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Politischer Strukturwandel? Populismus und soziale Gegensätze im Ruhrgebiet

Jan Dinter

/ 18 Minuten zu lesen

Der Abschied von der Kohle erinnert auch an gesellschaftliche und politische Säulen, die die Region lange getragen haben. Zeichnet sich seit 2017 auch ein politischer Strukturwandel ab, gerät die einstige Herzkammer der Sozialdemokratie zur Hochburg der AfD?

Der Abschied von den Kumpeln und Steigern, der im vergangenen Jahr überall im Ruhrgebiet wehmütig gefeiert wurde, ist nicht nur das nachträgliche Ende einer längst vergangenen wirtschaftlichen Ära. Er erinnert auch an gesellschaftliche und politische Säulen, die die Region lange getragen haben, sowie an wirtschaftliche Wandlungsprozesse, deren Bewältigung die politische Agenda des Ruhrgebiets über Jahrzehnte bestimmte und andere Themen bisweilen verdrängte. Was bleibt vom Bergbau? "Vielleicht der Zusammenhalt, den wir unter und über Tage hatten", hoffen die Malocher. Daraus spricht eine gewisse Sehnsucht nach Zeiten, in denen die Welt in den Arbeitersiedlungen im Ruhrgebiet noch überschaubar war. Das waren – vielleicht mit einem verklärten Blick – Zeiten, in denen die Charakterisierung des Ruhrgebiets als "Schmelztiegel" vor allem positiv besetzt war: eine von der Industrie angetriebene Region, in der durch das Zusammenwirken verschiedenster Kulturen Wohlstand entstand. Oder aber eine Zeit, in der Politik und Gesellschaft in Form einer "Sozialpartnerschaft" eine Einheit bildeten.

Das heute häufig vermittelte Bild der Region ist jedoch ein anderes: Es ist die Rede von "Arbeitslosigkeit, Armut und Tristesse", hinter dem Bild des Schmelztiegels steht immer häufiger auch die Warnung, dass soziale und kulturelle Spannungen mit Explosionsgefahr verbunden sind. Im Jahr vor dem Bergbau-Aus machte die "Herzkammer der Sozialdemokratie" eher als neue Hochburg der AfD Schlagzeilen. Wie aber lassen sich Veränderungen in Politik und Gesellschaft nach langer Kontinuität erklären? Und sind sie wirklich Anzeichen eines tief greifenden politischen Wandels im Revier?

Das Politikmodell Ruhrgebiet: Ein Rückblick

Das Bild des Ruhrgebiets als stabile Hochburg der SPD ist eng verknüpft mit dem frühen Niedergang der Montanindustrie. Insbesondere die Bewältigung des Strukturwandels führte überhaupt erst zur Herausbildung dessen, was viele die spezifische "regionale politische Kultur" des Ruhrgebiets nennen. Zwar übertrugen sich die von der Montanindustrie geprägten patriarchalischen Strukturen, in denen die Bevölkerung im Ruhrgebiet umfassend mit Wohnraum, Gesundheitseinrichtungen oder Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten versorgt wurde, bereits in der wirtschaftlichen Hochphase des Reviers auch auf die Politik. Die Konsenskultur eines "Elitenkartells" aus Wirtschaft, Politik und Gewerkschaften half, "Konflikte möglichst gar nicht erst aufkommen zu lassen oder zumindest nicht offen auszutragen".

