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Falle Ostpolitik? - Essay | Deutsche Außenpolitik | bpb.de

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Falle Ostpolitik? - Essay Ein Blick aus Russland auf die deutsche Außenpolitik

Lilia Shevtsova

/ 8 Minuten zu lesen

Deutschland ist paradox. Das demokratische Nachkriegsdeutschland hat wesentlich zum Überleben des sowjetischen Kommunismus sowie des personalistischen postkommunistischen Regimes in Russland beigetragen. Heute könnte die Bundesrepublik hingegen nicht nur zur Initiatorin einer europäischen Politik werden, die den kremlschen Revisionismus eindämmt, sondern auch ein außenpolitisches Umfeld entstehen lassen, das eine Transformation des russischen Systems begünstigt.

Wie die Ostpolitik dem Kreml zugute kam

Mitunter wird den Vereinigten Staaten nachgesagt, für Russland eine Schlüsselrolle auf der Weltbühne einzunehmen. In der Tat war es der Dialog mit den USA, der es Moskau selbst nach dem Zusammenbruch der UdSSR ermöglichte, den Status einer Supermacht zu beanspruchen. Amerika war und ist für Russland ein wichtiger innenpolitischer Faktor, die wesentliche Quelle der antiwestlichen Einstellung, aus der die militaristischen, patriotischen Ambitionen der Machthaber ihre Legitimation schöpf(t)en. Die russisch-amerikanischen Beziehungen dienen vor allem dem Zweck, die Großmachtillusionen der russischen Elite zu bewahren. Im Vergleich zu den mächtigen, ehrgeizigen USA hat die Bundesrepublik, die bescheiden auftritt und politisch ein Zwerg bleiben will, einen potenziell größeren realen Einfluss auf Russland – darin liegt eine gewisse Ironie.

Russland und Deutschland verbindet eine widersprüchliche Geschichte. Einerseits spielten die Deutschen im zaristischen Russland eine bedeutende Rolle, sie gehörten zur herrschenden Schicht. Andererseits standen sich beide Länder in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts als Gegner gegenüber. Zu Zeiten des Sowjetkommunismus wurde die Bundesrepublik zu einem Wirtschaftspartner der UdSSR. 1970 ging Bonn auf den Vorschlag des sowjetischen Außenministers Andrej Gromyko ein, "Erdgas gegen Röhren" zu beziehen. Diese Vereinbarung wurde zu einem Bestandteil der westdeutschen "Ostpolitik", die auf der Hoffnung basierte, eine geopolitische Annäherung und wachsende Wirtschaftsbeziehungen könnten positive Veränderungen innerhalb des kommunistischen Systems bewirken. Wie es der Unternehmer Otto Wolff von Amerongen, seinerzeit Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, ausdrückte: "Wenn wir uns durch eine Gasleitung miteinander verbinden, dann wird sich die politische Landschaft in der Sowjetunion zum Besseren verändern." Er sollte sich irren: Die "Verbindung" durch eine Gasleitung ermöglichte dem personalistischen System in Russland, zu überleben, als sich seine inneren Ressourcen allmählich erschöpften. Die Bundesrepublik leistete mithilfe der "Gasdiplomatie" einen wesentlichen Beitrag zur Überlebensstrategie des Kreml: Ergebnis der Verbindung von politischem Idealismus und Geschäftsinteressen im Rahmen der Ostpolitik war die Verknüpfung des russischen Erdgasförderunternehmens Gazprom, des deutschen Erdgashandelsunternehmens Ruhrgas und der Deutschen Bank, die sich zu einer Lokomotive der Förderung russischer Interessen in Europa entwickelte und Moskaus "Gasdiktat" zu einer politischen Waffe machte. In Deutschland selbst entstand eine einflussreiche Lobby aus "russlandverstehenden" Vertreterinnen und Vertretern von Bürokratie und Wirtschaft, in erster Linie verkörpert durch den Ost-Ausschuss.

Der deutsche Glaube an einen "Wandel durch Annäherung" überlebte indes nicht nur den Kommunismus, sondern fand seine Fortsetzung in der Politik des wiedervereinigten Deutschlands gegenüber dem postkommunistischen Russland. Die neue Ostpolitik entsprach vollkommen den Überlebensbedürfnissen des russischen Machtsystems. Dieses reproduzierte sich nach dem Ende der UdSSR 1991, indem es liberale Institutionen imitierte und von der Globalisierung, der persönlichen Integration der russischen Elite "in den Westen" und von westlichen Ressourcen profitierte. Wiederum war es für Russland möglich, den Westen zu nutzen, ohne sich zu transformieren. Symptomatisch für die neue "Union" der russischen Elite und der westlichen politischen Klasse war der Wechsel des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder zu Gazprom kurz nach dem Regierungswechsel 2005. Seine Rolle als Lobbyist legimitierte nicht zuletzt die Arbeit weiterer Vertreter der westlichen Elite für den Kreml. Auch die 2011 geäußerte Absicht des Berliner Vereins "Werkstatt Deutschland", Wladimir Putin für seine "besondere Rolle in der Geschichte" mit dem Quadriga-Preis auszuzeichnen, war eine Demonstration der "Union" der russischen und eines Teils der deutschen Elite.

