Güter wie Autos, Elektronik, Software, Möbel, Metallprodukte oder Kunststoffe produziert. Und anders als zu Beginn der 1990er Jahre hat Bratislava mit Brüssel einen potenten Geldgeber für den weiteren Umbau der Volkswirtschaft an der Seite. Allein im aktuellen Förderzeitraum 2014 bis 2020 stehen über 15 Milliarden Euro aus EU-Fonds bereit. Vorausgesetzt, die Abschöpfung gelingt dieses Mal effizienter als in den abgelaufenen Perioden. Nutzt die Slowakei diese Chance, dann wird sie ihre wirtschaftliche Erfolgsgeschichte fortschreiben und die Schatten der Vergangenheit endgültig hinter sich lassen.

Dipl.-Journalist, geb. 1973; Auslandskorrespondent der Germany Trade & Invest GmbH in Prag. Die Wirtschaftsförderungsgesellschaft der Bundesrepublik Deutschland unterstützt deutsche Firmen bei ihrem Exportgeschäft und wirbt bei ausländischen Unternehmen für den Standort Deutschland. E-Mail Link: gerit.schulze@gtai.de