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Die große Entzweiung. Wie Amerika in politische Echokammern zerfiel | USA | bpb.de

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Die große Entzweiung. Wie Amerika in politische Echokammern zerfiel

Torben Lütjen

/ 18 Minuten zu lesen

"I didn’t come along and divide this country. This country was seriously divided before I got here", sagte US-Präsident Donald Trump im Februar 2017 am Ende einer ausgedehnten Pressekonferenz im Weißen Haus. Wo er Recht hat, hat selbst der Meister des "Postfaktischen" Recht. In der Tat begann die Polarisierung der amerikanischen Politik, die sich im Präsidentschaftswahlkampf 2016 so deutlich zeigte, nicht mit Donald Trump. Sie begann auch nicht mit seinem Vorgänger im Weißen Haus, Barack Obama. Und auch vor der Präsidentschaft George W. Bushs, in dessen Zeit die Spaltung Amerikas längst Oberthema aller politischen Diskurse war, hatte sich im Land bereits deutlich etwas entzweit. Was derzeit in einer Hyperpolarisierung der amerikanischen Gesellschaft zu kulminieren scheint, hat eine Vorgeschichte, die einige Jahrzehnte zurückreicht, in denen strukturelle Entwicklungen und institutionelle Grundbedingungen sich simultan zuspitzten und mit spezifischen Entscheidungen politischer Akteure zusammenspielten, einander beeinflussten und sich gegenseitig zu jener existenziellen Konfrontation hochschaukelten, die heute die US-Politik bestimmt.

Vieles musste passieren, um die USA in den gegenwärtigen Zustand der Hyperpolarisierung zu führen. Zwar ist die tiefe politische Spaltung der amerikanischen Gesellschaft schon für sich genommen und nur aus der unmittelbaren Gegenwart betrachtet drastisch genug. Geradezu spektakulär aber erscheint sie, wenn man sie in Beziehung zu jenem Bild der US-Politik setzt, das lange innerhalb und außerhalb der Vereinigten Staaten verbreitet war. Mit Verblüffung liest man heute die angesichts der gegenwärtigen Zustände beinahe schon surreal wirkende Einschätzung des Politikwissenschaftlers Robert Dahl aus den 1970er Jahren: "Unlike parties in many European countries, both Republicans and Democrats in the United States advocate much the same ideology. (…) To a European accustomed to the sound and fury of clashing ideologies, American party battles seem tame and uninteresting." Solche und ähnliche Aussagen ließen sich – angefangen bei Alexis de Tocqueville – mühelos aneinanderreihen. Was also ist passiert, dass aus dem "Land ohne Ideologien", das um seine vergleichsweise konsensgeprägte politische Kultur beneidet wurde, ein solcher Hexenkessel der ideologischen Auseinandersetzung wurde?

Southern Realignment

Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage führt in die 1960er Jahre. Zu Beginn jenes Jahrzehnts kam es in den Vereinigten Staaten zu einer Ballung und Verschärfung bestehender und neuer Problem- und Konfliktlagen. Bei aller Gleichzeitigkeit gab es vermutlich dennoch eine Art historischen Dominostein, der erst fallen musste, um eine Kettenreaktion in Bewegung zu setzen: die Neuausrichtung der Wählerbindungen im amerikanischen Süden, das sogenannte southern realignment.

Bis dahin hatte auf dem Gebiet der alten Konföderation praktisch ein Ein-Parteien-System unter dem Vorzeichen der Dominanz der Demokratischen Partei geherrscht, die dort Garantin der Aufrechterhaltung eines Systems faktischer Rassentrennung war. Landesweit machte das aus den Demokraten eine hoch fragmentierte Allianz mit zwei antagonistischen Machtzentren: dem konservativen Süden und dem liberalen Nordosten. Allerdings waren die Republikaner ähnlich zersplittert. Beide Parteien besaßen jeweils bedeutende liberale und konservative Parteiflügel und waren allein deswegen zu einer weltanschaulich kohärenten Politik kaum in der Lage.

Das änderte sich, als der liberale Parteiflügel der Demokraten sich trotz des Risikos der innerparteilichen Spaltung Anfang der 1960er Jahre dazu durchrang, die Vorhaben der schwarzen Bürgerrechtsbewegung im Süden zu unterstützen und 1964/65 den Civil Rights Act und den Voting Rights Act durchzusetzen, die die katastrophalen Verhältnisse der Rassentrennung zumindest teilweise beseitigten. Zwar wurde diese Politik von einer großen Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner zunächst unterstützt. In den Südstaaten führte sie aber zu einer Entfremdung der Wählerinnen und Wähler von der Demokratischen Partei. In einem durchaus langfristigen Prozess wandten sie sich von ihr ab und begannen, für die Republikaner zu stimmen.

