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Der Islam Editorial Ein arabisches Dilemma Die muslimische Welt und der Westen Der Islam als Faktor in der internationalen Politik Der Islam in der arabischen Welt Zum "peripheren Islam" in Südostasien Der Islam im subsaharischen Afrika Macht und Glauben in Zentralasien

Der Islam als Faktor in der internationalen Politik

Sabine Riedel

/ 25 Minuten zu lesen

Handelt es sich bei dem Islam um eine "kriegerische und theokratische Religion"? Ein kritischer Diskurs.

I. Problemstellung

Mit den Anschlägen auf das World Trade Center vom 11. September 2001 rückte ein Thema ins Zentrum der Weltöffentlichkeit, nämlich die Bedrohung der westlichen Zivilisation durch islamistische Gewalt. In einer Rede am 20. September 2001 vor dem Kongress der Vereinigten Staaten traf US-Präsident George W. Bush folgende Einschätzung zum Netzwerk der al-Qa'ida: "Diese Gruppe und ihr Führer - eine Person namens Osama Bin Laden - werden mit vielen anderen Organisationen in verschiedenen Ländern in Verbindung gebracht, einschließlich des Ägyptischen-Islamischen Dschihad und der Islamischen Bewegung Usbekistans. Es gibt Tausende dieser Terroristen in mehr als 60 Ländern. Sie werden in ihren eigenen Ländern und Nachbarschaften rekrutiert und in Lager wie beispielsweise in Afghanistan gebracht, wo sie in der Taktik des Terrors ausgebildet werden."

Auch wenn keine Regierung der islamischen Welt konkret der Unterstützung terroristischer Gruppen beschuldigt wird, so enthält dieses Zitat dennoch eine ganz wesentliche Kernaussage: Mit der unterschwelligen These, dass alle 57 Mitgliedstaaten der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) für eine potentielle Mittäterschaft islamistischer Gewalt in Betracht kämen, wird ein für die westliche Welt und die internationale Politik äußerst relevantes Bedrohungsszenario begründet. Es tradiert und belebt das jahrhundertealte westliche Bild vom Islam als "einer eroberungslustigen, kriegerischen und theokratischen Religion". Mit dieser Einschätzung steht der französische Islamwissenschaftler Alexandre del Valle nicht allein, sondern befindet sich in einem Kreis anerkannter Orientalisten und Politikwissenschaftler. So behauptet Bernard Lewis, Mitherausgeber der Encyklopedia of Islam, dass sich im Islam die Frage nach der Trennung von Kirche und Staat nie stellte, weil dazu einfach die theoretische und historische Basis fehlten. Er prägte den Ausdruck "Kampf der Kulturen", der den amerikanischen Politologen Samuel Huntington zu seinem gleichnamigen Buch inspirierte. Darin verlängert er Lewis' Einschätzung zu der generalisierenden Aussage, dass im Gegensatz zur universalistisch angelegten westlichen Kultur andere Kulturkreise die Trennung von Kirche und Staat ablehnten: "Im Islam ist Gott der Kaiser; in China und Japan ist der Kaiser Gott; in der Orthodoxie ist Gott des Kaisers Juniorpartner." Deshalb stünden in der islamischen Welt die religiösen Werte denen des säkularen westlichen Kulturkreises prinzipiell ablehnend bis feindlich gegenüber.

Diese Kernthese zieht sich ebenso in Deutschland wie ein roter Faden durch die aktuellen Debatten um den Islam und dessen Verhältnis zur Gewalt. Nicht nur in den Frankfurter Heften wiederholt sich die Aussage, "im Machtbereich des Islam" habe es "keine der europäischen Reformation, Aufklärung und Säkularisierung vergleichbare Modernisierung" gegeben. Namhafte deutsche Islamwissenschaftler bieten hierfür die Vorlagen und sprechen wie z.B. Tilman Nagel von einer "islamischen Verknüpfung von Glaube und Staat", so dass Säkularisierungsprozesse nur jüdisch-christlichen Gesellschaften vorbehalten blieben.

Diese Liste ließe sich beliebig erweitern, die unabhängig von sachlich fundierten Einwänden diese Säkularisierungsthese täglich aufs Neue reproduzieren und damit unser Verhältnis zur islamischen Welt so folgenreich prägen. Angesichts des Beharrungsvermögens solcher Stereotypen drängt sich ein Verdacht auf: Könnte es sein, dass diese These eines modernisierungsfeindlichen und antiwestlichen Islam letztlich mehr über die religiös begründeten Bedrohungsängste westlicher Gesellschaften aussagt als über den Orient selbst? Entwickelt eine solche Bedrohungsperzeption nicht erst den Faktor Religion zum Instrument von Politik? Soll sie gar die Außenpolitik säkularer Staaten gewissermaßen religiös legitimieren? Eine von Gott verliehene Macht müsste sich keinem Pluralismus von Mächten und deren internationaler Ordnung beugen.

Wenn dieser Beitrag den Islam als Faktor in der internatonalen Politik näher untersuchen möchte, so sind insgesamt zwei Ebenen zu berücksichtigen: Zum einen ist dies die Ebene der staatlichen Akteure, d.h. die traditionelle Ebene der internationalen Politik. Hier interessiert uns die Frage, wie sich in den politischen Systemen der islamischen Welt das Verhältnis von Staat und Religion gestaltet. Ist es tatsächlich so, dass an ihnen der Modernisierungsprozess vorbeigegangen ist und sie überwiegend islamistische Systeme darstellen? Auf der zweiten Ebene haben wir dann nichtstaatliche oder gar private Akteure, die einen immer größeren Einfluss auf die Entwicklung der internationalen Beziehungen nehmen. Hierzu gehören sowohl islamische Stiftungen und Parteien wie auch islamistische Akteure, zu denen auch terroristische Gruppen gehören, wie z.B. die al-Qa'ida des Osama Bin Laden. Hier stellt sich die Frage als Herausforderung an die internationale Politik: Wie groß ist die Reichweite dieser Netzwerke? Von wem werden sie unterstützt und finanziert?

