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Wunder gibt es immer wieder | D-Mark | bpb.de

D-Mark Editorial Wunder gibt es immer wieder. Mythos Wirtschaftswunder Kleine Ereignisgeschichte der Währungsreform 1948 Hüterin der D-Mark. Über die Bundesbank und ihre Unabhängigkeit Deutsche Bundesbank als Modell Werden und Vergehen der DDR-Mark Ordnende Kraft des Geldes. Zur Geschichte des Schwarzmarkts vor und nach der Währungsreform Ängste und Sehnsucht. Von der D-Mark zum Euro

Wunder gibt es immer wieder Mythos Wirtschaftswunder

Werner Abelshauser

/ 17 Minuten zu lesen

Der Mythos mit seinen Komponenten "Stunde Null", Währungsreform, Marshallplan und Soziale Marktwirtschaft hält sich zäh, obwohl der Forschungsstand eindeutig gegen ihn spricht. Die Dynamik der deutschen Rekonstruktion hatte andere Gründe.

Der Mythos vom "Wirtschaftswunder" lebt vom Kontrast mit der bitteren Realität, die der Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft im Frühjahr 1945 mit sich brachte. Vernichtung und Lähmung weiter Teile der wirtschaftlichen Infrastruktur und der augenscheinlich totale Stillstand der Produktion ließen keine Hoffnung aufkommen, Deutschland könne die Niederlage – wie nach dem Ersten Weltkrieg – in absehbarer Zeit wirtschaftlich verkraften. Die Siegermächte waren offenbar fest entschlossen, ihre eigene Wirtschaft und die ihrer Verbündeten zu Lasten Deutschlands zu stabilisieren, die potenziellen Märkte der besiegten wirtschaftlichen Großmacht unter sich aufzuteilen, vorhandene Produktionsanlagen zu demontieren und deutsche Produktion nur soweit zu erlauben, wie sie den Besatzungsmächten direkt zugutekam. Für die Bevölkerung der vom Bombenkrieg zerstörten Städte hieß dies Hunger, Not und Elend – und kein Ende war abzusehen.

Angesichts dieser scheinbar hoffnungslosen Ausgangslage musste den Zeitgenossen die schon 1948 einsetzende Reihe sichtbarer wirtschaftlicher Erfolge in den westlichen Besatzungszonen unerklärlich erscheinen, wenn man sie nicht in direkten Zusammenhang mit konkreten politischen Ereignissen brachte, denen bis dahin unbekannte Wirkungen zugeschrieben wurden. Schon wenige Wochen nach der Währungsreform vom 20. Juni 1948 war es kein geringerer als der Oberdirektor des Wirtschaftsrates der Bizone, Hermann Josef Pünder, der ihre Folgen in die Nähe eines Wunders rückte. Das "Wirtschaftswunder", das seitdem immer wieder beschworen wurde, war seit den 1930er Jahren nicht nur dem früheren Zentrumspolitiker ein vertrauter Begriff. Er stand für den im internationalen Vergleich verblüffenden Erfolg der keynesianischen Strategie des Deutschen Reiches gegen die Folgen der Weltwirtschaftskrise und nährte weit über Deutschland hinaus die Hoffnung auf Rückkehr zu einer nicht enden wollende Prosperität, wie sie in den USA der 1920er Jahre immer wieder als "Wunder" apostrophiert worden war.

Selbst die SPD konnte 1936 im Prager Exil "das deutsche Wirtschaftswunder" nicht ignorieren, sorgte es doch dafür, "daß das Regime gerade in der Arbeiterschaft noch auf die meisten Anhänger zählen könne". Sie führte es "auf einen starken Auftrieb" zurück, "den bestimmte Industriezweige von zusätzlichem Rüstungs- und Kriegsbedarf erfahren haben". Dagegen ließ der Pate der Sozialen Marktwirtschaft, Alfred Müller-Armack, selbst noch nach Kriegsende diese bis heute beliebte Erklärung der nationalsozialistischen Arbeitsbeschaffung nicht gelten. Obwohl er den keynesianischen "Lenkungsapparat" des NS-Wirtschaftswunders für seine Vorstellung von Marktwirtschaft ablehnte, wollte er ihm seinen "äußeren Erfolg" nicht absprechen, der ihm im In- und Ausland den Ruf als "überlegene Methode" einbrachte – wohl wissend, dass der Rüstungsboom in Deutschland erst nach der Wahrnehmung des "Wunders" einsetzte.