Mit diesem Seitenwechsel veränderten sich in der Konsequenz die Wählerbasen beider Parteien: Die Demokraten verloren den konservativen Süden, und gleichzeitig schwanden die ehemaligen liberalen Parteihochburgen der Republikaner im Nordosten des Landes. Kurzum: Während die Unterschiede zwischen den Parteien wuchsen, löste sich der extreme Dualismus im Inneren der Parteien auf, die jetzt viel eindeutiger als "konservativ" und "liberal" auftraten und auch wahrgenommen wurden. Das beseitigte eine spezifisch amerikanische Anomalie und schuf überhaupt erst die Voraussetzungen für einen ideologisch markanteren und schärferen Parteienwettbewerb.

"Westernisierung" des US-Konservativismus

In der Republikanischen Partei erstarkte etwa zeitgleich eine radikal-libertäre Strömung, die jede Ausweitung staatlicher Lenkungsfunktionen für einen Verrat an amerikanischen Prinzipien hielt. Diese politische Strömung hatte sich bereits in den Jahren des New Deal formiert, in dessen Zuge die US-Regierung unter Präsident Franklin D. Roosevelt ab 1933 mit einer Reihe von Wirtschafts- und Sozialreformen wie der Einführung von Sozialversicherungen und der Regulierung der Finanzmärkte auf die Weltwirtschaftskrise reagiert hatte. Waren sie zunächst noch politisch marginalisiert geblieben, erhielten die Anhänger dieser Bewegung nun Auftrieb und kündigten den Konsens der Nachkriegszeit auf, der insbesondere in den 1950er Jahren die Innenpolitik der USA bestimmt hatte.

Die Sprache des libertär-konservativen Flügels der Republikaner war schrill und bisweilen hysterisch, die historischen Analogien zumindest aus europäischer Sicht verwegen: Vom Wohlfahrtsstaat zum Sozialismus war es nie weit für die Verfechter des small government. Diese Analogie hält sich im Übrigen bis in die Gegenwart, in der die Aktivisten der Tea Party die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung unter US-Präsident Barack Obama als Versuch interpretieren, dem Sozialismus oder anderen totalitären Politikmodellen den Weg zu ebnen.

Der Held dieser Spielart des amerikanischen Konservativismus war der Senator von Arizona, Barry Goldwater. Er stand während seiner Amtszeit von den 1950er bis in die 1980er Jahre nicht nur für den Kampf gegen big government, sondern verkörperte auch die "Westernisierung" der Republikanischen Partei und den Mythos der frontier, jener in der amerikanischen Geschichte stetig nach Westen verschobenen Besiedlungsgrenze, entlang derer westliche Zivilisation auf ungezähmte Wildnis gestoßen war, sodass zum Überleben Eigenschaften wie Tapferkeit, Eigeninitiative und Härte gegenüber sich selbst und der Umwelt notwendig waren. So verschmolz der Kampf gegen big government mit dem rauen Individualismus des amerikanischen Westens und koppelte sich überdies die konservative Ideologie auch an Mythen der amerikanischen Populärkultur an.

1964 trat Goldwater als Kandidat der Republikaner für die Präsidentschaft an – und verlor deutlich gegen den amtierenden Präsidenten, Lyndon B. Johnson. In seiner krachenden Niederlage lag jedoch bereits der Keim späterer Triumphe. Denn zum einen lagen fünf der sechs Bundesstaaten, die er gewann, im Süden der USA, und das signalisierte bereits die einsetzende Neuordnung der dortigen Mehrheitsverhältnisse. Zum anderen aber punktete der Senator auch in einigen der am schnellsten wachsenden Regionen im Westen und Südwesten der USA: Dort, in den wohlhabenden Vorstädten, in denen viele glaubten, sie seien die alleinigen Schmiede ihres Glücks, fand seine Botschaft von niedrigeren Steuern und dem Widerstand gegen "Washingtoner Bürokraten" enthusiastische Anhänger. Insofern stand Goldwater nicht nur für die habituelle, mentale Westernisierung der Partei, sondern warfen mit seinem Erfolg auch künftige republikanische Wählerpotenziale bereits ihre Schatten voraus.