II. Politischer Islam, islamischerFundamentalismus, Islamismus

Eine wichtige Bemerkung muss vorangestellt werden: Zahlreiche Autoren verwenden die genannten Begriffe, ohne dem Leser zu erklären, was sie darunter genau verstehen. Dies fällt beim Ausdruck "politischer Islam" besonders ins Auge. Zu welchen anderen Begriffen setzt er sich ins Verhältnis oder grenzt er sich ab? Etwa zu einem "unpolitischen Islam"? In diesem Fall hätten wir den Grad des zielgerichteten und handlungsorientierten Auftretens als Bestimmungskriterium ausgewählt.

1. Politischer Islam

Setzen wir voraus, dass sich der "politische Islam" durch den hohen Grad an politischer Aktivität definiert und sich somit als Gegenpol zur passiven Masse der Gläubigen des Islam versteht, so bleibt dennoch die Frage unbeantwortet, welche Akteure ihn eigentlich vertreten. Den Islam als Religionsgemeinschaft können aber nur die islamischen Geistlichen repräsentieren, zu denen je nach Glaubensrichtung Imame (ima'm - Vorbeter), Mullahs (mulla'h - Gelehrter), islamische Wissenschaftler ('ulama') und islamische Rechtsgelehrte (fuqaha') gehören. Doch wenn derzeit von "Führern des politischen Islam" z.B. in der Türkei gesprochen wird, ist ausschließlich die Rede von Vertretern politischer Bewegungen, die ihre Programme nach religiösen Werten ausgerichtet haben. Damit wird jedoch die Unterscheidung zwischen politischen und religiösen Akteuren aufgegeben und stillschweigend die These akzeptiert, es gebe im Islam keine Trennung von Kirche und Staat.

Die genuine Frage der Politikwissenschaft, wie sich Herrschaft legitimiert und wie sich in dem betreffenden Staat speziell das Verhältnis zwischen Religion und Politik institutionell gestaltet, lässt sich mit dem Begriff des "politischen Islam" nicht sinnvoll bearbeiten. Denn mit der Annahme einer "islamischen Verknüpfung von Glaube und Staat" erübrigt sich die Analyse einer möglichen gegenseitigen Instrumentalisierung. Die Unterscheidung zwischen der religiös legitimierten Herrschaft eines weltlichen Führers und der weltlich legitimierten Herrschaft eines Klerus, d.h. eines theokratischen Systems, wäre demnach nur eine formale und ohne weiteren Erkenntnisgewinn.

2. Islamischer Fundamentalismus

Im Gegensatz zum Begriff des "politischen Islam" setzen die beiden anderen Begriffe, der "islamische Fundamentalismus" sowie der "Islamismus", voraus, dass es in der islamischen Welt sehr wohl eine Säkularisierung und damit einen Modernisierungsprozess gegeben hat. Andernfalls könnten wir heute nicht von einem islamischen Fundamentalismus sprechen bzw. von islamischen Bewegungen, die ihre religiösen Grundlagen in Gefahr sehen und zu den Ursprüngen ihrer Religion zurückfinden wollen.

Doch zu welchem Fundament ihrer Religionslehre können Muslime überhaupt zurückkehren? Was bedeutet der Fundamentalismus im Islam? Über diese Frage haben sich die Muslime von Anfang an, also schon kurz nach dem Tod des Religionsstifters Mohammed Mitte des 7. Jahrhunderts, zerstritten. Die Muslime spalteten sich nämlich bei der Frage um dessen geistige und politische Nachfolge, d.h. um die Besetzung des Kalifats, in Sunniten und Siiten. Der Titel Kalif (hali'fa) bedeutet soviel wie "Nachfolger" (Mohammeds) und "Stellvertreter" (Gottes) und kennzeichnete sowohl den weltlichen Herrscher wie auch den "Fürst der Gläubigen" (ami'r al mu'mini'n) und Vorbeter des Freitagsgebets (ima'm).

Während die Siiten das Amt des Kalifen als erblich betrachteten und meinten, dieses Amt müsse an den nächsten engsten Verwandten des Religionsstifters übergehen, genügte es den Sunniten, dass jemand aus dem Stamm des Propheten zu dessen Nachfolger bestimmt wird. Wichtig war ihnen vor allem die so genannte Sunna des Propheten, d.h. die Überlieferung von dessen Lebensweise. Anhand verschiedener Berichte (hadi'th) und Belegketten (isna'd) wurde sie rekonstruiert und zum Vorbild des Muslimseins bestimmt. Darüber hinaus diente die Sunna zur Weiterentwicklung des islamischen Rechts, die unter abbasidischer Herrschaft ab Mitte des 8. Jahrhunderts allmählich in die Hand islamischer Wissenschaftler ('ulama') übergegangen war und verschiedene Rechtsschulen begründete. Wenn heute islamische Fundamentalisten des sunnitischen Islam zu den ursprünglichen Quellen ihres Glaubens zurückfinden wollen, so stehen sie vor einem Problem: Sie verkennen, dass die Sari'a kein unveränderbares Recht darstellt. Vielmehr ist die Sari'a eine über Jahrhunderte gewachsene Sammlung, Systematisierung und Interpretation des islamischen Rechts und damit letztlich ein von Menschenhand gefertigter und entwickelter Rechtskorpus.

3. Islamismus

Wie sieht der islamische Fundamentalismus dagegen unter den Siiten aus, die das Kalifat als erblich ansahen und darauf bestanden, dass dieses Amt einem Nachkommen 'Ali's übertragen werden müsse? So bezeichnet der Name Siiten bis heute die Anhängerschaft, d.h. die "Partei", 'Ali's - eines der ersten vier Kalifen. Wie erwähnt haben diese die Sunna des Propheten von Anfang an als Rechtsquelle abgelehnt. Für sie wäre es ein einfaches, sich auf den Koran als einzige Quelle zu beschränken und die gesamte Rechtsentwicklung der klassischen Periode abzulehnen. Doch im iitischen Islam gibt es eine Besonderheit, die für unsere Begriffsbestimmung entscheidend ist. Unter den iiten konnten nämlich islamische Rechtsschulen überleben, die von der sunnitischen Tradition rasch verdrängt oder marginalisiert worden waren. Dazu gehören u.a. solche Schulen, die sich bei der Auslegung der Quellen auch rationaler Argumente bedienten. Als Methoden der Wahrheitsfindung im islamischen Recht sind z.B. zu nennen die Analalogie, der Konsens unter den Gelehrten, der Vergleich und die Anstrengung bei der Exegese ('ig'tiha'd). Diese Elemente haben sich bis heute nicht nur im sunnitischen, sondern vor allem im s'iitischen Islam erhalten.