Auch wenn die Gründe für das "NS-Wunder" umstritten und in der Ursachenforschung nicht im Geringsten mit der Nachkriegsentwicklung vergleichbar waren, so bot sich der vertraute Begriff doch an, um einer auf den ersten Blick unerklärlichen Entwicklung einen Namen zu geben. Tatsächlich gleichen sich die statistischen Ausprägungen der beiden Wirtschaftswunder weitgehend, wenn man sie als Rückweg auf den langen Wachstumspfad der deutschen Wirtschaft ansieht, der seine Kontinuität seit dem Kaiserreich entwickelt hat (siehe Abbildung).

Wachstum der industriellen Nettoproduktion im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik. (© Rolf Wagenführ)

Als Ursachen eines Wirtschaftswunders, das die Hoffnungslosigkeit der deutschen Zusammenbruchsgesellschaft überwinden konnte, bot sich eine Reihe wirtschaftspolitischer Innovationen an, die – jede für sich – den Anspruch erhoben, der wirtschaftlichen Lähmung ein Ende zu setzen. Der Effekt der vollen Schaufenster, den die Währungsreform von heute auf morgen auslöste, gehörte sicher zu diesen Erklärungsanstößen, obwohl die Auswirkungen des neuen Geldes und der es begleitenden ersten Schritte in die Marktwirtschaft nicht allen Menschen zugutekamen und im November 1948 zum ersten und bisher einzigen Generalstreik führten.

Das Wachstum beschleunigte die Währungsreform nicht wesentlich. Vielmehr ordnet sie sich in den Wirtschaftsaufschwung ein, der im Herbst 1947 begann und eine Voraussetzung für ihren Erfolg war. Auch die Soziale Marktwirtschaft gehörte eher zu den späten Erklärungsmustern des Wirtschaftswunders. Das wirtschaftspolitische Programm der neuen Bundesregierung, das in Wirtschaftsminister Ludwig Erhard einen populären Verfechter fand, blieb lange Zeit ein von Absichtserklärungen und Reformversuchen geprägtes Konzept, dessen Glaubwürdigkeit eher von der Dynamik des Nachkriegswachstums lebte, als dass es wesentlich zu diesem beigetragen hätte.

Anders verhielt es sich mit dem Marshallplan. Mit seiner "Milliarden-Dollarhilfe" schien er die westdeutsche Wirtschaft zu beflügeln, noch ehe die ersten Hilfslieferungen überhaupt in Bremerhaven eingetroffen waren und ließ dies auch jedermann immer wieder wissen. Mehr noch: Er schuf einen Mythos, der nicht nur das deutsche Wirtschaftswunder erklären wollte, sondern bis heute wirksam ist, wenn es darum geht, überall auf der Welt entwicklungspolitische Wunder zu bewirken.

Mythos Marshallplan

Unter den Nachwirkungen des Morgenthau-Plans beschränkte sich der Wiederaufbau der deutschen Westzonen bis Frühjahr 1947 auf die Verwaltung des deutschen Zusammenbruchs. Der Plan des einflussreichen US-Finanzministers, die deutsche Exportnation im eigenen und britischen Interesse vom Weltmarkt auszuschließen, stieß freilich rasch auf den Widerstand einflussreicher Wirtschaftskreise und der zuständigen Ministerien, wie des Außenministeriums. So änderte sich allmählich die Zielsetzung der amerikanischen Europapolitik – und damit die Rolle, die das besiegte Deutschland in Europa spielen sollte.

Die Morgenthausche Devise, Westeuropa zulasten Deutschlands zu stabilisieren, erwies sich offensichtlich als unrealistisch. Zwei Jahre nach Kriegsende hatte die US-Regierung verstanden, dass noch so umfangreiche Demontagen und andere deutsche Reparationsleistungen nicht reichten, um schwache Industrieländer wie Großbritannien oder Frankreich zu Ausstattern des europäischen Wiederaufbaus zu machen. Hingegen war ihr seit Ende 1945 bis ins Detail bekannt, dass die deutsche Wirtschaft – ungeachtet der Bombenschäden – leistungsfähiger als vor dem Kriege sein konnte, wenn man sie nur ließe. Anfang 1947 zog die US-Regierung daraus die Konsequenzen, indem sie nunmehr nach der Devise verfuhr, Westeuropa nicht länger zulasten, sondern mithilfe des deutschen Wirtschaftspotenzials zu stabilisieren.