Populismus von rechts, Identitätspolitik von links

Allein als Partei von small government und durch die schrittweise Einverleibung des amerikanischen Südens wäre die Republikanische Partei kaum zu der strukturellen Mehrheitsposition im Land gekommen, über die sie schon sehr bald verfügen sollte: Dafür mussten sich die politischen, sozialen und kulturellen Achsen der amerikanischen Gesellschaft erst bedeutend verschieben.

Vom New Deal bis in die 1960er Jahre war die Konfliktstruktur des Landes primär sozioökonomisch geprägt gewesen, es ging also um Fragen der richtigen (gerechten, effizienten) Wirtschaftsordnung und der Verteilung von Wohlstand. Klassenzugehörigkeiten entschieden stärker als zuvor oder danach in der amerikanischen Geschichte über das Wahlverhalten – sehr zum Vorteil der Demokratischen Partei. Mitte der 1960er Jahre weitete sich der Raum des Politischen in gewisser Weise aus und kamen neue Themen mit enormem politischen Spaltungspotenzial auf die politische Agenda. Zum einen "wanderte" die Rassenproblematik nordwärts, als es in amerikanischen Großstädten, wo viele Schwarze über die weiterhin gesellschaftlich zementierten Verhältnisse enttäuscht und wütend waren, zu Unruhen kam. Für viele Angehörige der weißen Mittelschicht und Arbeiterklasse signalisierten die riots in Oakland, Detroit oder Newark vor allem eine Erosion der öffentlichen Ordnung. Zum anderen kamen wenig später die vermeintlichen Exzesse einer promiskuitiven Jugendkultur und die Proteste und Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg hinzu. Es war ein Konflikt, den auch andere westliche Gesellschaften in diesen Jahren durchliefen: Was den einen als Dekade des Aufbruchs und des überfälligen Aufbrechens überkommener gesellschaftlicher Strukturen erschien, interpretierten andere als Angriff auf die öffentliche und moralische Ordnung, als eine Art destruktive Emanzipation, die über ihr ursprüngliches Ziel längst hinausgeschossen war.

Zum Champion einer zunehmend verängstigten und verunsicherten weißen Mittelklasse wurde 1968 der Republikaner Richard Nixon. Beinahe 50 Jahre vor Donald Trump schwang er sich zum Anführer einer "schweigenden Mehrheit" empor, zum Verteidiger der "vergessenen Amerikaner", der non-shouters und non-demonstrators. So gelang es ihm, die white working class zu spalten und sie sogar mehrheitlich ins konservative Lager zu ziehen. Mit seinem Wahlsieg 1968 vollzog sich somit etwas, das noch lange nachwirken sollte: Die amerikanische Rechte hatte der amerikanischen Linken den Populismus gestohlen.

Beinahe alles, was diesen Populismus später stark machen sollte, spielte Nixon bereits durch: den Antiintellektualismus, die Medien als ultimatives Feindbild, die Erfindung einer vermeintlich abgehobenen liberalen Elite, die mit Verachtung auf die Menschen in middle America schaue. In der Folgezeit gelang es den Konservativen immer wieder, die sozioökonomische Konfliktlinie mit einer anderen, viel stärker soziokulturellen Konfliktlinie zu unterlaufen, bei der es weniger darum ging, wie viel jemand besaß, als darum, wie jemand lebte, fühlte, aussah oder sprach – es waren vor allem Lebensstile, die von nun an polarisierend wirkten. Und wie sich zeigen sollte, war das Reservoir potenziell auszuschöpfender Ressentiments in dieser Hinsicht geradezu grenzenlos. "The whole secret of politics", sagte Nixons Redenschreiber Kevin Philips dem konservativen Publizisten Garry Wills 1968, "is knowing who hates who".

Die Demokraten spielten das Spiel in gewisser Weise mit. Seit Anfang der 1970er Jahre setzten sie vermehrt auf Themen der "Identitätspolitik" und wurden zu der Partei, die bisher unberücksichtigte Identitäten vertrat: von Frauen, von ethnischen und von sexuellen Minderheiten. Themen der sozialen Gerechtigkeit verschwanden deswegen nicht von der Agenda der Partei, in ihrer öffentlichen Wahrnehmung überlagerten identitätspolitische Fragen die alten Verteilungsfragen jedoch deutlich. Das erschloss den Demokraten zwar durchaus neue Wählerpotenziale, aber die Entfremdung von der weißen Arbeiterklasse, die seit 2016 und der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten endgültig vollzogen scheint, hatte ihren Ursprung eben auch in jenen Jahren, als die Frage, "wer" man war, wichtiger wurde als die Frage, "wie viel" man besaß.