Allerdings kamen die Anlässe für eben solche potenziellen Konflikte vor allem mit der ersten Kohlenkrise. Die für die Politik im Ruhrgebiet über Jahrzehnte prägende Vorherrschaft der SPD ging auf den ersten Blick paradoxerweise deshalb erst mit dem Rückgang der Arbeiterschaft einher. "Die Bergbaukrise im Ruhrgebiet, die der von der CDU geführten Bundesregierung angelastet wurde, das außergewöhnlich enge Bündnis zwischen SPD und den Gewerkschaften in diesem Lande (…) und die starke Stellung der SPD in den Kommunen" begründeten letztlich die Hegemonie der Partei. Ihr Markenkern im Ruhrgebiet war dann ein über Jahrzehnte fortbestehendes "regionales Politikmodell der Sozialpartnerschaft". Während es der Politik im Revier zunächst darum ging, die als vorübergehend angesehenen Krisen der Montanindustrie und ihre Folgen abzuschwächen, sollte mit der Einsicht, dass der Niedergang von Kohle und Stahl kaum aufzuhalten ist, ebendieser so sozialverträglich wie möglich gestaltet werden. Eine umfassende Koalition aus (lokaler) Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften verfolgte damit die zentralen Ziele, soziale und politische Stabilität sowie gleichzeitig großindustrielle Infrastrukturen zu sichern. Dieser von korporatistischen Strukturen und Konsenssuche geprägte Politikstil fand Anklang bei der Bevölkerung des Ruhrgebiets. Der Schutz vor den Folgen wirtschaftlicher Krisen machte sie resistent gegen ein "defensives Misstrauen gegen ‚die da oben‘". Der Politikstil wurde zudem als authentischer Ausdruck einer "Kultur des kleinen Mannes" akzeptiert. Das Modell der "basisnahen Stellvertretung" funktionierte, weil die von vielen geteilten Probleme zusammen mit einer großen Verteilungsmasse Anreize zur Kooperation schufen, die sich am Ende für alle – Wirtschaft, Bürger und Politik – lohnen würde. Der Zusammenhalt in der Krise schuf zudem ein "Wir-Gefühl", das bis heute noch die Identität der Region prägt.

So kam es, dass die SPD bei den Bundestagswahlen von 1965 bis 2002 im Ruhrgebiet immer Stimmanteile jenseits der 50 Prozent erhielt. Und auch bis heute ist ihr Bundestagswahlergebnis im Ruhrgebiet mindestens zehn Prozentpunkte höher als im Rest Deutschlands. Auf diesen Vorsprung konnte sich die Partei bis zuletzt noch mit leicht unterschiedlichem Ausmaße bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen verlassen. Bei den Kommunalwahlen entfallen auf die Sozialdemokraten seit 1948 – bis auf 1999 – ebenfalls immer die meisten Stimmen. Seit 1999 rangiert sie im Schnitt der Ruhrgebietsstädte um 40 Prozent. Damit ist sie in 39 der 53 Stadträte die stärkste Partei. Sie stellt zudem in sieben von elf kreisfreien Städten des Regionalverbands Ruhr den Bürgermeister, insgesamt sind 24 der 55 (Ober-)Bürgermeister sozialdemokratische Parteimitglieder.

Region der Vielfalt oder Region der Gegensätze?

Bis heute ist das politische Ruhrgebiet daher eher durch die Dominanz der SPD denn durch politische Vielfalt gekennzeichnet. Wenn also vom "vielfältigen Ruhrgebiet" die Rede ist, kann sich dies nur sehr bedingt auf die politische Landschaft beziehen. Abseits von der Politik trifft diese Charakterisierung aber in mannigfacher Weise zu. In erster Linie spielt sie auf die starke (Arbeits-)Immigration in die Region an, den daraus resultierenden hohen Migrantenanteil in der Bevölkerung und die damit verbundene kulturelle Vielfalt der Ruhrgebietsbevölkerung. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts erlebte die Region durch die frühe Industrialisierung einen breiten Zuzug sogenannter Ruhrpolen, in den 1950er und 1960er Jahren kamen durch die Anwerbeabkommen "Gastarbeiter" aus Italien, Spanien, Griechenland oder der Türkei in das Ruhrgebiet. Seit über 150 Jahren ist daher "Fremdsein (…) ziemlich normal" in der Region, und die Menschen sind vor allem durch die gemeinsame Arbeit und Lebenswelt, später durch die geteilten Erfahrungen des Strukturwandels "trotz aller Unterschiede der Herkunft, der Vorstellungswelten, Mentalitäten und Verhaltensweisen" zusammengewachsen. Bereits früh wurde das Ruhrgebiet daher als "Einwandererregion par excellence" beschrieben. Auch bis heute wird die Region gerne als "Weltmeister in Sachen Integration" bezeichnet.