Für die deutschen Westzonen führte dieser Kurswechsel zu einem grundlegenden Wandel der Rekonstruktionsbedingungen. Zum einen verfuhren die Besatzungsmächte nun immer großzügiger bei der Erteilung von permits, das heißt, sie erlaubten den Betrieben, die vorhandenen Anlagen, Arbeitskräfte und Rohstoffe produktiv zu nutzen. Gleichzeitig senkten sie die Demontagelast bis 1949 auf 38 Prozent des ursprünglichen Ansatzes. Das am 3. April 1948 vom US-Kongress verabschiedete European Recovery Programm (ERP), das bald nach dem federführenden Außenminister George C. Marshall benannt wurde, verkörperte die umfassendste Konzeptualisierung der neuen amerikanischen Strategie für Europa. In ihr sollte Westdeutschland – ob es wollte oder nicht – die aktive Rolle übernehmen, die seiner strategischen Bedeutung für die Stabilisierung Westeuropas entsprach.

Ludwig Erhard, der Leiter der deutschen Verwaltung für Wirtschaft, hatte im Vorfeld des Marshallplans für frei verfügbare Kapitalhilfe plädiert, deren gezielter Einsatz ermöglicht hätte, den westdeutschen Wiederaufbau zu beschleunigen und nach Wunsch zu gestalten. Tatsächlich floss aber kein einziger Dollar nach Deutschland, über den die Militärregierung, geschweige denn die deutsche Wirtschaftsverwaltung, hätten verfügen können. Der materielle Kern des ERP-Programms für Westdeutschland bestand vielmehr neben der Fortsetzung der Nahrungsmittelhilfe vor allem aus amerikanischer Devisenhilfe, die es US-Exporteuren erlaubte, von der Marshallplan-Administration (ECA) dazu bestimmte Waren nach Deutschland zu liefern, während deutsche Importeure den Rechnungsbetrag in Landeswährung auf ein "Gegenwertkonto" einzahlen konnten. Es handelte sich bei diesen Marshallplangütern auch nicht um Träger innovativer Technologien oder sonstiger aufbauspezifischer Importe. Die Lieferungen bestanden im Wesentlichen aus Rohbaumwolle und Tabak aus den Südstaaten der USA. Daran knüpften sich auf deutscher Seite Mutmaßungen, die USA würden den Marshallplan als Vorspann für die Verwertung heimischer Überschüsse nutzen. Tatsächlich betrug der Anteil an Maschinen und Fahrzeugen lediglich 2,3 Prozent der ERP-Einfuhren.

Während die im ERP-Vertrag vorgesehene Propagandamaschine schon auf Hochtouren lief, musste der deutsche "Berater für den Marshallplan" in seinem vertraulichen Jahresbericht 1948 einräumen, dass das Programm bis Anfang 1949 nur "wenig unmittelbar greifbare wirtschaftliche Ergebnisse" bewirkt hatte. Nach außen hin wurde die Öffentlichkeit aber von Anfang an falsch über die Art und das Ausmaß der Hilfsleistungen unterrichtet. In der Bevölkerung entstand so der Eindruck, dass Fortschritte dem Marshallplan und nicht der eigenen Rekonstruktionsdynamik zuzuschreiben waren.

Auch der stellvertretende Militärgouverneur, General William H. Draper, musste früh einräumen, dass das Hilfsprogramm als Folge der "heillosen Bürokratie" der Marshallplanverwaltung "vergleichsweise unwirksam" war. Im Frühjahr 1949 trafen zwar endlich Lieferungen in nennenswertem Umfang in Bremerhaven ein. Es häuften sich aber gleichzeitig die Klagen über nicht ausgenutzte Kontingente, weil deutsche Importeure Schwierigkeiten hatten, Marshallplangüter aufzunehmen – sei es, weil sie zu spät kamen, sei es, weil sie im Vergleich zum Weltmarktangebot zu teuer oder von schlechter Qualität waren, wie die in der deutschen Textilindustrie unbeliebte (low-grade) Rohbaumwolle.

Der Direktor der Verwaltung für Wirtschaft sah sich paradoxerweise vor die Aufgabe gestellt, anstatt Probleme mithilfe des Marshallplans zu lösen, das materielle ERP-Programm in Deutschland vor offenem Versagen zu bewahren. Er setzte die westdeutsche Wirtschaft solange unter Druck, bis sie schließlich "freiwillig" einwilligte, den ECA-Kontingenten Priorität vor den aus deutschen Exporterlösen finanzierten und in der Regel wettbewerbsfähigeren gewerblichen Einfuhren zu geben. Die Bank deutscher Länder war ebenfalls zähneknirschend bereit, durch ein größeres kreditpolitisches Engagement die ERP-Lieferungen bis zu einem gewissen Grad zu subventionieren.