Natürlich gibt es auch andere Tendenzen in Deutschland. Großen Respekt verdient etwa die Position von Bundespräsident Joachim Gauck nach der russischen Annexion der Krim sowie jener Vertreter politischer und intellektueller Kreise, die sich keine Illusionen darüber machen, was in Russland vorgeht, wie etwa die Sprecherin für Osteuropapolitik der Grünen-Bundestagsfraktion Marieluise Beck oder der mittlerweile verstorbene CDU-Politiker Andreas Schockenhoff. Bis vor Kurzem dominierte in der deutschen Außenpolitik gegenüber Russland jedoch eine Politik des Entgegenkommens.

Für das Bemühen Berlins, Russland nicht zu verärgern, gibt es offenbar eine ganze Reihe von Ursachen. Dazu gehören vermutlich das Bewusstsein für die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und den Angriff auf die UdSSR, der marxistische Glaube, Wirtschaftsbeziehungen könnten den Weg für Veränderungen in Russland bereiten, das Bestreben, deutsche Wirtschaftsinteressen zu realisieren, und schließlich der Einfluss des Antiamerikanismus. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch das fehlende Vertrauen der deutschen Eliten in eine mögliche Transformation in Russland eine Rolle spielt. Eine weitere häufig bemühte Erklärung für die deutsche Politik gegenüber Russland ist der Wunsch, Russland zu einem Teil Europas zu machen. Tatsächlich ist Russland ein Teil Europas geworden, aber nicht etwa durch die Annahme europäischer Standards, sondern durch die Integration einer russischen Klasse von Rentiers in die europäische Gesellschaft und die Korrumpierung Europas. Bis heute scheinen viele in Deutschland die Logik nicht begriffen zu haben: Je mehr die Interessen des Kreml berücksichtigt werden, desto größer wird sein Appetit und desto aggressiver wird er. Natürlich ist davon auszugehen, dass die Ostpolitik in ihren verschiedenen Spielarten zur Lösung deutscher Probleme beigetragen hat, vor allem im Wirtschafts- und Energiebereich. Aber zu welchem Preis?

Wie Liberale in Russland Berlin heute sehen

Die deutsche Politik, die dem immer autoritärer agierenden Kreml Vorschub leistet, stößt in liberalen Kreisen in Russland natürlich auf Kritik. Zwar sind die Liberalen in Russland nur eine relativ kleine Gruppe, die politisch an den Rand gedrängt wird. Aber allein die Tatsache, dass sich die deutsche Russlandpolitik der Unterstützung des Kreml erfreut, von Liberalen in Russland hingegen abgelehnt wird, sollte auch in Deutschland zu denken geben.

In einer Situation, in der Washington die amerikanische Präsenz in Europa allmählich abbaut und seine internationalen Verpflichtungen reduziert, ist es keine Übertreibung zu sagen, dass Deutschland – möglicherweise ungewollt – zur führenden europäischen Macht geworden ist und notgedrungen die schwerfällige europäische Bürokratie stimulieren muss. Gerade Berlin hat den europäischen Kurs gegenüber Putins Russland bestimmt, wie er 2010 in der Konzeption der "Modernisierungspartnerschaft" zwischen Brüssel und Moskau zum Ausdruck kam. Freilich zeigte sich bald, dass Berlin weit mehr an Russlands Modernisierung interessiert war als Moskau. Der Rückzug der Vereinigten Staaten aus Europa und die Neuauflage der Ostpolitik, nunmehr als Politik der Europäischen Union, haben dabei eine Rolle gespielt: Sie haben den Kreml zu der Überzeugung gebracht, dass das "Zeitalter des Westens" vorbei sei und es nun darum gehe, das dadurch entstandene Vakuum zu füllen. Oswald Spenglers Idee vom "Untergang des Abendlandes" wurde eine der Grundannahmen des außenpolitischen Konzepts Moskaus, die Russlands Kurs auf eine Revision der Weltordnung bestimmte. Wäre der Kreml nicht von der Schwäche des Westens überzeugt gewesen, vor allem der als Hauptakteure gesehenen USA und Deutschlands, hätte er schwerlich die Krim annektiert und eine Politik der Aggression gegenüber der Ukraine betrieben.