Vielfältig ist das Ruhrgebiet zweifelsohne auch mit Blick auf Identitäten, Zugehörigkeiten oder (Verwaltungs-)Strukturen. Zwar ist das Ruhrgebiet ein wichtiger geteilter sozialer Bezugsraum der hier lebenden Bevölkerung, mit dem sich mitunter mehr Menschen identifizieren können als mit der Stadt, in der sie leben; sei es als "Heimat" oder einfach als Ort, von dem man nie wegziehen möchte. Aber die "Metropole der kleinen Räume, in der sich Vorteile einer Großstadt mit dem Leben in dorfähnlichen Stadtteilen verbinden" entstand in dezentralen Siedlungen rund um Schachtanlagen und wuchs erst durch die fortschreitende Industrialisierung zu einem metropolenähnlichen Raum zusammen. Entsprechend stark ist auch noch heute die Bindung an die kleinteiligen Stadtteilstrukturen. Das lässt sich auch auf Politik und Verwaltung übertragen: Als die Verteilungsmasse im Laufe der zurückgehenden wirtschaftlichen Stärke der Montanindustrie kleiner wurde, rückte Konkurrenz und Kirchturmdenken zunehmend an die Stelle der Kooperation. Deshalb sind die einzelnen Städte noch heute die wichtigsten politischen Arenen – nur wenige Kompetenzen wurden auf den gemeinsamen Regionalverband Ruhr (RVR) übertragen.

Heute ist die regionale Gesellschaft im Ruhrgebiet aber zweifelsohne auch von der Vielfalt der individuellen Lebenswelten geprägt. Denn auch im Ruhrgebiet hat, spätestens mit der Schrumpfung der Montanindustrie, die gesamtgesellschaftliche Individualisierung eingesetzt. Genauso wie anderswo ist auch im Ruhrgebiet eine moderne heterogene Gesellschaft an die Stelle der homogenen Arbeitergesellschaft gerückt. Für sich genommen, ist das keine Besonderheit dieser Region. Zusammen mit der Individualisierung und abnehmender wirtschaftlicher Stärke haben sich innerhalb des Ruhrgebiets aber eine überdurchschnittliche soziale Ungleichheit und deren räumliche Konzentration entwickelt. Die Erwerblosigkeit, die Armut, das Bildungsniveau und der Migrantenanteil sind generell im Ruhrgebiet höher als im Rest von Nordrhein-Westfalen oder der Bundesrepublik. Gerade die ehemaligen Arbeiterviertel im Norden der Region haben sich zu benachteiligten Quartieren entwickelt, in denen "Arme, Alte, Ausländer und Alleinerziehende" aufeinandertreffen. Dem stehen verhältnismäßig wohlhabende Stadtteile mit gänzlich anderer Sozialstruktur gegenüber. Weil im Zuge der Individualisierung das einende Element der geteilten Arbeits- und Lebenswelt abhandengekommen ist und zusätzlich die sozialen Gegensätze gerade im Ruhrgebiet enorm zugenommen haben, sind auch die trennenden Elemente der kulturellen Heterogenität in den Vordergrund der gesellschaftlichen Wahrnehmung gerückt. Toleranz, die Vorteile der Zuwanderung und gelebte Integration gehören zwar zum Selbstbild der Ruhrgebietsbewohner. Zugleich besteht aber auch ein ausgeprägtes Bewusstsein für Spannungen und Probleme durch kulturelle Vielfalt und soziale Ungleichheiten.