Im Unterschied zum sunnitischen Fundamentalismus sind also die iranischen Mullahs nicht auf eine buchstabengetreue Auslegung mittelalterlicher Rechtsquellen aus der sari'a angewiesen, sondern in der Lage, die s'iitische Lehre für eine flexible Interpretation des Islam zu nutzen. Ihre Lehrgebäude können sie sogar mit einer modernen Ideologie verbinden und damit den Griff nach der weltlichen Macht in Form einer Theokratie legitimieren. Begünstigt wurde eine solche Entwicklung durch eine weitere Besonderheit des siitischen Islam: Im Gegensatz zum sunnitischen Islam entstand im Verlauf des 16. Jahrhundert allmählich eine Hierarchie unter der islamischen Geistlichkeit, d.h. ein iitischer Klerus. Je nach Position konnte nun ein islamischer Gelehrter einen geringeren oder auch einen größeren Einfluss auf die Auslegung der iitischen Lehre haben. Aus diesem Grund schlägt der Islamwissenschaftler Heinz Halm vor, im Falle des Iran nicht von einem islamischen Fundamentalismus, sondern vom Islamismus zu sprechen.

Ein Begriff sollte noch kurz erklärt werden, nämlich der "g'ihad" - d.h. der Heilige Krieg. Er geht zurück auf eine wichtige Methode der islamischen Rechtsfindung, nämlich auf die Anstrengung bei der Exegese ('ig'tiha'd) der islamischen Rechtsquellen, und bedeutete ursprünglich "das Sich-Bemühen-um-Gott". Von diesem Wortstamm leitet sich die Bezeichnung "mug'a'hidi'n" ab, d.h. die "Gotteskrieger". Danach haben sich in der Moderne nicht nur religiöse Bewegungen, sondern auch säkulare Widerstandsorganisationen benannt.

III. Die islamische Staatenwelt zwischenModernisierung und Re-Islamisierung

Die begriffliche Unterscheidung zwischen einem islamischen Fundamentalismus, der unsere moderne Welt mit den Augen einer mittelalterlichen Theologie betrachtet und begrenzt, und einem Islamismus, dessen Lehre offen ist für verschiedene ideologische Strömungen unserer Zeit, hat nicht nur seine inhaltliche Berechtigung. Mit ihr kann man auch die Unterschiede in den politischen Systemen derjenigen Staaten besser verstehen, die sich selbst als islamisch bezeichnen. So eignet sich das mittelalterliche religiöse Rechtssystem der Sari'a, d.h. also der islamische Fundamentalismus, offenbar ideal zur politischen Legitimation einer Monarchie.

1. Das politische System Saudi-Arabiens

Hierfür ist Saudi-Arabien ein besonders interessantes Beispiel, wo sich die weltliche Macht durch den Wahha'bismus legitimiert, eine islamisch-fundamentalistische Strömung aus dem 18. Jahrhundert. Die arabische Halbinsel hat schon seit jeher eine große Bedeutung für die Muslime weltweit, weil sie die heiligen Stätten des Islam beherbergt, nämlich Mekka und Medina als Wirkungs- und Geburtsstätte des Religionsstifters Mohammed. Die ältesten Spuren der heutigen saudischen Königsfamilie gehen auf den Stammesfürsten Muhammad Ibn Sa'ud zurück, der um 1750 eine Allianz mit dem Religionsgelehrten Muhammad Ibn 'Abd al-Wahha'b einging. Sein Bündnis mit der ersten Bewegung islamischer Fundamentalisten, die sich eine strenge und buchstabengetreue Auslegung des Korans und der Sunna auferlegt hatten, zielte darauf, das Territorium der arabischen Halbinsel der Herrschaft des osmanischen Sultans zu entreißen. Dies gelang einem seiner Nachkommen, nämlich 'Abd al-'Azi'z II. - bekannt als Ibn Sa'ud -, allerdings erst nach dem Ersten Weltkrieg und mit britischer Unterstützung, d.h. durch den legendären Lawrence von Arabien. Im Jahre 1932 wird der Staat offiziell zum Königreich Saudi-Arabien erklärt.

Sein politisches System ist eine der ganz wenigen absoluten Monarchien, die es weltweit noch gibt. Es kennt weder ein Parlament noch Parteien oder gar Gewerkschaften. Der König regiert nach dem Vorbild der mittelalterlichen Sari'a, d.h. nach islamischen Rechtsvorschriften aus dem Koran und der Sunna nach der wahha'bitischen Schule. Doch ist er nicht nur Staats- und Regierungsoberhaupt in einer Person, sondern entsprechend dem mittelalterlichen Gesellschaftsideal auch geistiges Oberhaupt der saudischen Muslime. Grenzen seiner Macht bestehen auf politischer Ebene nur in Person der 120 Mitglieder des Konsultativrates (magli's as'-s'ura), die der König alle vier Jahre selbst ernennt. Dessen mehrheitlich gefassten Beschlüsse werden dem vom König ernannten Ministerrat vorgelegt, der sie wiederum an den König weiterleitet. An politischen Schlüsselpositionen sowie in der Verwaltung sitzen etwa 5 000 Prinzen aus der Herrscherdynastie.

Doch auch auf religiöser Ebene gibt es geringfügige Einschränkungen. Denn der König ist zwar geistliches Oberhaupt und zudem Hüter der heiligen Stätten Mekka und Medina. Doch wacht nicht er, sondern die islamischen Wissenschaftler (ulama') und Rechtsgelehrten (fuqaha') über die Einhaltung der Sari'a. Da der Islam per Verfassung auf die Lehrmeinung des Wahha'bismus festgelegt ist, beruft der König Anhänger dieser Lehre in ein nichtstaatliches Gremium von islamischen Geistlichen, welche die Einhaltung der religiösen Gesetze im gesamten öffentlichen Leben kontrollieren. Die Folgen sind eine strenge asketische Lebensweise, ein Verbot von Kinos und Theater, d.h. eine völlige Kontrolle über sämtliche Kulturveranstaltungen. Diesem Traditionalismus ist es auch zu verdanken, das die Analphabetenrate unter den Frauen 1995 noch 50 Prozent betrug.