Der Marshallplan hatte aber auch noch eine andere, für die westdeutsche Wirtschaft sehr viel wichtigere Seite: Weil die USA das deutsche Wirtschaftspotenzial für den Wiederaufbau Westeuropas nunmehr aktiv nutzen wollten, stellten sie in den bilateralen ERP-Verträgen ein Junktim zwischen dem Bezug von Marshallplanhilfe und dem Verbot der Entnahme von Reparationen aus der laufenden deutschen Produktion her. Dies betraf vor allem die Besatzungsmächte Großbritannien und Frankreich. Aber auch den anderen Reparationsgläubigern wurde der ausgesprochene Verzicht auf den größten Teil der Demontagen durch ERP-Hilfe kompensiert. Der Vorteil für die deutsche Wirtschaft lag auf der Hand, aber auch die Wirtschaft der übrigen am Marshallplan teilnehmenden Staaten profitierte von der wachsenden Stärke eines politisch von seinen Fesseln befreiten Lieferanten von Wiederaufbaugütern in der Mitte Europas. Um diesen Effekt noch zu verstärken, ließ sich die ECA ab dem zweiten Marshallplanjahr eine Methode einfallen, wie sie im Rahmen des ERP die Wiederherstellung der innereuropäischen Marktbeziehungen weiter fördern könnte. Sie knüpfte einen wachsenden Teil der Devisenhilfe an die Bedingung (conditional aid), dass der Empfänger dafür anderen Mitgliedsstaaten Ziehungsrechte (drawing rights) auf die eigene Währung gewährte. Die Verteilung der Ziehungsrechte orientierte sich an der Einschätzung von ECA, ob das jeweilige Land künftig in der Lage sei, Zahlungsbilanzüberschüsse zu erzielen oder ob es Defizite verkraften müsste. Nach Lage der Dinge – und sehr zum Ärger der deutschen Wirtschaftsverwaltung – wurde die Bizone als potenzielles Überschussland eingestuft, so wie Großbritannien, Belgien oder Italien. Gewiss wäre es 1949 auch politisch nicht gerade opportun gewesen, die Westzonen in den Genuss ERP-geförderter Devisenhilfe für Einkaufsmöglichkeiten in den europäischen Nachbarländern kommen zu lassen, wie dies für Frankreich, Österreich oder die Niederlande galt. Anders als für Großbritannien traf diese Einschätzung der wirtschaftlichen Stärke im deutschen Fall aber voll ins Schwarze.

Dieser "europäische" Marshallplan hatte aus deutscher Perspektive einen ambivalenten Charakter. Die Westzonen verloren im zweiten Marshallplanjahr nicht nur überdurchschnittlich an Devisenhilfe aus dem Marshallplan, sondern mussten erst recht in Form von conditional aid am Gesamteffekt empfangener Auslandshilfe die höchsten Kürzungen zu Gunsten von Defizitländern hinnehmen. Es ist daher nicht überraschend, dass auch Erhard und seine Mitstreiter überzeugt waren, der Marshallplan habe "nicht das Geringste" zum Aufschwung der Wirtschaft beigetragen. Tatsächlich zehrte die Unterstützung für Berlin nahezu die gesamte Auslandshilfe auf, sodass auch das US-Außenministerium davon überzeugt war, "that foreign aid is only a marginal factor in the recovery process". Es bestätigte damit Ludwig Erhards feste Überzeugung, die den wahren Kern der Wirtschaftswundermythen kritisch umschrieb: "Unter der Wirkung einer allmächtigen Propaganda, täuschender Statistik, gedankenlosen Wiederholung ungeprüfter und irriger Behauptungen (…) und vor allem völligen Verkennung der wirtschaftlichen Zusammenhänge unterblieb jede Richtigstellung nicht nur der öffentlichen Meinung, sondern auch der Ansichten der Minister und Volksvertreter, die die Verantwortung tragen."

Offensichtlich taugt der Marshallplan nicht als Erklärungsmuster für die Dynamik des westdeutschen Wirtschaftswachstums nach dem Zweiten Weltkrieg und schon gar nicht als Modell in Sachen Entwicklungshilfe. Der Marshallplan war in Westeuropa deshalb erfolgreich, weil er auf wirtschaftliche Substanz stieß. Er trug dazu bei, Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg zu stabilisieren, und gewährte potenziell starken Volkswirtschaften Hilfe zur Selbsthilfe. Vor allem aber war er eine grandiose Übung in Public Relations, die Entwicklungspolitiker bis heute in ihren Bann zieht.