Im qualitativen Teil der Studie "Kommunikationsstress im Ruhrgebiet" beschreiben Bewohner des Ruhrgebiets beispielsweise eine Entwicklung einer "Parallel-" und "Zweiklassengesellschaft". In dieser Studie aus dem Jahr 2018 wird auch das ambivalente Bild der Ruhrgebietsbevölkerung zum Zusammenleben in der Region dokumentiert: Über 69 Prozent der Bewohner des Ruhrgebiets sind demnach der Auffassung, dass Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Gruppen das Ruhrgebiet bereichern. Zugleich haben aber auch über 53 Prozent der Menschen im Ruhrgebiet das Gefühl, die Region würde "in einem gefährlichen Maß überfremdet". Viel deutlicher noch werden die sozioökonomischen Ungleichheiten in der Region als Gefahr wahrgenommen: Der Aussage, dass die großen Unterschiede zwischen Arm und Reich im Ruhrgebiet eine Gefahr für die Gesellschaft seien, stimmten fast 89 Prozent der Befragten aus dem Ruhrgebiet zu.

Die Polarisierung sozialer Lagen hat auch einen entscheidenden Einfluss auf die Demokratie im Ruhrgebiet. Bei der Bundestagswahl 2017 hatte der Wahlkreis Duisburg II bundesweit die geringste Wahlbeteiligung. Nur 64,8 Prozent der Wahlberechtigen machten hier von ihrem Stimmrecht Gebrauch. Im gesamten Ruhrgebiet lag die Wahlbeteiligung zudem 2,7 Prozent niedriger als im Bundes- und 1,9 Prozent niedriger als im Landesschnitt. In dieser Deutlichkeit ist die niedrigere Wahlbeteiligung im Ruhrgebiet neu – allerdings zeichnete sich bereits seit der Bundestagswahl 1990 eine leicht unter dem Landesniveau liegende Wahlbeteiligung im Ruhrgebiet ab. Viel auffälliger ist aber, dass bei den zurückliegenden Wahlen die Unterschiede in der Wahlbeteiligung zwischen den einzelnen Ruhrgebietswahlkreisen deutlich größer geworden sind. Seit der Bundestagswahl 2009 liegt die Standardabweichung der Beteiligungsquoten der Ruhrgebietswahlkreise – also die durchschnittliche Differenz der Wahlbeteiligung in einem Wahlkreis zur Wahlbeteiligung im gesamten Ruhrgebiet – bei mindestens 3,5 Prozent. Essen II war bei der Bundestagswahl 2017 mit 67,6 Prozent beispielsweise der Wahlkreis mit der zweitniedrigsten Beteiligung in NRW, Essen III mit 79,5 Prozent wiederum der Wahlkreis mit der landesweit sechsthöchsten Wahlbeteiligung. Diese Unterschiede zeigten sich 2017 auch bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl sehr deutlich. Während Essen IV mit 74,2 Prozent landesweit die zweithöchste Wahlbeteiligung verzeichnen konnte, sind Duisburg III (53,1 Prozent), Duisburg IV – Wesel V (54,2 Prozent) und Gelsenkirchen II (55,2 Prozent) die Schlusslichter im Land. Schaut man noch ein wenig tiefer und betrachtet die Unterschiede in der Wahlbeteiligung auf Stadtteilebene, lassen sich in den Städten des Ruhrgebiets schon seit vielen Jahren noch deutlichere Unterschiede von 30 bis über 40 Prozentpunkte zwischen den einzelnen Wahlbezirken feststellen. Die negative Entwicklung politischer Teilhabe verläuft dabei parallel zur Polarisierung sozialer Lagen. In jenen Stadtteilen, in denen sich soziale Benachteiligungen – Arbeitslosigkeit, geringe Kaufkraft oder Bildung – anhäufen, ist auch die Wahlbeteiligung niedrig. So werden die ohnehin sozioökonomisch benachteiligten Quartiere im Revier zu beinahe "demokratiefreien Zonen".

Die Region lässt sich inzwischen also eher als Region der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und auch politischen Gegensätze charakterisieren, die sich spätestens seit dem "langen Abschied von der Kohle" auf der Suche nach dem verbindenden Element befindet. Dabei ist soziale und sozialräumliche Ungleichheit politischer Teilhabe kein Spezifikum des Ruhrgebiets. In großen Städten oder Metropolen lassen sich die gleichen Entwicklungen beobachten, die es auch im Ruhrgebiet gibt. Besonders ist – zumindest für Deutschland – aber, dass so deutliche Gegensätze in diesem Ausmaß auf engem Raum so viele Menschen betreffen.