2. Das politische System der Republik Iran

Betrachten wir als zweites das politische System eines Staates, das nicht von der sunnitischen, sondern von der iitischen Glaubensrichtung her die Trennung von Staat und Religion ablehnt, nämlich das der Republik Iran. Hier diente der Islam als ideologische Grundlage nicht etwa zur Festigung einer Monarchie; vielmehr trug er entscheidend zum Sturz eines monarchischen Regierungssystems bei. Die Tatsache, dass der frühere persische Schah in seiner Politik der Säkularisierung vom Westen unterstützt wurde, war vielleicht eine besondere Triebfeder für die ideologische Rolle der Religion zur sozialen Mobilisierung einer Revolution.

Welche Rolle spielt die Religion im politischen System der Islamischen Republik Iran? Statt des allmächtigen Königs wie im Falle Saudi-Arabiens steht der Religionsführer an der Spitze des Staates. Er wurde aus der Mitte eines Expertenrats von 86 iitisch-muslimischen Geistlichen gewählt. In seiner Kompetenz liegt die Wahl der Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten, der alle vier Jahre durch das Volk gewählt wird. Der Präsident bestimmt den Ministerrat und führt selbst die Regierungsgeschäfte. Da das iranische Volk alle vier Jahre auch ein Parlament wählt, das gegen die Regierung ein Misstrauensvotum mit Zweidrittelmehrheit durchsetzen kann, ist Iran vom Regierungssystem her eine Präsidialdemokratie. Die demokratischen Elemente werden allerdings durch die mächtige Stellung des Religionsführers geschwächt: Er kann über den von ihm ernannten Wächterrat aus muslimischen Geistlichen ein Veto gegen alle Parlamentsbeschlüsse einlegen und so das Parlament kontrollieren. In Streitfällen entscheidet dann ein weiteres Gremium - eine Versammlung muslimischer Geistlicher natürlich im Geiste einer ganz speziellen iitischen Religionslehre, die vom Religionsführer vertreten wird. Diese Religionslehre gehört nicht zur Tradition der iranischen Mullahs, sondern wurde erst durch Religionsführer Ajatollah Khomeini populär.

3. Dominanz der weltlichen oder geistlichen Macht?

Die Gegenüberstellung dieser beiden Staaten führt uns die gesamte Spannbreite vor Augen, zwischen der sich die Regierungssysteme der islamischen Welt bewegen: Wie in unserer westlichen Staatenwelt stehen sich auch im Orient zwei Systempole als Antipoden gegenüber: Auf der einen Seite haben wir das Modell der weltlichen Macht, die sich nicht nur religiös legitimiert, sondern die religiöse Macht völlig kontrolliert. Wie beschrieben, ist Saudi-Arabien ein ideales Beispiel für einen solchen Cäsaropapismus. Auf der anderen Seite jedoch erkennen wir am Beispiel Irans das Modell einer Theokratie, in dem sich der Klerus die staatliche Macht vollständig untergeordnet hat. Allein aus dieser empirischen Beobachtung heraus lassen sich für unser Verständnis von der islamischen Welt wichtige Schlussfolgerungen ziehen:

Der Vergleich zeigt erstens, dass die von vielen Orientalisten behauptete wesenhafte Verknüpfung von Staat und Religion auch in der modernen islamischen Welt längst nicht mehr existiert. Denn solche Regierungssysteme, die sich unter dem Einfluss historischer Vorbilder als islamisch bezeichnen, sind in Wirklichkeit von einem klaren Dominanzverhältnis geprägt, in dem entweder die weltliche oder die geistliche Macht die jeweils andere beherrscht.

Die islamischen Regierungssysteme sind zweitens im Gegensatz zu ihrem äußeren Anschein moderne Formen der Herrschaft. Nach Meinung des ägyptischen Islamwissenschaftlers Nasr Hamid Abu Zaid war bis zum 19. Jahrhundert "die Idee, dass der Islam gleichzeitig Religion und Staatsform, di'n w dawla, sein könnte, schlicht inexistent". So weist er darauf hin, dass sich ab dem 8. Jahrhundert "eine Trennung zwischen Palast und Moschee" vollzog, da die Rechtssprechung in die Hände islamischer Gelehrter überging. Dieses vormoderne Verhältnis zwischen weltlicher und geistlicher Macht lässt sich wie im Christentum als ein symphonisches deuten.

Die Aufkündigung der Symphonie zwischen Staat und Religion in der Moderne hat drittens ganz offensichtlich zu unterschiedlichen Regierungssystemen geführt. Da diese Differenz auch unter islami(sti)schen Systemen sichtbar wird, lässt sich schlussfolgern, dass sich durch den Islam kein bestimmtes Regierungssystem begründen lässt. Darauf hat schon eine Reihe von islamischen Religionsgelehrten hingewiesen, u.a. der Ägypter 'Ali' 'Abd ar-Ra'ziq. In seinem Buch "Der Islam und die Grundlagen politischer Herrschaft" vertrat er schon im Jahre 1925 die These, dass die Frage des politischen Systems der freien Entscheidung der Menschen überlassen sei.

4. Schleichende Re-Islamisierungsprozesse

Ein Blick auf die islamische Welt zeigt, dass im Verlauf des 20. Jahrhundert die meisten Staaten mehr oder weniger säkulare Systeme hervorgebracht haben. Hier sei in aller Kürze auf die Zeit der Kolonialherrschaft verwiesen, als deren Folge weltliche Ideologien erstarkten, wie z.B. der arabische Nationalismus in Nordafrika und im Nahen Osten. Erst unter dem Einfluss einer weltweit einsetzenden Re-Sakralisierung, die in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzte und alle Weltreligionen ergriff, wurde auch die islamische Welt zunehmend von Re-Islamisierungsprozessen beeinflusst. Die Graphik 2 bemüht sich um eine systematisierte Darstellung dieser Prozesse. Grundlage und Anregung für diese Skizze bot die Begriffsanalyse des amerikanischen Politologen Juan J. Linz.

