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Bürgerliche Bekenntniskultur statt Identitätspolitik - Essay | Identitätspolitik | bpb.de

Identitätspolitik Editorial Bürgerliche Bekenntniskultur statt Identitätspolitik Zur Geschichte linker Identitätspolitik "Das wahre Volk" gegen alle anderen. Rechtspopulismus als Identitätspolitik Identitätspolitik gegen ihre Kritik gelesen. Für einen rebellischen Universalismus Politischer Populismus als Ausdruck von Identitätspolitik? Über einen ökonomischen Ursachenkomplex Alle an einem Tisch. Identitätspolitik und die paradoxen Verhältnisse zwischen Teilhabe und Diskriminierung

Bürgerliche Bekenntniskultur statt Identitätspolitik - Essay

Simon Strauß

/ 14 Minuten zu lesen

Identitätspolitik bedeutet eine Schwächung wirklicher Politik, also des Strebens nach dem größtmöglichen Gemeinwohl. Es ist deshalb nötig, an einer neuen Form von Bekenntniskultur zu arbeiten, die sich der politischen Auseinandersetzung über das gemeinsame Gut stellt.

Ich, Ich, Ich. Ich großgeschrieben, Ich durchgestreckt. Überall Ich. Francis Fukuyamas neue Großthese lautet, dass Politik weltweit von einer ökonomisch grundierten Rechts-links-Unterscheidung auf eine "identity axis", eine "Identitätsachse", umschwenkt, die Fortschritt anhand von Kleingruppenbildung nach den Kriterien Ethnie, Religion oder Geschlecht misst. Identitätspolitik wird dann gefährlich, so Fukuyama, wenn sie nicht mehr nur Gleichheit herstellen, sondern bestimmte Charakteristika hervorheben und gegenüber anderen als überlegen konstituieren will. Wenn also das Ich über das Wir siegt, Differenzen stärker betont werden als Gemeinsamkeiten.

Ihren symbolischen Ausdruck findet diese allgemeine "Tendenzwende" in den unterschiedlichsten Sphären: In der deutschen Theaterlandschaft etwa spiegelt sie sich eindrücklich in der Ablösung der sozialkritischen Berliner Volksbühne durch das diversitätszentrierte Maxim-Gorki-Theater als maßgebliches Schauspielhaus mit politischem Anspruch. Das Gorki ist in der Tat das erste "identitäre Theater" Deutschlands, weil es sich von dem universellen Freiheitsversprechen der Kunst verabschiedet und zum Ritualplatz einer abgrenzenden Selbstvergewisserung für einzelne Identitätskollektive geworden ist. Nicht mehr auf den Nachvollzug eines überindividuellen Arguments wird hier die Hoffnung gesetzt, sondern auf Identifikationsangebote für eine je nach Hautfarbe und Herkunft changierende Minderheit. Von der Beschäftigung mit der – berechtigten – Frage nach der Repräsentanz benachteiligter Gruppen auf deutschen Bühnen führt kein Weg mehr zum Ideal der Gesamtgesellschaft und der Frage nach ihrem utopischen Potenzial.

Dabei erscheint die identitäre Agenda genau genommen als inkonsequent. Zwar toleriert man es auf vielen Bühnen nicht mehr, wenn eine schwarze Rolle mit einer nicht schwarzen Schauspielerin besetzt wird, und kritisiert, wenn ein türkischer Gemüsehändler nicht von einem türkischstämmigen Darsteller gespielt wird. Aber, so der Journalist Christian Baron: "Interessanterweise verlangt niemand, dass der türkische Gemüsehändler auch von einem Gemüsehändler oder zumindest vom Sohn eines solchen gespielt wird. Bei ethnischen Zuschreibungen ist die Echtheit für die tonangebende Kulturkaste also ein moralisches Gebot, im Falle der sozialen Klassenlage dagegen ist die Mimesis nach wie vor erlaubt und erwünscht."