Von der Herzkammer der Sozialdemokratie zur AfD-Hochburg?

An der heutigen Sozialstruktur des Ruhrgebiets lässt sich erkennen, dass es die Politik in der Region zwar erfolgreich vermochte, die Folgen des Niedergangs von Kohle und Stahl abzufedern und damit soziale Konflikte sowie extreme Verarmung anders als in vielen anderen europäischen Industrieregionen größtenteils zu vermeiden. Sie verpasste es aber, die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen nachfolgender Generationen gleichermaßen zu sichern. Dass eine vornehmlich der Verwaltung des und dem Schutz vor dem Strukturwandel verpflichtete Politik selbst irgendwann genau diesem Strukturwandel zum Opfer fallen könnte, zeichnete sich bereits Ende der 1990er Jahre ab. Zu diesem Zeitpunkt brachen die Ergebnisse der SPD im Land und in den Städten im Revier ein erstes Mal ein (Abbildung). Bei der Kommunalwahl 1999 wurde der Partei in vielen Städten des Ruhrgebiets eine "Arroganz der Macht" vorgeworfen. Denn die Kehrseite des ruhrgebietstypischen Politikmodells war, dass der enge Bund zwischen Wirtschaft, Gewerkschaften und (kommunal-)politischen Eliten häufig Einfallstor für Vetternwirtschaft und Vorteilsnahme war. Die seit den 1960er Jahren für die politische Landschaft des Ruhrgebiets prägende Dominanz der SPD begann aber genauso wie anderenorts vor allem an der Wirkung gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse zu bröckeln – die im Vergleich zum Rest der Bundesrepublik oder aber anderen europäischen Demokratien im Ruhrgebiet maximal etwas verspätet einsetzte. Traditionelle Milieubindungen nahmen generell ab, und auch an Ruhr und Emscher wurde die Wählerschaft volatiler. Trotzdem rangiert die SPD bei Wahlen bis heute relativ konstant zehn Prozentpunkte über dem Bundestrend der Partei, während die CDU zwischen fünf und neun Prozentpunkte schlechter als im Rest der Republik abschneidet.

Bundestagswahlergebnisse in den Städten des Regionalverbandes Ruhr seit 1949

Im Vorfeld des Wahljahres 2017 vermuteten viele Beobachter aber, das Ruhrgebiet könne zur Hochburg der rechtspopulistischen AfD werden. Auf großflächigen Plakaten warb die Partei im Wahlkampf zur nordrhein-westfälischen Landtagswahl 2017 mit dem Konterfei des zur AfD gewechselten ehemaligen SPD-Politikers Guido Reil in Bergmanns-Kluft und dem Zitat: "Im Herzen Sozi. Deshalb bei der AfD. Glückauf, mein NRW". Bei der Bundestagswahl im gleichen Jahr warb die AfD mit dem Zitat: "Ich bin dabei, weil die SPD die Interessen der kleinen Leute nicht mehr vertritt." Diese Beispiele zeigen sehr plakativ, dass die Wahlkampfstrategie der Rechtspopulisten im Revier zum einen sehr deutlich auf die von Historikern beschriebene "spezifische politische Kultur" des Ruhrgebiets ausgerichtet ist. Offensichtlich will die Partei gezielt politischer Ausdruck eben jener "kleinen Leute" sein, die sich über Jahrzehnte von der SPD vertreten fühlten, und unzufriedene SPD-Wähler für sich gewinnen. Zum anderen will die Partei jene sogenannten Modernisierungsverlierer ansprechen, die vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Schwäche und der sozialen Polarisierung gerade im Ruhrgebiet vermutet werden.