Die Re-Islamisierung geschah in jedem Land unterschiedlich und mit verschiedener Intensität: Ägypten z.B. veränderte im Jahre 1979 einen Artikel seiner Verfassung, in dem es von nun an hieß: "Die Grundlagen des islamischen Rechts sind eine Hauptquelle der Gesetzgebung." Wie bei Miklos Muranyi nachzulesen, war dies zunächst Quell heftiger Meinungsverschiedenheiten. Denn alsbald stellte sich die Frage, zu welchen islamischen Quellen eine "Rekonstruktion des Urislam" zurückführen sollte. Wie bereits erwähnt, hat es "die Sari'a" als einheitliches Rechtsgebäude nie gegeben, sondern sie war stets ein dynamischer, d.h. von verschiedenen Schulen abhängiger Rechtskorpus. Ähnliche Dispute gab es in anderen Ländern der islamischen Welt, die ebenfalls ihr nationales Rechtssystem gegenüber der Sari'a geöffnet haben, so z.B. in Tunesien, Algerien, Marokko, der Westsahara und in anderen afrikanischen Staaten und nicht zuletzt auch im Königreich Jordanien.

Doch nur in einigen Ländern erfolgten Verfassungsänderungen zugunsten eines islamistischen Regierungssystems wie in Pakistan (1973), Iran (1979), Sudan (1986), Afghanistan (1990) und Jemen (1991). Das Beispiel Libyen zeigt uns, wie ein säkulares politisches System Schritt für Schritt islamisiert wurde: Es begann mit einer Verfassungsänderung im Jahre 1969, die den Islam zur Staatsreligion erhob. Im Jahre 1972 erfolgte die Einführung koranischer Strafen für Diebstahl und Straßenraub, 1973 Strafen für Ehebruch und 1974 die Strafe der Auspeitschung für den Alkoholgenuss. Im entscheidenden Jahr 1977 beschloss der Allgemeine Volkskongress unter seinem damaligen Generalsekretär Mucammar al Qadhdha'fdi' eine Verfassungsreform. Seitdem wird nur noch der Koran, nicht jedoch die Sunna als Rechtsgrundlage akzeptiert.

IV. Nichtstaatliche Akteurezwischen islamischen Stiftungenund islamistischen Netzwerken

Wie das Beispiel Libyen zeigt, wurden in den meisten Ländern der islamischen Welt die Re-Islamisierungsprozesse gerade nicht von oppositionellen Kräften, sprich von nichtstaatlichen Akteuren betrieben. Als Haupttriebfeder müssen vielmehr die herrschenden Eliten der jeweiligen Länder gesehen werden, die aus verschiedenen Gründen mit ihren Modernisierungsversuchen gescheitert waren - sei es im Rahmen sozialistischer Gesellschaftsentwürfe oder auf der Basis nationalstaatlicher Entwicklungsmodelle nach dem Vorbild des Panarabismus. Der Politikwissenschaftler Mir Ferdowsi drückt dies mit den folgenden Worten aus: "Die Hauptursache der fundamentalistischen Gewalt unserer Tage ist das völlige Versagen der herrschenden Regime - seien sie nun republikanisch oder monarchisch, sozialistisch oder kapitalistisch, progressiv oder konservativ - und zwar in allen Bereichen der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Erziehung und der Kultur."

Wenn sich heute auch Regimekritiker mit islamischen oder islamistischen Ideen zur Wehr setzen, so ist dies eine Antwort auf die politische Instrumentalisierung des Islam. Der ägyptische Islamwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid wies in einer Diskussion darauf hin, dass die Eliten mit ihren politischen Bezügen auf vermeintlich islamische Traditionen den Re-Islamisierungsprozess letztlich selbst geweckt und so den heutigen Diskursrahmen vorgegeben hätten.

1. Instrumentalisierung des Islamdurch führende politische Eliten

Viele Beispiele geben dieser Einschätzung Recht: Denn wenn Revolutionsführer Mucammar al Qadhdha'fdi' islamisches Recht auf der Grundlage des Koran nach eigenem Gutdünken interpretiert, danach Parteien verbietet und öffentliche Ämter besetzt, so ist dies für eine Gesellschaft, die über Jahrhunderte den sunnitischen Glauben tradiert hat, äußerst befremdlich. Es ruft geradezu zwangsläufig oppositionelle Bewegungen auf den Plan. Diese reichen von konservativen politischen Kräften, die den Islam lediglich als Wertesystem ihres politischen Handelns betrachten, bis hin zu islamistischen Kräften, die das politische System im Gegensatz zur bestehenden politischen Ordnung allein nach ihrer angeblich "wahren" Glaubenslehre ausrichten wollen.

Ein anderes Beispiel hierfür ist Algerien. Dieses nordafrikanische Land begann bereits Anfang der sechziger Jahren im Zuge der Entkolonialisierung mit seiner Rückbesinnung auf eigene traditionelle Werte. Sechs Jahre vor Libyen - und zwar im Jahre 1963 - führte es mit der neuen Verfassung den Islam als Staatsreligion ein. Doch sollte der Re-Islamisierungsprozess anders als im afrikanischen Nachbarland verlaufen. Die Instrumentalisierung der Religion führte nicht zur Marginalisierung der sunnitisch-muslimischen Geistlichkeit Libyens. Vielmehr richteten die algerischen Machthaber offenbar nach dem Vorbild der Türkei ein "Ministerium für religiöse Angelegenheiten" ein, welches fortan die Imame auf ihre religiösen Ämter einsetzte. Doch infolge der französischen Kolonialherrschaft und des Bruchs mit den eigenen Traditionen verfügte Algerien über keine eigenen Ausbildungsstätten für religiöse Geistliche wie noch Tunesien, Marokko oder Ägypten. Zudem bevorzugt die Elite des Landes bis heute das Französische statt das Hocharabische als Bildungssprache.