Identität ist das Schlagwort der Stunde. Was früher die Konfession war, später die Ideologie wurde, ist heute die Identität: das erfolgversprechendste Mittel, um Zugehörigkeit zu signalisieren. Identität ist ein Begriff, der auch deshalb im bedrohlich unübersichtlichen 21. Jahrhundert eine solche Anziehung entwickelt, weil er einen Anspruch auf besonderen Schutz geltend macht. Er lässt sich einsetzen wie ein Schild, hinter dem man sich verschanzen und angegriffen fühlen kann. Denn gegen Identität lässt sich nur schwer argumentieren. Angesiedelt in einer "Zwischenzone zwischen Selbstauskunft und Fremdbeschreibung" behauptet der Begriff, Tatsache zu sein, ohne auf seinen transitiven Status verzichten zu wollen: Jede Identitätsbehauptung ist durch faktische Entwicklungen sowie durch ein komplexes Sprachspiel der Identitätszuschreibungen konstituiert. Damit ist Identität an sich eine offene Bestimmung, etwas, "das noch nicht ganz oder noch nicht genug da ist und das vervollständigt werden muss".

Begriffsgeschichtlich lässt sich Identität bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Erstmals gebraucht wurde der lateinische Begriff "identitas" im 12. Jahrhundert als Bezeichnung für diejenigen Merkmale, die verschiedenen Elementen einer Gruppe gemeinsam waren. Von diesem logischen oder ontologischen Identitätsbegriff, der die Zugehörigkeit verschiedener Gegenstände oder Personen zu einer einheitlichen Klasse oder Art beschreibt, unterscheidet sich der Begriff der individuellen Identität.

Während der Begriff in der Metaphysik, Logik und Mathematik lange Zeit verwendet wurde, um die Übereinstimmung zweier oder mehrerer Bezugsgegenstände zu bezeichnen, machte der US-amerikanische Psychoanalytiker Erik H. Erikson den Begriff in den 1950er Jahren als Ausdruck eines einzigartigen Selbst populär. Unter Identität verstand er nun die subjektive Selbstdefinition verbunden mit der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Erikson ging es darum, die weitverbreiteten Gefühle von Unsicherheit und Entfremdung in den USA des Kalten Krieges zu beschreiben. Pointiert gesagt, brachte er Identität in Stellung, um von einer "Identitätskrise" sprechen zu können. In der Psychoanalyse liegt somit die Wurzel unserer Vorstellung von individueller Identität.

Identität als politisches Mittel

Die Stärkung partikularer Interessen, vor allem auch das Aufbegehren gegen Diskriminierung und der Kampf um Gleichstellung, wurden zuerst in den USA zum Inhalt einer sogenannten Identitätspolitik (identity politics), da sich hier das Versprechen der allgemeinen Gleichheit und Freiheit für Teile der Bevölkerung nicht erfüllte. Die Erfüllung einer liberalen Agenda sollte in den USA in einer Gesellschaft geschehen, die durch rassistische Segregation und Diskriminierung geprägt war. Folglich verwundert es nicht, dass sich der Kampf um Freiheit mit einer affirmativen Aneignung ethnischer oder kultureller Typen zur Bildung von Interessenverbänden verknüpfte. Die Festlegung ethnischer und kultureller Typen bemüht jedoch, wenn er als überzeitliche Wahrheit genommen wird und nicht als Ausdruck lokal durchzusetzender Interessen, einen starren Begriff von kollektiver Identität, wie er auch rassistische Vorstellungen auszeichnet.

Immer wieder ist heute nun mit Blick auf die politische Linke von Identitätspolitik oder identity politics die Rede. Was damit bezeichnet wird, verbindet die psychoanalytisch beschriebene Ich-Identität als ideales Ziel, die Emanzipation, mit dem Mittel der Affirmation und Stärkung teils zugeschriebener, teils selbstgewählter Kollektividentitäten. Solange das ideale Ziel der Emanzipation nicht erreicht ist, macht aber das, was eigentlich als Mittel gedacht war, das Ziel des politischen Handelns aus: das Bekenntnis zur diskriminierten Gruppe.

Darüber hinaus begegnet uns das Wort Identität aber auch am politisch gegensätzlichen Ende, im Namen der "Identitären Bewegung". Im Gegensatz zu denjenigen, die in der Rücksichtnahme auf oder in der Angleichung des Allgemeinen an das Besondere das höchste politische Gut sehen, sehen sich die Anhänger der "Identitären Bewegung" als Verteidiger einer lokalen kollektiven Identität, die sich im Prozess der Globalisierung aufzulösen drohe. Beiden politischen Mobilisierungen des Identitätsbegriffs geht eine vorpolitische Fixierung auf das Individuelle voraus.