Als Erklärung für den Erfolg rechtspopulistischer Parteien in Europa, der AfD im Speziellen, haben sich in der Politik, den Medien und auch der Wissenschaft vor allem zwei Erklärungsmuster entwickelt. Zum einen wird vermutet, dass Menschen die AfD wählen, weil sie "Präferenzen für die kulturelle Homogenität und die politische sowie wirtschaftliche Autonomie der Gesellschaft halten". Zum anderen wird vermutet, dass die Erfolge der AfD mit der steigenden Zahl der von negativen Folgen der Globalisierung betroffenen Menschen zu erklären ist. Dieser These folgend wäre die Partei gerade für sozial benachteiligte Menschen in strukturschwachen Regionen attraktiv. Die sogenannten kleinen Leute und Nichtwähler zählen neben Protestwählern, Eurogegnern und liberal-konservativen Bürgerlichen auch nach Angaben des AfD-Bundesvorstands zu den Zielgruppen der Partei.

Bei einer oberflächlichen Betrachtung sahen viele die These vom Erfolg der AfD in den "deutschen Armenhäusern" nach der nordrhein-westfälischen Landtags- sowie der Bundestagswahl bestätigt und verwiesen plakativ auf das Ruhrgebiet. Tatsächlich war die Partei bei beiden Wahlen in einigen Ruhrgebietswahlkreisen erfolgreich. Bei der Landtagswahl 2017 lagen die 15 Wahlkreise mit dem besten AfD-Ergebnis im Ruhrgebiet, bei der Bundestagswahl waren die aus Sicht der Partei 13 besten Wahlkreisergebnisse in Nordrhein-Westfalen Ruhrgebietswahlkreise. In diesen Gebieten lag die AfD in der Spitze bei über 15 beziehungsweise 17 Prozent. Im Schnitt aller 53 RVR-Städte lag die Partei mit 9,5 Prozent bei der Landtagswahl allerdings "nur" etwa zwei Prozentpunkte über dem Landesschnitt. Bei der Bundestagswahl lag sie im Ruhrgebiet mit 11,4 Prozent ebenfalls zwei Prozent über Landesschnitt. Verglichen mit dem bundesweiten Stimmanteil der AfD von 12,6 Prozent war das Ergebnis der Partei im Ruhrgebiet allerdings unterdurchschnittlich. Unter den 55 "westdeutschen" Wahlkreisen mit AfD-Ergebnissen über dem Bundesschnitt liegen auch lediglich vier im Ruhrgebiet. Als Gesamtes betrachtet kann man die Region daher nicht als Hochburg der Rechtspopulisten bezeichnen. Gerade aber in den als "benachteiligt" identifizierten ehemaligen Arbeiterquartieren, die von hoher Arbeitslosigkeit, einem hohen Migrantenanteil, geringem Einkommen, niedriger Bildung und auch niedriger Wahlbeteiligung gekennzeichnet sind, konnte sie Erfolge verzeichnen.

Betrachtet man nur diese raumbezogenen Aggregatdaten, könnte man also schnell zu dem Schluss kommen, die AfD liefe der SPD gerade in ihren Ruhrgebietshochburgen den Rang ab, weil sie die "kleinen Leute" und "Modernisierungsverlierer" überzeugen konnte. Allerdings lassen Zusammenhänge, die auf Aggregatebene bestehen, keinen Schluss auf individuelle Zusammenhänge zu. Man kann also nicht sicher sagen, ob es gerade jene Wähler mit niedrigem "sozialen Status" waren, die in den Ruhrgebietsstadtteilen die AfD wählten. Studien zur Wählerschaft der AfD sind in der Frage, ob die AfD gerade von dieser Wählerklientel bevorzugt wird, uneinig. Viele Untersuchungen weisen eher daraufhin, dass es eben nicht in einem überdurchschnittlichen Maße die "Modernisierungsverlierer" sind, die eher ihr Kreuz bei den Rechtspopulisten machen. Nun könnte das Ruhrgebiet eine Ausnahme von der Regel sein. Vergleicht man die Wahlkreise, in denen die AfD erfolgreich war, sind es gerade die Ruhrgebietshochburgen, die sich substanziell von allen anderen durch ein "schlechtes Ergebnis in nahezu allen makroökonomischen Kennzahlen" unterscheiden. Aber wahrscheinlicher ist, dass sich der überdurchschnittliche Erfolg der Populisten im "Revier" nicht nur durch die Modernisierungsverlierer-These erklären lässt, sondern auch hier viele verschiedene Faktoren einen Einfluss auf das individuelle Wahlverhalten im Ruhrgebiet haben.