Dies ist der ideale Nährboden für Fundamentalisten und Islamisten, wie sie sich in der Islamischen Heilsfront organisiert haben. Ihre Abkürzung FIS geht im Übrigen nicht auf einen arabischen, sondern auf den französischen Namen zurück, nämlich: "Front Islamique du Salud" (FIS). Sie nutzen die Jahrzehnte eines säkularen Gesellschaftssystems dazu, ihr Bild eines algerischen Islams zu rekonstruieren, der nicht viel mit eigentlichen Traditionen des Landes zu tun hatte. Weitaus gefährlicher ist eine Abspaltung der islamistischen FIS, nämlich die "Groupe islamique armé" (GIA), die das Regime auch mit militärischen Mitteln bekämpft. Die oppositionellen Gruppen des islamischen Spektrums unterscheiden sich daher zum einen hinsichtlich ihres Verständnisses vom Islam: Kritisieren die einen aus der Sicht ihrer religiösen Wertebasis die staatliche Instrumentalisierung ihrer Religion und das damit verbundene interessengeleitete Bild vom Islam, so ist für andere die Religion die Basis für den Entwurf alternativer Gesellschaftsmodelle und somit unter Umständen eine ideologische Grundlage ihres politischen Handelns.

2. Der Unterschied zwischen Gewalt und Terror

Ganz wesentlich jedoch ist die Unterscheidung der islamischen bzw. islamistischen Akteure auf nichtstaatlicher Ebene hinsichtlich ihrer Einstellung zur Gewalt. Hier reicht eine Unterscheidung zwischen friedlichen und gewaltbereiten Akteuren allein nicht aus. Der Islamwissenschaftler Peter Heine schätzt die Zahl der Islamisten, die gewaltbereit sind, auf höchstens zwei Prozent der muslimischen Bevölkerung. Doch selbst davon können die wenigsten auch als Terroristen bezeichnet werden. Vielmehr setzen die meisten Islamisten vor allem dort Gewalt ein, wo ein gesellschaftlicher Konflikt eine lange Vorgeschichte hat, wie z.B. in Algerien oder in Israel/Palästina. Der Einsatz von Gewalt wird oft als eine Art der Selbstverteidigung gegen staatliche Willkür gerechtfertigt. Diese Feststellung will nicht etwa Gewaltakte verharmlosen. Vielmehr soll darauf hingewiesen werden, dass in einer Konfliktkonstellation nicht eine Partei als alleiniger Verursacher auszumachen ist, sondern auch immer die gesamte Konfliktstruktur berücksichtigt werden muss.

Terroristen dagegen unterscheiden sich meist von solchen Organisationen, die ihren Aktionsradius vorwiegend auf der politischen und sozialen Ebene sehen und nur in bestimmten Situationen auch vor dem Einsatz von Gewalt nicht zurückschrecken. Der Terrorismus ist - wie der Soziologe Peter Waldmann schrieb - "die bevorzugte Gewaltstrategie relativ schwacher Gruppen. Terroristische Organisationen sind nicht stark genug, um ein Stück des nationalen Territoriums militärisch zu besetzen". Der Autor vertritt die These, dass sich Terroristen mit ihren schrecklichen Aktionen über rechtliche und moralische Konventionen hinwegsetzen, um damit einen Schockeffekt zu erzielen. Deshalb versteht Waldmann unter Terrorismus in erster Linie eine "Kommunikationsstrategie", woraus sich Fragen nach den "Botschaften" und dem "Kommunikationsraum" ableiten. Der Terrorismus - auch der islamistisch begründete - ist demzufolge ein Phänomen unseres modernen Medienzeitalters.

Will man die Frage beurteilen, ob es reale Möglichkeiten gibt, bestehende Gewaltpotenziale in der islamischen Welt abzubauen und damit das Risiko von terroristischen Anschlägen zu verringern, so muss ein kritischer Blick auf die Regierungsverantwortung der betreffenden Staaten - also auf die staatlichen Akteure - gestattet sein.

3. Regierungen als Förderer von Islamisten

Dies wird gerade im Falle Algeriens deutlich. Dort hat das System einer teils verdeckten und teils offenen Militärdiktatur nicht nur einen gewaltsamen islamistischen Widerstand provoziert. In jüngster Zeit mehren sich Berichte, wonach Regierungsverantwortliche oder Exponenten des algerischen Militärs Terroraktivisten der islamistischen GIA decken. Verurteilte Straftäter würden vorzeitig entlassen und neue Anschläge stillschweigend geduldet. Damit wolle das algerische Militär dem Ansehen der Islamisten in der Bevölkerung schaden und die oppositionelle islamistische Heilsfront FIS schwächen, die sich von terroristischen Aktionen distanziert.

Die Reihe von Beispielen, in denen Regierungen gewaltbereite Organisationen finanziell unterstützen, um oppositionelle Rivalen aus dem Feld zu räumen, lässt sich fortsetzen. Es muss bedenklich stimmen, dass die Gründung der palästinensischen Hamas Anfang der achtziger Jahre von der israelischen Regierung und dem internen israelischen Geheimdienst Shabak politisch und finanziell unterstützt worden war. Die israelische Regierung betrachtete wohl damals den islamischen Fundamentalismus als eine Art "gesundes Gegengewicht" zum arabischen Nationalismus der PLO Arafats. Wie die aktuellen Entwicklungen zeigen, ist ihre Strategie zwar aufgegangen - die islamistischen Kräfte gewinnen unter den Palästinensern zusehends an Bedeutung -, doch zu welchem Preis.

So problematisch die Unterstützung islamistischer Gruppen im eigenen Land ist, verhängnisvoller noch für den Weltfrieden ist die Förderung gewaltbereiter Islamisten oder gar terroristischer Organisationen im Ausland durch die Regierungen verschiedener islamischer Staaten. Heute ist es kein Geheimnis mehr, dass beispielsweise die Muslime in Bosnien-Herzegowina während des Bürgerkriegs Anfang der neunziger Jahre Söldner aus verschiedenen islamischen Staaten angeworben hatten. Die unmittelbare Folge davon ist, dass der Einfluss des islamischen Fundamentalismus sowohl in Südosteuropa wie auch in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion enorm gestiegen ist. Saudi-arabische Stiftungen z.B. machen sich dabei die Tatsache zunutze, dass die dortigen Muslime seit Jahrzehnten in laizistischen Systemen lebten und somit vieles von der einheimischen Tradition des Islam verloren gegangen ist. So können ihre Islamgelehrten unbemerkt ganz neue islamische Rechtsschulen populär machen. Die Grenzen zwischen dem traditionellen islamischen Stiftungswesen und gewaltbereiten islamistischen Gruppen sind besonders in Transformationsgesellschaften fließend. Denn hier begünstigen ökonomische Krisen die Entstehung eines gesellschaftlichen Milieus, in dem soziale Probleme nicht mehr politisch gelöst, sondern in religiöse oder auch ethnische Konflikte transponiert werden.