Wandel des kulturellen Bewusstseins

Welche gesellschaftlichen Strukturprobleme verbergen sich hinter einer solchen Fixierung auf das eigene Ich? Der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt unsere Gesellschaft als eine "Gesellschaft der Singularitäten", die nicht mehr von allgemeinen Standards geprägt sei, sondern von Prozessen der Vereinzelung, der Herausbildung von individualistischer Identität. Der radikale Wandel von der industriellen zur digitalen Spätmoderne hinterlasse seine Spuren nicht nur im Arbeitsleben, wo nur noch ein Bruchteil der ursprünglichen Erwerbstätigen im industriellen Sektor tätig sei, während die Dienstleistungsberufe absolut dominierten, sondern auch im kulturellen Bewusstsein, also der Mentalität: Reckwitz beobachtet für den Zeitraum seit den 1980er Jahren eine "Erosion klassischer Pflicht- und Akzeptanzwerte (…) und dafür einen Aufstieg von Selbstentfaltungs- und Selbstverwirklichungswerten, eine singularistische Wertestruktur, in der der Einzelne sich selber und seine eigenen Bedürfnisse und deren Entfaltung mehr ins Zentrum stellt". Die Folge sei die Fragmentierung der Gesellschaft. Immer mehr Identitäten erheben Anspruch auf Anerkennung und Schutz, wollen sich aber nicht mehr zu einem Ganzen bekennen – außer dem Ganzen, das sie selbst zu sein meinen.

Der ökonomische Individualismus geht einher mit einem kulturellen. In diesem Zuge wird das politische Links-rechts-Schema überlagert von einem neuen Gegensatz: Auf der einen Seite steht eine Wertestruktur, die Öffnung als zentrales Leitmotiv setzt: Öffnung der Identitäten, der Märkte und der Grenzen werden zusammengedacht und somit linke wie wirtschaftsliberal-rechte Werte miteinander gemischt. Auf der anderen Seite findet sich ein starker Hang zur Regulierung, Ordnung und Kollektivität, zu nationaler Homogenität, traditionelleren Geschlechterrollen, religiösen Bindungen. Genauso finden sich aber auch Versatzstücke traditionell linker Sozialpolitik wie etwa stärkere staatliche Regulierung des Marktgeschehens, nicht selten verbunden mit einem Bezug auf die Interessen des Arbeitermilieus.

Grundsätzlich steht das Lebensgefühl eines liberalen Kosmopolitismus einer von Entwertungserfahrungen gekennzeichneten Lebenslage moralisch oder materiell Deklassierter gegenüber. Immer stärker wird deutlich, dass Begriffe wie "Emanzipation", "Migration" oder "Digitalisierung" unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden. Dass der globale Erfolg populistischer Politik auf fatale Weise mit der linken Hinwendung zu Identitätspolitik und Moralthemen und der Vernachlässigung der sozialen Frage zusammenhängt, hat der US-amerikanische Politikwissenschaftler Mark Lilla vielleicht nicht als erster, aber auf besonders prägnante Weise erkannt. In einem Artikel für die "New York Times" forderte er im November 2016 ein Ende der euphorischen Differenzaufzählung als Fundament Demokratischer Politik. Wer über Gesellschaft nur als Ansammlung von Minderheiten spreche, befeuere eine narzisstische Opfermentalität, die sich nur noch für die eigenen Lebensumstände interessiere. Der universale Anspruch, über Gesellschaft als Ganzes zu sprechen, werde als diskriminierend und homogenisierend diffamiert und das Engagement für benachteiligte Gruppen zum höchsten politischen Ziel erklärt.