Politisierung des Religiösen

Was in den Identitätsdebatten der 1960er Jahre erstaunlicherweise noch keine große Rolle spielte, war das Thema Religion. Auch die Kirchen standen zunächst weiterhin an der Seitenlinie. Jerry Falwell, der spätere Initiator und Anführer der 1979 gegründeten Organisation der christlichen Rechten, Moral Majority, bekannte sich noch 1965 zur Abwendung von allem Weltlichen und lehnte es ab, sich für den Kampf gegen den Kommunismus oder die Bürgerrechtsbewegung vor den Karren einer Partei spannen zu lassen: "Preachers are not called upon to be politicians, but to be soul winners."

Erst mit einiger Verspätung kam es zu einer Abwehrreaktion vor allem des konservativen Protestantismus, der oft unter dem Label des Evangelikalismus firmiert. Aufgeschreckt vor allem durch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes 1973, Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich zu legalisieren (Roe vs. Wade), politisierten sich Amerikas konservative Christen. Insbesondere Ronald Reagan war es, der 1980 als Präsidentschaftskandidat die evangelikalen Christen für die Republikaner gewann – und sie langfristig an die Partei band.

In dieser Zeit verblassten die Konfessionsunterschiede, die zuvor das Wahlverhalten bestimmt hatten: Katholiken hatten traditionell demokratisch gewählt, Protestanten stärker republikanisch. Nun begannen die konservativen Elemente in beiden Konfessionen, republikanisch zu wählen, während liberale Protestanten und Katholiken sowie das zunächst – anders als in Europa – nur langsam, aber stetig wachsende Segment religiös ungebundener Wählerinnen und Wähler sehr viel stärker zu den Demokraten neigten.

So wurden die 1980er und 1990er Jahre die Jahre des culture war, in denen Themen wie Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehe, Pornografie, aber auch diffusere Fragen nationaler Identität verhandelt wurden – auf konservativer Seite begleitet von einer tendenziell apokalyptischen und doch stets undeutlich bleibenden Begleitmusik, die vom "Niedergang" der Vereinigten Staaten handelte. Den Begriff des culture war hat der Soziologe James Davison Hunter geprägt, demzufolge sich in den USA zwei Lager gegenüberstanden und -stehen, deren Wertvorstellungen schlichtweg inkompatibel und kaum noch miteinander zu versöhnen sind: auf der einen Seite das "orthodoxe" Amerika, wo man an einer transzendenten Autorität, an überlieferten Normen und Werten sowie an eindeutigen moralischen Unterscheidungen zwischen Gut und Böse festhält, auf der anderen Seite das "progressive" Amerika, wo man an die Emanzipation von überkommenen Werten, an gesellschaftlichen Fortschritt und die Relativität moralischer Grundsätze glaubt.

Es war also eine komplexe Melange von Konfliktfeldern, die sich seit den 1960er Jahren verdichteten und gegenseitig bestärkten, sodass sich letztendlich zwei Lager gegenüberstanden, die auf praktisch allen Politikfeldern diametral entgegengesetzte Positionen einnahmen. Der Aufstieg Donald Trumps bis zu seinem Sieg bei den republikanischen Vorwahlen 2016 schien, ungeachtet der verbalen Eskalation, für einen Augenblick die Möglichkeit zu eröffnen, dass sich die verhärteten ideologischen Frontlinien zwischen den Parteien an einigen Stellen auch abschleifen könnten: Zwar setzte Trump in der Einwanderungspolitik auf eine nationalistische Karte, aber weder sang er ein Loblied auf freie Märkte noch fiel er – von manchem Lippenbekenntnis abgesehen – als besonders grimmiger Verteidiger eines christlichen Amerikas auf. Und in der Frage des Freihandels brach er gar vollständig mit der bisherigen Orthodoxie seiner Partei. Doch wenn nicht alles täuscht, dann hat sich wenige Monate nach Beginn seiner Präsidentschaft an der grundsätzlichen politischen Tektonik des Landes nicht viel verändert und stehen sich die Parteien weiterhin entlang jener Frontlinie gegenüber, die sich seit den 1960er Jahren immer tiefer in die politische Landschaft der Vereinigten Staaten eingegraben hat.