4. Internationale Unterstützung für Islamisten

Eine weitere, für die internationale Politik bedeutsame Beobachtung lässt sich anstellen: Die Parteinahme in religiösen oder ganz allgemein ethnischen Konflikten für eine Konfliktpartei geschieht nicht nur transnational, d.h. über staatliche Grenzen hinweg. Sie kann ebenso die Grenze nationaler oder religiöser Identitäten überschreiten. Ein interessantes Beispiel hierfür ist wiederum Libyen. Es ist allgemein bekannt, dass Revolutionsführer Qadhdha'fdi' eine Zeit lang die baskische Terrororganisation ETA sowie die IRA in Nordirland unterstützt hat und damit nationale Konflikte in Europa beeinflusste. Doch auch im Fall Afghanistans können wir studieren, wie die Unterstützung gewaltbereiter Organisationen über religiöse Grenzen hinweg funktioniert. Dort konnte sich die Herrschaft der islamistischen Taliban nur deshalb etablieren, weil ihnen der Weg von Mug'a'hidi'n unter Führung Osama Bin Ladens bereitet worden war. Wie eine Studie der Hanns-Seidel-Stiftung dokumentiert, hatte CIA-Direktor William Casey im Jahre 1986 den US-Kongress von einer gemeinsamen Strategie mit dem britischen Geheimdienst überzeugt, Pakistan bei der Ausbildung islamistischer Gruppen zu unterstützen und sie in einem Guerillaangriff gegen die damaligen Sowjetrepubliken Tadschikistan und Usbekistan einzusetzen. Der amerikanische und der britische Geheimdienst versuchten auf diese Weise, die Nachschublinien der sowjetischen Truppen in Afghanistan abzuschneiden, um diese zum Rückzug zu zwingen:

"Zwischen 1982 und 1992 erhielten ungefähr 35 000 radikale Muslime aus 43 islamischen Ländern des Mittleren Ostens, aus Nord- und Ostafrika, Zentralasien und dem Fernen Osten ihre Feuertaufe bei den afghanischen Mudschaheddin. ((...)) Am Ende hatten über 100 000 radikale Muslime direkten Kontakt mit Pakistan und Afghanistan und unterstanden dem Einfluss des Dschihad. ((...)) Keiner der Geheimdienste schien sich über die Konsequenzen im Klaren zu sein, die sich aus dem Zustandekommen von Tausenden islamischen Radikalen aus der ganzen Welt ergaben."

V. Herausforderungenfür die internationale Politik

Wenn wir nun abschließend ein Fazit ziehen wollen, so ist zunächst festzuhalten: Die Polarität zwischen den westlichen Ländern auf der einen Seite und der islamischen Staatenwelt auf der anderen existiert nicht. Dies zeigt die dargestellte Instrumentalisierung von "Gotteskriegern" durch staatliche Akteure der islamischen wie auch der westlichen Welt. Einige Staaten und außenpolitische Akteure schreckten nicht davor zurück, aus kurzfristigem Machtkalkül heraus gewaltbereite Organisationen zu fördern, die u.a. auf die Errichtung eines islamistischen Staates abzielen. In dieser Frage scheint sich bei der US-Administration sowie bei vielen europäischen Politikern auch nach dem 11. September kein Umdenken abzuzeichnen. Schon vor Beginn des Irak-Kriegs wurden iitische Oppositionsgruppen als politische Verbündete angesehen und eine Nachkriegsordnung akzeptiert, über die es hieß: "Der Islam ist Staatsreligion und die Scharia eine der Rechtsquellen, wobei die Glaubensfreiheit garantiert werden soll." Damit knüpft die westliche Staatengemeinschaft an die verhängnisvolle Tradition des 19. und 20. Jahrhunderts an, als aus partiellen außenpolitischen und geostrategischen Gründen "primitivste, antilaizistische islamistische Bewegungen" unterstützt worden waren, wie z.B. der Wahha'bismus der saudischen Königsdynastie.

Angesichts der anhaltenden terroristischen Bedrohung und der prekären Lage in Afghanistan sowie im Irak am Rande neuer Bürgerkriege liegt es nahe, über alternative Strategien zum Umgang mit der islamischen Welt nachzudenken. Deshalb sei abschließend noch einmal herausgestellt: Die aufgezeigte Heterogenität der islamischen Staaten steht dem vielfach suggerierten Bild einer monolitischen islamischen Welt entgegen. Selbst islam(ist)isch geprägte politische Systeme beruhen auf völlig unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen. Das verweist auf die Tatsache, dass der Islam eine offene Religion ist, die kein bestimmtes politisches System begründet und nicht per se eine säkulare Entwicklung der Gesellschaften verhindert, in der sie gelebt wird. "Denn die Moderne - wie in der Tat auch der Modernismus in den verschiedenen Bereichen - ist nicht auf Europa beschränkt, sondern bildet eine universale Zivilisation."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Beitrag beruht auf einem Vortrag, der am 4. 12. 2002 in der Universität Magdeburg im Rahmen eines Habilitationsverfahrens an der Fakultät für Geistes-, Sozial- und Erziehungswissenschaften im Fach Politikwissenschaft gehalten wurde.

  2. Vgl. Rede des amerikanischen Präsidenten George W. Bush vor einer gemeinsamen Sitzung des Kongresses am 20. 9. 2001, in Washington, DC (Auszüge), in: Internationale Politik, 56 (2001) 12, S. 101 (www.dgap.org/IP/ip0112/).

  3. Vgl. Alexandre del Valle, Der Islam ist kriegerisch. Auch der Westen hat seine Reform verhindert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. 11. 2001, S. 11.

  4. Vgl. Bernard Lewis, Kaiser und Kalifen. Christentum und Islam im Ringen um Macht und Vorherrschaft, München 1996, S. 312 (vgl. die Originalausgabe: Islam and the West, New York 1993).

  5. Vgl. Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1996, S. 341 (vgl. die Originalausgabe: The Clash of Civilizations, New York 1996).