Folgt man Mark Lillas Ansicht, lässt sich erkennen, wie sehr der vorpolitische Individualismus mit dem identitätspolitischen Bemühen verbunden ist, diskriminierten Minderheiten allein mittels einer "identitären" Symbolpolitik einen besseren Stand zu verschaffen. Einerseits hat der Einsatz für eine sogenannte diskriminierungsfreie Sprache durchaus Berechtigung, weil er uns daran erinnert, dass im kommunikativen Umgang Stereotypisierungen zu meiden sind. Es wäre jedoch fatal, beispielsweise anzunehmen, die Durchsetzung der Gleichberechtigung der Geschlechter sei mit Sprachregelungen durchzusetzen. Bei faktischer Gleichstellung wäre es gar nicht nötig, das Wort "man" als "Mann" misszuverstehen. Denn der Sinn der Vokabel besteht ja gerade darin, dass er allumfassend beziehungsweise generisch alle Mitglieder einer nicht näher bestimmten Gruppe umfasst. Wie gesagt, die reine Symbolpolitik hat die Tendenz, das Ziel wirklicher Gleichstellung innerhalb eines politischen Gefüges zu verschleiern. An dessen Stelle tritt dann unter Umständen auch die Zielvorstellung einer vorpolitischen Freiheit, die einer "singularistischen Wertestruktur" das Wort redet. Jene ist aber per se nicht politisch, betrifft nicht die Organisation des Gemeinwesens, sondern nur die Befriedigung von Konsum- und Schutzbedürfnissen Einzelner. Dann wird eben durch das Bekenntnis der Zugehörigkeit zu einer diskriminierten Minderheit kein politischer Kampf um Gleichstellung mehr geführt, sondern es dient als Schutzmantel, um sich ungestört der Befriedigung eigener Bedürfnisse zu widmen.

Lilla attestiert den amerikanischen Linksliberalen eine "obsession with diversity" und erinnert dagegen an den bindenden Wert des Gemeinsinns: "National politics in healthy periods is not about ‚difference‘, it is about commonality." Nur wenn sich die Linke von ihrem neuen moralpolitischen Kurs verabschiede und sich wieder Fragen der Klasse, der Wirtschaft und der Solidarität zuwende, habe sie eine Chance gegen den grassierenden Populismus.

Identitätspolitik ist nicht politisch

Inzwischen werden auch Stimmen laut, die hierzulande eine Hinwendung von Linksliberalen zu Identitätspolitik scharf kritisieren: Der Kultursoziologe Wolfgang Engler etwa argumentiert, dass sich "der globalisierungsaffine Teil der ökonomisch Beherrschten mittels Identitätspolitik und politischer Korrektheit kulturelle Herrschaft über die Zurückgebliebenen" anmaße und diese durch ihren eigenen bewussten Konsum, ihre eigene besonnene ökologische und achtsame Lebensführung in einen ständigen Rechtfertigungszwang versetze. Ihr individualistischer Slogan laute "Weltveränderung als Selbstveränderung" und passe hervorragend in das Anforderungsprofil des Kapitalismus. Auch der Philosoph Robert Pfaller bringt die Vernachlässigung sozialer Konflikte gegen eine identitäre Kultur der Achtsamkeit in Stellung: "Auf der einen Seite haben sich die Verhältnisse brutalisiert, wenn jedes fünfte Kind unter der Armutsgrenze lebt in so einem reichen Land. Auf der anderen Seite sind genau diese Entwicklungen, die dann immer härtere Verhältnisse hervorgebracht haben, von einer Kultur begleitet worden, die ein immer zartfühlenderes Verständnis für irgendwelche Verletzlichen entwickelt hat."