Getrennte Welten

Amerikas tiefe Spaltung lässt sich also primär als historisch gewachsenes Phänomen interpretieren. Aber um die die fiebrige Intensität dieses Konflikts zu verstehen, der sich von inhaltlichen politischen Fragen längst gelöst hat und bisweilen eher an eine Fehde zwischen zwei Stämmen erinnert, die den ursprünglichen Konflikt längst vergessen und den Hass auf die Gegenseite zum Selbstzweck erhoben haben, braucht es eine weitere Erklärungsebene. Diese weist auch über den Fall der USA hinaus und hält einige allgemeine Schlüsse darüber bereit, wie und unter welchen Bedingungen moderne Gesellschaften sich ideologisch spalten können.

Seit Trumps Wahlsieg ist bekanntermaßen viel vom "postfaktischen Zeitalter" die Rede. Nicht zu Unrecht halten viele das Schlagwort für einen unglücklichen Begriff, der wenig erklärt. Schließlich wird in der Politik und nicht nur dort seit jeher gelogen und getäuscht. Ebenso ist es ein alter Hut, dass Menschen die Welt mit verschiedenen Augen sehen – je nach sozialem Standort, Lebenserfahrungen, bevorzugten Informationsquellen und sozialem Umfeld. Dennoch ist es mehr als nur die schamlose Dreistigkeit eines pathologisch lügenden US-Präsidenten, die dem Begriff Konjunktur verschafft hat. Damit man mit einem solchen Verhalten zumindest bei einem Teil der Bevölkerung durchkommt, muss der Boden auf bestimmte Weise bereitet sein.

Auch dieses Pflügen begann schon lange vor Donald Trump. Über die vergangenen Jahrzehnte haben sich die USA nicht nur politisch in ein konservatives und ein liberales Lager aufgeteilt, sondern auch gesellschaftlich in zwei entsprechende Lebenswelten, in denen ganz unterschiedliche Wahrnehmungen von Realität produziert werden – sogenannte Echokammern. Insbesondere der amerikanische Konservativismus hat sich kulturell und sozial von dem losgelöst, was seine Vertreter als liberalen Mehrheitsdiskurs empfinden, und ist fast schon zu einer Welt für sich geworden.

Eine wichtige Rolle spielte dabei die amerikanische Medienlandschaft: Der Aufstieg des konservativen Nachrichtensenders Fox News und seines liberalen Pendants MSNBC hat das Auseinanderklaffen konträrer Realitätswelten besonders deutlich gemacht, ebenso wie die explosionsartige Zunahme eindeutig parteiischer Formate im Internet, wo gerade eine "zweite Welle" noch aggressiverer Medienformate wie die rechtsnationalistische Nachrichtenseite "Breitbart News" offenkundig an Boden gewinnt. Ein weiterer Faktor war, dass die Anhänger beider Parteien sich auch außerhalb der medialen Welt auseinanderlebten. Denn wirklich wirkungsmächtig werden auch medial vermittelte Weltbilder erst, wenn sie den Nexus zur physischen und sozialen Lebenswelt finden: Wer den ganzen Tag Fox News sieht, aber in seinem Umfeld ständig mit Demokraten verkehrt, wird von der Weltsicht, die der Sender transportiert, zwangsläufig anders beeinflusst als ein Republikaner, der in einem geschlossen konservativen Milieu verkehrt. Erst dort, wo das eine zum anderen passt, ist das System der Echokammer perfektioniert.

Die Zahl der Counties – in etwa vergleichbar mit deutschen Landkreisen –, die von einer der beiden Parteien mit einem Vorsprung von 20 Prozent oder mehr gehalten werden, hatte sich bereits 2008 im Vergleich zu den 1970er Jahren annährend verdoppelt. Bei der Wahl 2016 waren es sogar acht von zehn Counties, in denen kein spannender Wettbewerb mehr gegeben und politische Monokulturen entstanden waren. Diese rasche Ausbreitung politischer Hochburgen ist das Resultat eines gewaltigen inneramerikanischen Migrationsprozesses: Immer mehr Amerikaner entscheiden sich bei einem Umzug, fortan in der Nachbarschaft von Gleichgesinnten zu leben: Demokraten ziehen in die Nähe anderer Demokraten, Republikaner dorthin, wo viele Republikaner wohnen. Dieser Prozess, den der Publizist Bill Bishop und der Soziologe Robert Cushing als big sort bezeichnet haben, muss nicht direkt aus politischen Gründen geschehen und kann vielmehr die Nebenfolge voneinander abweichender Lebensstilpräferenzen sein, die allerdings stark mit ideologischen Orientierungen korrelieren.