Mythos "Stunde Null"

Ohne die Vorstellung einer "Stunde Null" ist der Mythos vom Wirtschaftswunder nicht denkbar. Der Ende 1944 einsetzende Absturz der Wirtschaft, das weitgehende Versagen der Infrastruktur, der völlige Austausch der politischen Eliten, die totale Machtübernahme durch die Siegermächte und – nicht zuletzt – die weiten Trümmerlandschaften in den Großstädten suggerierten die Notwendigkeit eines völligen Neuanfangs in jeder Hinsicht. Auch noch vorhandene Ressourcen trugen das Brandzeichen der Reparationen oder unterlagen einem Produktionsverbot der Besatzer, soweit sie nicht für deren Bedarf bestimmt waren. Kein Wunder, dass die Finanzminister der Länder und Provinzen der britischen Besatzungszone Ende 1945 glaubten, vor einem Produktionsapparat zu stehen, "der nahezu auf die Anfangszeiten der Industrialisierung Deutschlands zurückgeworfen ist".

Es waren die USA, die relativ rasch gewahr wurden, dass dieser im In- und Ausland 1945 weitverbreitete Glaube täuschte. Westdeutschland war noch immer eines der am höchsten entwickelten Länder der Welt und nicht so stark zerstört, wie viele noch heute glauben. Dies war das Ergebnis der von der US-Luftwaffe im März 1945 eingesetzten Gruppe renommierter Wirtschaftsforscher, die unter der Leitung von John Kenneth Galbraith die Auswirkungen des strategischen Bombenkrieges auf die deutsche Kriegswirtschaft erforschten. Diese Information trug wesentlich dazu bei, die deutsche Wirtschaft im Rahmen des Marshallplans zur Stabilisierung Westeuropas einzusetzen. Es gelang Galbraiths Team, das Ausmaß der Verluste, die die deutsche Kriegswirtschaft im Bombenkrieg erlitten hatte, nicht nur statistisch zu erfassen, sondern sich auch durch eigene Anschauung ein realistisches Bild von der verbliebenen Substanz des wirtschaftlichen Kapitalstocks zu verschaffen. Die Ergebnisse blieben der internen Information der US-Regierung vorbehalten, denn der Bericht des United States Strategic Bombing Survey war in erster Linie eine Dokumentation der "katastrophalen Misserfolge des strategischen Bombardements". Während die Zerstörung von Hamburg, Köln, Frankfurt am Main und Berlin auf Galbraiths Team "absolut Grauen erregend" wirkte, fand es schnell heraus, dass die meisten Angriffe auf Betriebe der deutschen Rüstungsindustrie nichts anderes als "kostspielige Fehlschläge" waren. Es war offenbar schwierig, die Rüstungsindustrie aus der Luft zu treffen. So kosteten die Angriffe der 8. Airforce auf die Schweinfurter Kugellagerindustrie im Spätsommer 1943 fast ein Drittel der beteiligten Flugzeuge und setzten den Verband monatelang außer Gefecht. Die Wirkung dieser Angriffe blieb zudem außerordentlich schwach.

Der Schwerpunkt der alliierten Bombenangriffe lag deshalb seit März 1942 bewusst nicht mehr auf der Rüstungsindustrie, sondern auf dem Transportsystem und den – vom Völkerrecht geächteten – Flächenbombardierungen von Wohngebieten deutscher Städte, um so die deutsche Kriegswirtschaft mittelbar zu schwächen. Auf die Zivilbevölkerung und auf Verkehrseinrichtungen fielen jeweils siebenmal mehr Bomben als auf die Rüstungsindustrie. Nur dort, wo Werk und Stadt im Gemenge lagen, wie Krupp in Essen oder die BASF im Raum Ludwigshafen/Mannheim, traf diese neue Strategie auch direkt die Kriegswirtschaft – als "Kollateralschäden" der Angriffe auf die Zivilbevölkerung. Für den seit Ende 1944 eintretenden Rückgang der wirtschaftlichen Erzeugung war daher nicht die Zerstörung des Anlagevermögens, sondern die Lähmung des Transportsystems verantwortlich. In Wirklichkeit war im Mai 1945 die Substanz des industriellen Anlagevermögens keineswegs entscheidend getroffen. Bezogen auf das "Wirtschaftswunderjahr" 1936 war das Brutto-Anlagevermögen der Industrie sogar noch um rund 20 Prozent angewachsen.