  6. Ebd., S. 100.

  7. Vgl. ebd., S. 340.

  8. Johannes Kandel, Muslime im säkularen Staat, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, (2001) 5, S. 273.

  9. Tilman Nagel, Die Heilsbotschaft als Machtpolitik. Die islamische Verknüpfung von Glaube und Staat, in: Neue Zürcher Zeitung vom 2./3. 3. 2002, S. 49.

  10. Vgl. Günter Seufert, Neue pro-islamische Parteien in der Türkei, Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, März 2002, S. 6 (www.swp-berlin.org).

  11. Vgl. Ralf Elger (Hrsg.), Kleines Islam-Lexikon. Geschichte. Alltag. Kultur, München 2001 3 , hier S. 154; vgl. ebenso: Gerhard Endreß, Der Islam. Eine Einführung in seine Geschichte, München 1997 3 , hier S. 44f.

  12. Vgl. Heinz Halm, Der schiitische Islam. Von der Religion zur Revolution, München 1994, S. 120f.

  13. Vgl. ders., Islam und Islamismus. Eine notwendige Begriffsklärung, in: Evangelische Kommentare (Evkomm), (1995) 3, S. 147 - 149.

  14. Vgl. Johannes Reissner, Libyen und Saudi-Arabien, in: Werner Ende/Udo Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, Frankfurt/M. 19892, S. 337f.

  15. Vgl. Alain Gresh, Saudi-Arabien riskiert Öffentlichkeit, in: Le Monde diplomatique vom 17. 5. 2002.

  16. Vgl. Udo Steinbach, Iran, in: W. Ende/ders. (Anm. 14), S. 220 - 236; ebenso (www.proasyl.de/lit/iran/).

  17. Vgl. Nasr Hamid Abu Zaid, Der Islam, die Muslime und der Westen. Zur Frage nach der Wandlungsfähigkeit des Islam, in: Neue Zürcher Zeitung vom 2. 3. 2002, S. 55.

  18. Vgl. Rudolph Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam vom 18. bis zum 20. Jahrhundert und die Rolle des Islams in der neueren Geschichte: Antikolonialismus und Nationalismus, in: W. Ende/U. Steinbach (Anm. 14), S. 127f.

  19. Vgl. Gilles Kepel, Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch, München 1991, vgl. Originalausgabe: La Revanche de Dieu. Chretiens, juifs et musulmans à la reconquête du monde, Paris 1991.

  20. Vgl. Juan J. Linz, Der religiöse Gebrauch der Politik und/oder der politische Gebrauch der Religion. Ersatz-Ideologie gegen Ersatz-Religion, in: Hans Maier (Hrsg.), ,Totalitarismus` und ,Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, in: Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Band 16, München 1996, S. 129 - 170.

  21. Vgl. Miklos Muranyi, Ägypten, in: W. Ende/U. Steinbach (Anm. 14), S. 347.

  22. Vgl. J. Reissner (Anm. 14), S. 333f.

  23. Vgl. Mir A. Ferdowsi, Islamischer Fundamentalismus. Im Kampf der Kulturen oder die Krise des Entwicklungsstaates in der islamischen Welt, in: ders.,/Dietmar Herz/Marc Schattenmann (Hrsg.), Von himmlischer Ordnung und weltlichen Problemen. Festschrift zum 65. Geburtstag von Peter J. Opitz, München 2003, S. 331.

  24. Vgl. Nasr Hamid Abu Zaid, Modernisierung des Islams - Islamisierung der Moderne. Ein Gespräch über Aufklärung, Religion und "europäische Werte", Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin, 24. 11. 2002. Vgl. ders., Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses, Darmstadt 1996.

  25. Vgl. Werner Herzog, Algerien. Zwischen Demokratie und Gottesstaat, München 1995, S. 144f.

  26. Vgl. Peter Heine, Terror in Allahs Namen. Extremistische Kräfte im Islam, Freiburg 2001.

  27. Peter Waldmann, Terrorismus. Provokationen der Macht, München 1998, S. 10f.

  28. Ebd., S. 12.

  29. Vgl. Albrecht Metzger, Der Himmel ist für Gott, der Staat für uns. Islamismus zwischen Gewalt und Demokratie, Göttingen 2000, S. 91.

  30. Vgl. Sabine Riedel, Die Politisierung von Ethnizität in Transformationsgesellschaften. Das Beispiel Südosteuropa, in: WeltTrends, (Frühjahr 2003) 38, S. 61 - 74.

  31. Vgl. Berndt Georg Thamm, Netzwerkterrorismus (Networkterrorism) - am Beispiel der transislamistischen "Basis" (al-Qa'ida), in: Reinhard C. Meier-Walser/Rainer Glagow (Hrsg.), Die islamische Herausforderung - eine kritische Bestandsaufnahme von Konfliktpotenzialen, aktuelle analysen 26, Hanns-Seidel-Stiftung, München 2001, S. 84.

  32. Ahmed Rashid, Taliban - Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad, München 2001, S. 221, zit. in: ebd. S. 84.

  33. Irakische Zangengeburt in London. Plattform, aber keine Führung für Saddams Opposition, in: Neue Zürcher Zeitung vom 17. 12. 2002.

  34. Vgl. A. del Valle (Anm. 3).

  35. Vgl. Michael Lüders, Nach dem Sturz der Taliban kein Frieden von Kabul bis Kaschmir, in: Internationale Politik Analyse, Friedrich-Ebert-Stiftung, März 2003.

  36. Aziz al-Azmeh, Die Islamisierung des Islam. Imaginäre Welten einer politischen Theologie, Frankfurt/M. 1996, S. 38 (vgl. Originalausgabe: Islams and Modernities, London 1993).

Dr. phil. habil., geb. 1956; zurzeit Professorin für Politikwissenschaft an der Universität München.
Anschrift: Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft, Universität München, Oettingenstr. 67, 80538 München.
E-Mail: E-Mail Link: s.riedel@lrz.uni-muenchen.de sowie: E-Mail Link: sabine.riedel@swp-berlin.org

Veröffentlichung u.a.: Die Erfindung der Balkanvölker. Identitätspolitik zwischen Konflikt und Integration, Opladen 2003 (i.E.).