Ein ganzes Land hat sich auf diese Art und Weise entlang ideologischer Spaltungslinien sortiert. In Amerikas Kirchen beten Demokraten und Republikaner heute in verschiedenen Gemeinden. Sie heiraten weniger untereinander und drücken in Umfragen ein wachsendes Unbehagen über die Möglichkeit aus, eines ihrer Kinder könnte einen Republikaner beziehungsweise eine Demokratin heiraten. Sie schauen unterschiedliche Fernsehsendungen und präferieren andere Helden: Demokraten die gebrochenen, postmodernen, moralisch ambivalenten Borderliner aus Serien wie "Dexter" und "Mad Men", Republikaner hingegen die "echten" Amerikaner aus dem Reality-TV wie "Duck Dynasty" und Castingshows, in denen es klare Gewinner und Verlierer gibt. Um den Preis der Zuspitzung ließe sich hinzufügen: Sie kaufen tendenziell sogar in unterschiedlichen Geschäften ein und besuchen verschiedene Restaurants, interessieren sich für andere Sportarten und treten nicht den gleichen Vereinen bei. College-Ratgeber wie die "Princeton Review" informieren angehende Studenten und deren Eltern mittlerweile über die politischen Tendenzen der Colleges, was angesichts des Übergewichts liberaler Hochschulen vor allem für Konservative orientierend wirken dürfte.

So haben sich die Lebenswelten des liberalen und konservativen Amerika immer stärker auseinanderentwickelt, womit sich auch die Berührungspunkte zwischen Demokraten und Republikanern reduziert haben. Bereits Mitte der 1990er Jahre zeigten vergleichende Untersuchungen, dass US-Amerikaner weniger mit Mitbürgern mit anderen politischen Orientierungen sprachen als die Bürgerinnen und Bürger anderer Länder, ihre personalen Netzwerke also weitaus homogener sind. Man darf vermuten, dass die Gräben nach zwei weiteren Jahrzehnten der Hyperpolarisierung nicht weniger tief sind.

Das ist deshalb relevant, weil eine Vielzahl sozialwissenschaftlicher Studien eindeutig den Schluss nahelegen, dass soziale Gruppen, die ideologisch homogen sind und in denen der Dissens fehlt, sich in Richtung ihres ideologischen Poles bewegen: Das ist die Logik der Echokammer, in die keine fremden Stimmen mehr eindringen, die bereits existierenden jedoch um ein Vielfaches verstärkt werden. Amerikas Abgeordnete werden so aus sozialen Räumen nach Washington entsandt, in denen "Supermehrheiten" dominieren und politischer Zentrismus oder Konsensorientierung nicht länger prämiert werden.

Im vergleichend-historischen Maßstab ist dieser politische Segmentierungsprozess in der Tat höchst erstaunlich. Als in den 1950er und 1960er Jahren zahlreiche Sozialwissenschaftler zu verstehen versuchten, warum die angelsächsischen im Gegensatz zu den kontinentaleuropäischen Demokratien so stabil schienen, war eine der zentralen Erklärungen, dass insbesondere die USA bei aller ethnischen Fragmentierung eben nicht jene geschlossenen politisierten Subkulturen kannten, die sich in Europa um die politischen Parteien gebildet hatten. Der Soziologe Seymour Lipset schrieb 1960 mit Blick auf Europa: "Wherever the social structure operates so as to isolate individuals or groups with the same political outlook from contact with those who hold different views, the isolated individuals or groups tend to back political extremists." Amerikas vergleichsweise gemäßigte politische Kultur hingegen, so etwa der Politikwissenschaftler David Truman oder der Soziologe Talcott Parsons, sei gerade darin begründet, dass seine Bürgerinnen und Bürger über viele sich überlappende Mitgliedschaften in zivilgesellschaftlichen Organisationen verfügten und dadurch ein breites, heterogenes Kontaktumfeld besäßen.

Heute aber scheinen sich die Lebenswelten des konservativen und liberalen Amerika weit auseinanderentwickelt zu haben. Natürlich waren die USA historisch stets in mannigfaltiger Weise segmentiert: regional, ethnisch, konfessionell, sozial, kulturell. Aber neben dem Fortbestehen dieser Spaltungen scheint das primäre Differenzkriterium gesellschaftlicher Segmentierung heute Ideologie zu sein. Konservativ oder liberal zu sein, Demokrat oder Republikaner – damit korrelieren heute eine Vielzahl anderer sozialer Merkmale.