Diese auf den ersten Blick überraschende Bilanz hat im Wesentlichen zwei Gründe: Erstens war das Jahrzehnt zwischen dem Ende der Weltwirtschaftskrise und dem Beginn der strategischen Luftkriegsoffensive der alliierten Bomberverbände eine Zeit beispielloser Investitionstätigkeit. Von Anfang 1935 bis Ende 1942 beschleunigte sich das Wachstum des Brutto-Anlagevermögens von Jahr zu Jahr stärker. Erst 1944 übertrafen die Bombenschäden den Wert der laufenden Investitionen. Die relativ günstige mengenmäßige Bilanz im Jahre 1945 lässt sich in qualitativer Hinsicht noch ergänzen. Der Gütegrad, das heißt die Relation von Netto- zu Brutto-Anlagevermögen, erreichte 1945 seinen höchsten Stand seit dem Ersten Weltkrieg. Dies ist angesichts des Investitionsbooms in den Jahren des "deutschen Wirtschaftswunders" nicht weiter erstaunlich. Aus denselben Gründen ist auch der Altersaufbau des Brutto-Anlagevermögens der westdeutschen Industrie 1945 erheblich günstiger als in den 1930er Jahren. Die deutsche Wirtschaft ging also mit einem – angesichts extrem niedriger Produktionszahlen – bemerkenswert großen und neuen Kapitalstock in die Nachkriegszeit.

Zweitens war auch der für die deutsche Produktionsweise wichtigste Faktor – qualifizierte Arbeitskraft – keineswegs knapp. Gegenüber dem Stand von 1936 hatte das Arbeitskräftepotenzial 1948 in der Bizone um 17,7 Prozent zugenommen. In Westdeutschland erhöhte sich die Bevölkerungszahl bis 1950 um rund zehn Millionen – vor allem wegen des Zuzugs von Vertriebenen und Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten. Sie bildeten nicht nur quantitativ ein Reservoir für mögliches Wirtschaftswachstum, sondern entsprachen auch qualitativ den hohen Anforderungen, die das deutsche Produktionssystem an seine Arbeitskräfte stellte.

Allein diese Bilanz der Ressourcen verdeutlicht: Deutschland war am Ende des Zweiten Weltkrieges zwar arm, aber keineswegs unterentwickelt. Den Zeitgenossen blieben diese Zusammenhänge weitgehend verborgen, und so fiel den großen politischen Inszenierungen wie dem Marshallplan, der Währungsreform und dem neuen wirtschaftspolitischen Programm, der Sozialen Marktwirtschaft, die Rolle zu, das Unerklärliche begreiflich zu machen.

Rekonstruktion der nachindustriellen Wirtschaft

Auch Mythen können ein reales Eigenleben entwickeln. Sie waren notwendig, um in den Rekonstruktionsprozess einzutreten, auch wenn sie nicht hinreichend sind, ihn zu erklären. Ohne den dramatischen Wandel der amerikanischen Europapolitik, in der die Westzonen eine Schlüsselrolle einnahmen, wäre es nicht erlaubt gewesen, die vorhandenen Ressourcen zu mobilisieren. Die Währungsreform gilt den Deutschen noch heute als die eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik, ließ sich ihre politische Qualität doch nicht zuletzt mit der Stabilität ihres Geldes identifizieren. Mit der "harten" D-Mark verbanden sich bald auch glänzende wirtschaftliche und politische Erfolge: die vorzeitige Tilgung der Vor- und Nachkriegsschulden, die "Wiedergutmachung" gegenüber Israel und den NS-Opfern, die "Weltmeisterschaft" im Außenhandel, eine – ungeachtet deutscher Souveränitätslücken – große außenpolitische Handlungsfreiheit, die Finanzierung des europäischen Integrationsprozesses und die Brechung der US-Hegemonie über das Weltwirtschaftssystem durch den Aufbau eines europäischen Währungssystems, dessen Anker die D-Mark war. Für die Dynamik der Rekonstruktion war die Stabilisierung der Währung zwar nicht hinreichend, aber doch notwendig. Ähnliches gilt für die "Ordnungspolitik der sichtbaren Hand", die den deutschen Weg der Wirtschaftspolitik seit Beginn der 1950er Jahre im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft bestimmte.