Zunächst haben Studien nachweisen können, dass nicht unbedingt jene Wähler mit der AfD sympathisieren, die tatsächlich sozialen Abstieg erfahren haben – die also erwerbslos geworden sind, über ein niedriges Einkommen verfügen oder geringe Qualifikationen vorweisen können. Vielmehr stimmen diejenigen häufiger für die Partei, die besonders "pessimistisch in die Zukunft schauen oder den Eindruck haben, ihre Situation nicht positiv beeinflussen zu können". Die negativen Entwicklungen, die in den ehemaligen Arbeitervierteln im Ruhrgebiet räumlich erfahrbar werden, können eben diese Sorge vor dem "sozialen Abstieg" auch oder insbesondere bei den Quartiersbewohnern mit nominell höherem "sozialen Status" verstärken. Potenziell schürt zudem ein Diskurs über das Ruhrgebiet, der noch immer von einem eher schlechten Image und Schlagzeilen wie "Problemregion Nr. 1" geprägt ist, Ängste vor sozialem Abstieg.

Die Forschung hat weiterhin zeigen können, dass das Gefühl kultureller Bedrohung deutlich wichtiger für die Identifikation mit der AfD ist als das Gefühl sozialer Bedrohung. Es seien gerade jene Menschen, die Zuwanderung negativ bewerten, die sich mit der Partei identifizieren. Diese Einstellungen verschärfen sich teilweise bei jenen, die einen niedrigen sozialen Status aufweisen. Die sozialräumliche Struktur des Ruhrgebiets, in der sich viele Bewohner mit niedrigem Einkommen und schlechter Bildung in Stadtteilen mit einem hohen Migrantenanteil sammeln, könnte daher dazu geführt haben, dass gerade hier Zuwanderer und "Flüchtlinge als Konkurrenten um Arbeitsplätze und um Sozialleistungen" wahrgenommen wurden und dadurch die Wahl der AfD attraktiver wurde. Allerdings lässt sich auch zeigen, dass in den sozioökonomisch schwächeren Stadtteilen des Ruhrgebiets neben dieser "sozialen Konkurrenz" durch Migranten das Gefühl vorherrscht, dass die soziale Infrastruktur verschwindet und die Politik sich der Probleme aus der Lebensrealität der Menschen verweigert.

Die Unzufriedenheit mit anderen Parteien ist daher neben dem Gefühl kultureller Bedrohung womöglich ein noch wichtigeres Motiv für AfD-Wähler im Ruhrgebiet. Die Entscheidung, die AfD zu wählen, war bei der Bundestagswahl 2017 bei zwei Dritteln beispielsweise durch die "Enttäuschung über andere Parteien" zu erklären. Im Ruhrgebiet scheint die Unzufriedenheit mit der Politik etwas höher zu sein als im Rest Deutschlands. Die Zustimmung zu der Aussage, dass Politiker sich nicht darum kümmern würden, was "Menschen wie ich denken", stimmten an Ruhr und Emscher laut der Studie "Kommunikationsstress im Ruhrgebiet" beispielsweise mehr Befragte zu als in vergleichbaren deutschlandweiten Studien. Dabei erscheint es naheliegend, dass eine politische Landschaft, die über Jahrzehnte von der Dominanz einer Partei geprägt war, in Zeiten generell hoher Unzufriedenheit mit der Politik für die Anti-Eliten-Rhetorik populistischer Parteien empfänglich ist. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Individualisierung könnte dies zum entscheidenden Erklärungsfaktor für den überdurchschnittlichen Erfolg der AfD in ehemaligen (und relativ betrachtet noch immer bestehenden) SPD-Hochburgen im Ruhrgebiet werden.