Paradoxe Individualisierung

Amerikas Polarisierung ist daher nicht allein an politischen Gegensätzen zu messen – und vielleicht nicht einmal primär. Tatsächlich gab es in den 2000er Jahren eine durchaus einflussreiche Strömung innerhalb der amerikanischen Politikwissenschaft, die die politische Polarisierung als Mythos abtat. Das klang zwar stets kontraintuitiv, aber es gab durchaus empirische Belege. Denn tatsächlich waren die Unterschiede in Bezug auf ideologisch konsistente Positionen in Sachfragen über die Jahre nicht wirklich beträchtlich gewachsen, was einige Politologen zu dem Schluss verführte, dass es noch immer eine breite politische Mitte gebe, deren Interessen von radikalisierten politischen Eliten und einer kleinen Minderheit von Parteiaktivisten nicht ernst genommen würden.

Mittlerweile aber scheint sehr viel klarer, dass sich Polarisierung eben nicht allein an Sachpositionen messen lässt, sondern sie auch ein stark affektives Element besitzt. Demokraten und Republikaner können sich buchstäblich nicht ausstehen, weil ihnen die Lebensweisen der jeweils anderen Seite fremd und zuwider sind und sie als Konsequenz homogener und einseitiger Informationsflüsse diese Gegenseite auch für radikaler halten, als sie tatsächlich ist. Gesellschaften, in denen sich Lager gegenüberstehen, die sich nicht nur politisch markant unterscheiden, sondern auch lebensweltlich voneinander getrennt sind und zwischen denen es nur noch wenige oder keine diskursiven Brückenköpfe gibt, bekommen jedoch irgendwann unweigerlich ein demokratisches Legitimitätsproblem. Davon zeugt nicht zuletzt der Niedergang europäischer Demokratien in der Zwischenkriegszeit.

Ein wichtiger Unterschied freilich besteht zwischen Amerikas Echokammern und den subkulturell extrem segmentierten Gesellschaften Europas, deren soziokulturelle Milieus vom 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts Takt und Rhythmus dieser Gesellschaften bestimmten. Denn während Letzteren stets ein Element des Zwanges beiwohnte und die Zugehörigkeit intergenerationell vererbt wurde, sind Erstere Orte der selbst gewählten Ghettoisierung. Sie handeln von einem Paradox: Je mehr Entscheidungsmöglichkeiten Menschen haben, desto mehr entscheiden sie sich für ein Leben in Eindeutigkeit und optieren dafür, bloß nicht zu sehr mit abweichenden Werthaltungen konfrontiert zu werden. Niemand wird dazu gezwungen, immer nur MSNBC oder Fox News zu schauen. Im Gegenteil: Niemals zuvor in der Geschichte waren in Bezug auf alternative Informationsquellen die Wahlmöglichkeiten so groß; und selten wurde davon so wenig Gebrauch gemacht. Tatsächlich sind es – auf beiden Seiten der Barrikade – gerade die wohlhabenderen und besser gebildeten Segmente der amerikanischen Gesellschaft, also jene, die auch in stärkerem Maße überhaupt die Möglichkeit und die Ressourcen haben, nach Lebensstilkriterien zu entscheiden, die besonders eifrige Kombattanten in Amerikas Kulturkriegen sind.

Es handelt sich um einen Prozess, der sich als "paradoxe Individualisierung" bezeichnen lässt, da die gewonnenen Freiheiten zum Rückzug in die Echokammer eingesetzt werden: Man wählt, nicht ständig die Wahl haben zu müssen. Aus dieser Perspektive erscheinen die USA dann vielleicht auch nicht so sehr als Nachzügler auf dem Gebiet der extremen ideologischen Polarisierung – sondern angesichts ihres Status als besonders stark individualisierte, fragmentierte Gesellschaft und ihrer Vorreiterrolle insbesondere bei der Pluralisierung des Medienmarktes eher als Vorbote einer generellen (Re-)Ideologisierung moderner Gesellschaften.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Robert Dahl, Democracy in the United States: Promise and Performance, Chicago 1972, S. 261.

  2. Siehe auch den Beitrag von Manfred Berg in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  3. Vgl. Edwards Carmines/James Stimson, Issue Evolution: Race and the Transformation of American Politics, Princeton 1990.

  4. Vgl. Torben Lütjen, Die Republikaner: Partei der Extreme. Über die Implosion des amerikanischen Konservativismus, Bielefeld 2016.