Seine Dynamik bezog das deutsche Wirtschaftswunder vielmehr aus dem gewaltigen Spannungsverhältnis zwischen dem Zusammenbruch von 1945 und der deutschen Rolle als einer der Pioniere der Zweiten wirtschaftlichen Revolution, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die von der Industriellen Revolution markierte materielle Wertschöpfung der "Alten Industrien" ablöste. Die Symbiose von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, die den Kern dieser für die heutigen Verhältnisse maßgebenden "wahren" Revolution bildet, hatte Deutschland bis 1914 an die Spitze der Weltwirtschaft geführt. Sie konzentriert sich auf die Märkte für "diversifizierte" Qualitätsprodukte. Damit ist jene nachindustrielle Maßschneiderei gemeint, die bis heute Deutschlands Ruf und nachhaltigen Erfolg auf dem Weltmarkt begründet: intelligente Maschinen mit individuellem Innenleben, komplexe Industrie- und Infrastrukturanlagen, anwendungstechnisch veredelte Produkte, Verfahrenstechnik auf allen Gebieten und auch hochwertige Fahrzeuge.

Diese damals wie heute auf nahezu der Hälfte der Weltmärkte unangefochtene Stellung war durch die beiden Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise weitgehend aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. Ihre Voraussetzungen – hoher Stand des wissenschaftlich produzierten Wissens, produktive Ordnungspolitik des Staates, eine korporative Organisation der Wirtschaft und ein breit angelegtes, hoch qualifiziertes Arbeitskräftepotenzial vom Facharbeiter bis zum Unternehmer – waren aber nach wie vor in wachsendem Maße verfügbar. Hier konnte die westdeutsche Wirtschaft während der Rekonstruktionsperiode aus dem Vollen schöpfen, ohne an die Grenzen einer investiven Wachstumspolitik gehen zu müssen – zumal praktisch das gesamte soziale System der Produktion (Bankensystem, Arbeitsbeziehungen, Berufsausbildung, Interessenpolitik, Sozialstaat), das im Kaiserreich entstanden war, den Zusammenbruch von 1945 unbeschadet überlebt hatte. Die besonderen Nachfragebedingungen der Nachkriegszeit förderten freilich auch Anachronismen der materiellen Wertschöpfung und machten unter anderem die standardisierte Massenproduktion erstmals auch in Deutschland marktfähig. Am Ende der Rekonstruktionsperiode zeigte sich aber, dass die Stärke der deutschen Wirtschaft nach wie vor nicht in der Massenproduktion lag, sondern in der nachindustriellen Maßschneiderei von Maschinen und Anlagen, für die hoch qualifizierte Facharbeiter nötig waren. Deshalb stellte die Bundesregierung die Anwerbung von "Gastarbeitern", die für die Tätigkeiten in der Massenproduktion vorgesehen waren, Anfang der 1970er Jahre wieder ein.

Es zeigte sich bald, dass deutsche Investitionsgüter in der Nachkriegszeit nicht nur in Europa, wie es dem Wunsch der USA entsprach, sondern auch auf dem Weltmarkt begehrt waren. Dem Bundeswirtschaftsministerium war schon früh bewusst, dass der Überseehandel mit einem "bloßen Warenverkehr" immer weniger gemein hatte. Galt zur Zeit der Industriellen Revolution noch die Devise trade follows the flag – und damit die Prärogative der Kolonialmächte –, war das Wirtschaftsministerium überzeugt, dass längst die Phase trade follows the engineer angebrochen war, in der den deutschen, von Anfang an weltmarktorientierten "Neuen Industrien" komparative Wettbewerbsvorteile zuwuchsen.

Schon Anfang der 1950er Jahre, also lange bevor 1980 der Begriff "Schwellenländer" aufkam, nahm der deutsche Export damit jene Länder ins Visier, die anstrebten, den Status von Agrar- und Industrieländern zu überwinden, um in den Club der nachindustriellen Wirtschaft einzutreten, den die Zweite wirtschaftliche Revolution geschaffen hatte. Deutschland war von Anfang an Partner dieses neuen "weltwirtschaftlichen Wachstumsgeschäfts", das "große Aufgaben und verheißungsvollen Absatz" versprach. Mit ihren "Neuen Industrien" Großchemie, Elektrotechnik, Maschinen- und Fahrzeugbau, die seit dem späten 19. Jahrhundert zur nachindustriellen Maßschneiderei fähig waren, verfügte es über hohe Qualitäten als Ausstatter für Schwellenländer und musste von dieser Entwicklung des Weltmarktes profitieren. Die Rückkehr zur Strategie der ersten Phase der "Globalisierung" vor 1914 wurde der deutschen Exportwirtschaft reichlich belohnt, als mit China (1978) und den Ostblockstaaten (1990) wichtige "alte" Kunden wieder in den Weltmarkt eintraten und die Dynamik einer neuen Generation von Schwellenländern dafür sorgte, dass Deutschland seine seit 1952 bestehende Position als führendes und nachhaltiges Überschussland weiter ausbauen konnte.