Die Rolle von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Verhängung und Beibehaltung der Sanktionen gegen Russland nach der Krim-Annexion und der russischen Aggression in der Ukraine kam für die Herrschenden in Russland unerwartet. Deutschland übernahm 2014/15 die Führung und erhielt nicht nur den Dialog mit Moskau aufrecht, sondern versuchte auch, die Militanz des Kreml einzudämmen und das Blutvergießen im Donbass zu stoppen. Zugleich entstand allerdings der Eindruck, dass Berlin trotz allem keine "Formel des Friedens" finden konnte und gezwungen war, einen Handel mit Moskau einzugehen und eine eingeschränkte Souveränität der Ukraine hinzunehmen. Letztendlich musste für einen Waffenstillstand eine Verfassungsänderung in der Ukraine in Moskaus Sinn akzeptiert werden, wie im Minsker Abkommen festgelegt wurde. Der "hybride" Frieden, von Berlin gemeinsam mit Paris gebilligt, konnte den "hybriden" Krieg indes schwerlich beenden: Die Ukraine kann sich nicht mit einer Existenz in Russlands Interessensphäre abfinden, und der Kreml nicht mit einem eigenständigen Weg der Ukraine.

Heute hinterlässt Berlins Russlandpolitik einen widersprüchlichen Eindruck. Einerseits dominieren in den Experten- und Medienkreisen in Deutschland nicht mehr die sogenannten Russland- und Putinversteher. Offensichtlich haben kritische Stimmen gegenüber der russischen Regierung im politischen Betrieb in Deutschland sowie in der deutschen Bevölkerung an Einfluss gewonnen. Das Auswärtige Amt und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier haben 2014 mit dem Review-Prozess eine beherzte Initiative zur Bewertung der deutschen Außenpolitik gestartet. Dass die Bundesrepublik zur klassischen Ostpolitik zurückkehren könnte, scheint unwahrscheinlich, obwohl andererseits der Eindruck bleibt, dass ein beachtlicher Teil des deutschen Establishments einschließlich der Wirtschaft nach wie vor zur Ostpolitik tendiert. Wie anders soll man Berlins Bestreben beurteilen, die Gasleitung "Nord Stream 2" zu bauen, was nichts anderes ist als ein Versuch des Kreml, sein Energiediktat in Europa aufrechtzuerhalten? Russland wird so nicht aus der Rolle eines Petrostaates herauskommen, der sich jeder politischen Modernisierung widersetzt.

Zugleich werden im politischen Milieu in Deutschland nicht selten Mythen der Kreml-Propaganda reproduziert, etwa von der "Erniedrigung Russlands durch den Westen", der "Bedrohung Russlands durch die NATO" und Forderungen, Russland "Gleichheit" zu garantieren. Was die "Erniedrigung" betrifft, so lässt sich das Verhalten der russischen Elite auch im Westen kaum als Folge eines "Versailles-Komplexes" deuten. Dieses Argument nutzt der Kreml jedoch mit Erfolg, um seine Militärpolitik zu legitimieren, indem er bei der Bevölkerung Misstrauen gegenüber "dem Westen" schürt. Mit Blick auf die NATO stellt sich die Frage, welche Bedrohung sie für Russland darstellen soll, wenn sie schon längst keine Aufgabe mehr hat und erst der russische Krieg in der Ukraine die Allianz wieder zum Leben erweckt hat. Und die Forderung nach "Gleichheit" bedeutet nichts anderes als das Recht Russlands, "gleicher" als andere zu sein und geltendes Völkerrecht zu verletzen.

Natürlich ist es schwer, eine Antwort auf das Überlebensmodell des Kreml zu finden, gegen den Westen, innerhalb des Westens und mit dem Westen (aber zu Kreml-Bedingungen) zu existieren. Heute ist es schwieriger, eine westliche Russlandpolitik zu entwickeln als zu Zeiten des Kalten Krieges, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens steht die russische Elite zwar für Standards, die Europa fremd sind, dank der Globalisierung ist sie jedoch in die westliche Welt integriert; zweitens ist der russische Autoritarismus in ein Verfallsstadium eingetreten, seine Ressourcen sind erschöpft, und der Kreml ist daher um seines Überlebens willen bereit, die Spielregeln zu verletzen, was die UdSSR stets zu vermeiden versucht hat; und schließlich befindet sich drittens auch die liberale Demokratie in einer Krise und auf der Suche nach Wegen zur Selbsterneuerung.

Dennoch hat gerade Deutschland das Potenzial, eine adäquate Russlandpolitik zu entwickeln, die günstige äußere Bedingungen für eine Transformation entstehen ließe: Erstens hat Deutschland ein historisches Interesse an Russland und – hoffentlich – Verständnis für die in der russischen Gesellschaft ablaufenden Prozesse; zweitens gibt es in der Bundesrepublik offenbar durchaus ein politisches und moralisches Verantwortungsgefühl. Inwieweit diese Eigenschaften es ihr erlauben, die Falle der Ostpolitik zu umgehen, wird sich bald herausstellen.

ist Associate Fellow im Russia and Eurasia Programme des Royal Institute of International Affairs Chatham House in London. E-Mail Link: liliashevtsova@gmail.com