  5. Vgl. Andrew Hartman, A War for the Soul of America. A History of the Culture Wars, Chicago 2015.

  6. Vgl. Lewis Gould, The Republicans: A History Of The Grand Old Party, Oxford 2014, S. 265.

  7. Vgl. Michael Kazin, The Populist Persuasion: An American History, Ithaca 1995.

  8. Vgl. Christopher Cimaglio, "A Tiny and Closed Fraternity of Privileged Men": The Nixon-Agnew Antimedia Campaign and the Liberal Roots of the U.S. Conservative "Liberal Media" Critique, in: International Journal of Communication 10/2016, S. 1–19.

  9. Zit. nach Nancy McLean, Guardians of Privilege, in: dies./Donald T. Critchlow, Debating the American Conservative Movement. 1945 to the Present, Lanham 2009, S. 148.

  10. Zit. nach Matthew Levendusky, The Partisan Sort. How Liberals Became Democrats and Conservatives Became Republicans, Chicago 2009, S. 26.

  11. Vgl. James Davison Hunter, Culture Wars: The Struggle to Define America, New York 1991.

  12. Vgl. auch Torben Lütjen, Die Politik der Echokammer. Wisconsin und die ideologische Polarisierung der USA, Bielefeld 2016.

  13. Vgl. Russell W. Neuman/Marion R. Just/Ann N. Crigler, Common Knowledge: News and the Construction of Political Meaning, Chicago 1992; Kathrin Cramer-Walsh, Talking Politics. Informal Groups and Social Identity in American Life, Chicago 2004, S. 23–27.

  14. Vgl. Gregor Aisch/Adam Pearce/Karen Yourish, The Divide Between Red and Blue America Grew Even Deeper in 2016, 10.11.2016, Externer Link: http://www.nytimes.com/interactive/2016/11/10/us/politics/red-blue-divide-grew-stronger-in-2016.html?_r=0.

  15. Vgl. Bill Bishop/Robert Cushing, The Big Sort. How the Clustering of Like-Minded Americans Is Tearing Us Apart, New York 2008.

  16. Vgl. Robert D. Putnam/David E. Campbell, American Grace: How Religion Divides and Unites Us, New York 2010.

  17. Vgl. Shanto Iyengar/Sean J. Westwood, Fear and Loathing Across Party Lines. New Evidence of Group Polarization, in: American Journal of Political Science 3/2014, S. 690–707.

  18. Vgl. etwa Paul Hiebert, How Our Television Reinforces Our Politics, 13.2.2014, Externer Link: https://psmag.com/-bf9ed7bfd80a.

  19. Vgl. Vgl. Diana C. Mutz, Hearing the Other Side. Deliberative Versus Participatory Democracy, Cambridge 2006, S. 49–54.

  20. So jedenfalls die Theorie der "Gruppenpolarisierung", zuerst eingeführt durch Serge Moscovi/Marisa Zavalloni, The Group as a Polarizer of Attitudes, in: Journal of Personality and Social Psychology 2/1969, S. 125–135; vgl. auch Cass S. Sunstein, Going to Extremes – How Like Minds Divide and Unite, Oxford 2009.

  21. Vgl. Gabriel A. Almond, Comparative Political Systems, in: Journal of Politics 3/1956, S. 391–409, insb. S. 406ff.

  22. Seymour Martin Lipset, Political Man. The Social Base of Politics, New York 19632, S. 76.

  23. Vgl. David B. Truman, The Governmental Process. Political Interests and Public Opinion, New York 1951; Talcott Parsons, Voting and the Equilibrium of the American Political System, in: Eugene Burdick/Arthur J. Brodbeck (Hrsg.), American Voting Behavior, Glencoe 1959, S. 90–112.

  24. Vgl. Claude Fischer/Greggor Mattson, Is America Fragmenting?, in: Annual Review of Sociology 35/2009, S. 435–455.

  25. Am prominentesten Morris P. Fiorina/Samuel J. Abrams/Jeremy C. Pope, Culture War? The Myth of a Polarized America, New York 2005.

  26. Vgl. Iyengar/Westwood (Anm. 17).

  27. Vgl. Alan I. Abramowitz, The Disappearing Center – Engaged Citizens, Polarization, & American Democracy, New Haven 2010.

  28. Vgl. hierzu ausführlicher Lütjen (Anm. 12).

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lehrt als Gastprofessor für Politikwissenschaft am Max Kade Center for European Studies der Vanderbilt University in Nashville, USA. E-Mail Link: torben.lutjen@vanderbilt.edu