Die Rolle Deutschlands auf dem Weltmarkt macht beispielhaft klar, dass es nicht die Rückkehr auf den alten Wachstumspfad allein war, die die Dynamik des Rekonstruktionsprozesses erklärt. Der nahtlose Anschluss an die nachindustrielle Verfassung der deutschen Wirtschaft, der sich dabei vollzog, war das eigentliche Wunder.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. "Es ist fast wie ein Wunder", in: Allgemeine Kölnische Rundschau, 27.8.1948, S. 1.

  2. Hans-Erich Priester, Das deutsche Wirtschaftswunder, Amsterdam 1936.

  3. Aus den Betrieben (April 1937), in: Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade), 4. Jg. Nr. 3, April 1937, Prag, S. 315.

  4. Das deutsche "Wirtschaftswunder" und die Weltwirtschaft (April 1936), in: ebd., 3. Jg. Nr. 4, April 1936, Prag, S. 518–535, hier S. 535.

  5. Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, Hamburg 1947, S. 137.

  6. Siehe Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart, München 20112, Kap. I und II.

  7. Vgl. zum Marshallplan ders., Deutsche Wirtschaftspolitik zwischen europäischer Integration und Weltmarktorientierung, in: ders. (Hrsg.), Das Bundeswirtschaftsministerium in der Ära der Sozialen Marktwirtschaft. Der deutsche Weg der Wirtschaftspolitik, Berlin–Boston 2016, S. 484–497.

  8. Bundesarchiv Koblenz (BAK), B 146/289, 27.1.1949, S. 2.

  9. National Archives and Records Administration (NARA), RG 286, Germany, Box 4, Confidential and Personal to Royal and Voorhees from Draper, 1.7.1948.

  10. Zwei Jahre Wirtschaftsaufschwung, in: Währung und Wirtschaft 1949/50, hrsg. v. Ludwig Erhard et al., S. 521f.

  11. NARA, RG 213, NSC, State Department, US Policy Respecting Germany, 23.3.1949.

  12. Dollar-Gift, in: Währung und Wirtschaft 1949/50, hrsg. v. Ludwig Erhard et al., S. 437.

  13. Detmolder Memorandum von 17. November 1945, in: Hans Möller (Hrsg.), Zur Vorgeschichte der Deutschen Mark. Die Währungsreformpläne 1945–1948, Tübingen 1961, S. 117.

  14. USSBS, The Effects of Strategic Bombing on the German War Economy. Overall Economic Effects Division, Washington D.C., 31.10.1945; siehe auch John K. Galbraith, Leben in entscheidender Zeit, München 1981, S. 227.

  15. Ebd., S. 203.

  16. Ebd., S. 227.

  17. USSBS Summery Report (European War), 30.9.1945, S. 5.

  18. Siehe dazu und zu den folgenden Zahlen: W. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Kap. II,1.

  19. Werner Abelshauser/Christopher Kopper, Ordnungspolitik der sichtbaren Hand. Das Bundeswirtschaftsministerium und die Kunst der Wirtschaftspolitik, in: Werner Abelshauser (Hrsg.), Das Bundeswirtschaftsministerium in der Ära der Sozialen Marktwirtschaft, S. 22–94.

  20. Analytiker dieses Paradigmenwechsels waren Douglass C. North/Robert P. Thomas, The Rise of the Western World. A New Economic History, Cambridge 1973; Douglass C. North, Structure and Change in Economic History, New York 1981. Zu seinen Folgen für das wirtschaftliche Weltbild der Gegenwart siehe Werner Abelshauser, Von der Industriellen Revolution zur Neuen Wirtschaft. Der Paradigmenwechsel im wirtschaftlichen Weltbild der Gegenwart, in: Jürgen Osterhammel/Dieter Langewiesche/Paul Nolte (Hrsg.), Wege der Gesellschaftsgeschichte, Geschichte und Gesellschaft Sonderheft 22, Göttingen 2006, S. 201–218.

  21. Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftspolitik zwischen europäischer Integration und Weltmarktorientierung, in: ders. (Anm. 7), S. 482–582, hier S. 508f.

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ist Forschungsprofessor für Historische Sozialwissenschaft an der Universität Bielefeld und Mitglied der unabhängigen Geschichtskommission des Bundeswirtschaftsministeriums.
E-Mail Link: werner.abelshauser@uni-bielefeld.de