Kommt der politische Strukturwandel im Ruhrgebiet?

Das Wahljahr 2017 hat auf elektoraler Ebene einige Änderungen im politischen Ruhrgebiet hervorgerufen. Der größte Wandel im regionalen Gleichgewicht der Parteien liegt jedoch bereits gut ein Jahrzehnt zurück, als die im Revier dominante SPD in den Wahlen rund um die Jahrtausendwende ihre deutlichsten Stimmverluste hinnehmen musste. Langfristig gesehen, lassen sich diese Wandlungsprozesse vor allem mit generellen Trends und gesellschaftlichen Veränderungen erklären, die keinesfalls regionalspezifisch sind. Wahlverhalten ist auch im Ruhrgebiet volatiler geworden. Die Parteien sind in der Region zwar noch immer stärker (SPD) beziehungsweise schwächer (CDU) als im Rest der Republik. Die Schwankungen folgen aber dem gleichen Muster wie auf Bundes- oder Landesebene. Tendenziell lässt sich eine langsame Angleichung des regionalen an das bundesweite Parteiensystem erkennen. In diesem Sinne lässt sich auch der Erfolg der AfD im Ruhrgebiet vorrangig nicht regionalspezifisch erklären. Denn sowohl die große soziale Spaltung als auch die hohe kulturelle Vielfalt und die damit verbundenen Probleme in der Region sind schon viele Jahrzehnte Kennzeichen des Ruhrgebiets. Trotzdem haben sich die Einstellungen zu Migration und Integration im Allgemeinen und zum Islam im Besonderen im Ruhrgebiet erst zu dem Zeitpunkt verändert, zu dem die Flüchtlingspolitik und die AfD die politische Debattenlage in ganz Deutschland dominiert haben. Die im gesamten Ruhrgebiet leicht und in einigen Teilen deutlich überdurchschnittlichen Wahlergebnisse der AfD lassen sich entsprechend auch nur durch eine Vielzahl von Faktoren erklären, die jede für sich genommen vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Struktur der Region womöglich eine stärkere Wirkung entfalten. Nicht zu unterschätzen ist dabei sicherlich, dass Unzufriedenheit mit der Politik wahrscheinlicher wird, wenn über Jahrzehnte Pluralisierung und Wandel kaum einen Ausdruck im regionalen Parteiensystem finden und Machtwechsel ausbleiben.

Die Frage nach einem Wandel in Gesellschaft und Politik im Revier geht aber über die Frage von Wahlergebnissen hinaus. Der Zusammenhalt von Bürgern und Politikern wird im Ruhrgebiet immer noch als vergleichsweise stark wahrgenommen. Zugleich besteht über alle gesellschaftlichen Gruppen hinweg eine starke Bindung an die lokale Politik im Revier. Während sich also die gesellschaftlichen Probleme im Ruhrgebiet in kleinen Räumen sammeln, nehmen die Bürger Politiker gerade auf der niedrigsten Ebene als ansprechbar und für ihre Wünsche empfänglich wahr. Gleichzeitig zeigt sich, dass die meisten Probleme der Ruhrgebietskommunen nur gemeinsam gelöst werden können. Entsprechend hat sich auch die Struktur der regionalen Demokratie entscheidend verändert, indem mit dem RVR und dem Ruhrparlament eine gemeinsame Institution für die gesamte Region entstanden ist. Entscheidend wird daher sein, ob die regionale Demokratie mittelfristig die Vorteile der Responsivität lokaler Politik wahren und gleichzeitig die gemeinsame Lösungskompetenz durch interkommunale Zusammenarbeit stärken kann.

war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt "Kommunikationsstress im Ruhrgebiet" an der NRW School of Governance am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen und promoviert dort zu lokaler Demokratie im Ruhrgebiet. E-Mail Link: jan.dinter@uni-due.de