Polemisch zugespitzt lässt sich sagen: Eine Politik, die an vereinzelten Identitäten orientiert ist, statt unter Anerkennung von Unterschieden das Gemeinsame zu suchen, hört auf, Politik zu sein, und begünstigt sozialen Partikularismus. Dann interessiert sich das Bewusstsein eines politischen Subjekts nicht mehr für institutionelle Machtzusammenhänge und die Verteilungskämpfe zwischen legislativer, judikativer und exekutiver Gewalt. Eine solche politische Haltung spielt einem ideologischen Neoliberalismus durchaus in die Hände. Denn die einzelnen Personen werden insgeheim nur noch als Konsumenten oder Produktivkräfte gedacht: Wenn aber die Dienstleistung für Lohn als Selbstverwirklichung gelten kann, ist sie kein Problem mehr, sondern das höchste Gut einer individualistischen Ethik. So bewirkt Identitätspolitik gerade nicht die politische Emanzipation von Benachteiligten. Vielmehr negiert sie den selbstbewussten Freiheitssinn des Einzelnen, weil er sich nicht mehr durch seine aktive Tätigkeit als Bürger, sondern nur noch über Äußerlichkeiten wie Hautfarbe, sexuelle Vorlieben und Migrationserfahrungen, aber denkbarerweise auch Körpergewicht, Alter oder den Grad an individueller Sensibilität bestimmen kann. Vielmehr als Emanzipation bedeutet Identitätspolitik deshalb Einordnung unter kleinkollektive Identitätsmarken. Die "Identitäre Bewegung" ist dann nur die radikale Gegenseite derselben Medaille. Nur wird hier unter Identität nicht das Selbstverständnis als Frau, Schwarzer oder Homosexueller verstanden, sondern die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die sich durch Ethnizität bestimmt und damit essenzialistisch auf Partikularität fixiert bleibt.

Jedes Hantieren mit Identität hat somit immer einen antiuniversalistischen Effekt. Es geht, wie Lilla pointiert dargestellt hat, um subjektive Expression, nicht um allgemeine Überzeugung – man könnte auch sagen um Gefühl, nicht um Verantwortung. Im Grunde bedeutet die Tendenzwende hin zur Identitätspolitik eine Schwächung wirklicher Politik, also des Strebens nach dem größtmöglichen Gemeinwohl.

Bürgerliche Bekenntniskultur

Es ist heute dringend nötig, an einer neuen Form von Bekenntniskultur zu arbeiten, die sich der politischen Auseinandersetzung über das gemeinsame Gut stellt. Ausgangspunkt einer solchen Arbeit wäre eine prinzipielle Neuverhandlung dessen, was unter dem "Allgemeinen" zu verstehen ist. Denn Politik ist, wenn nicht viel mehr, so zumindest das: die Organisation des gemeinsamen Zusammenlebens über das Private hinaus. Worauf könnte sich also ein "Wir" beziehen lassen, wenn nicht auf Kleingruppen oder auf eine neovölkische Vorstellung von schicksalhafter Zugehörigkeit? Zwar hat der israelische Philosoph Omri Boehm nicht Unrecht, wenn er mit Blick auf die USA im patriotischen Liberalismus nur eine weitere Spielart des Identitätsliberalismus erkennt, "eine Variante nicht für Frauen, Schwarze, LGBTQ oder Muslime, sondern für all jene, die politische Debatten mit dem Ausdruck ‚wir Amerikaner‘ beginnen können". Allerdings ist die Kategorie des Nationalstaates eben umfassender, gleichsam beweglicher und damit integrativer als andere Bezugsgrößen. Von Europa als Zentrum der politischen Integration zu träumen, ist trotzdem weiterhin erlaubt.

Entscheidend ist die Frage, ob man sich heute gesellschaftliche Veränderung im Ganzen jenseits eines Kampfes für Partikularrechte überhaupt noch vorstellen kann. Ob es eine Rückkehr vom unternehmerischen Individualismus zur gemeinsamen Bestimmung geben kann und wie sich erneut ein universales Interesse am Schicksal der umgebenden Welt jenseits der eigenen vier Identitätswände stimulieren ließe. Die Kategorien "Rasse" und "Klasse" sind verbraucht. Zu viel schandhaft Schreckliches wurde in ihren Namen getan. Die Kategorie "Bürger" hingegen ist einigermaßen unbeschadet aus den Verheerungen der Jahrhunderte hervorgegangen. Sie kann noch heute Anziehung und Bindungskraft entwickeln, auch wenn ihre Ursprünge bis in die Antike, insbesondere in die römische Republik, zurückreichen.

Politische Integration der Gesellschaft

Roms Oberschicht war nicht einfach nur eine für vormoderne Hochkulturen typische Form der Aristokratie, die Ehre, Reichtum und Macht qua Erbfolge bei sich monopolisierte. Sie musste sich vielmehr ihrer Prestigestellung durch die Teilnahme an der politischen Organisationsstruktur stets neu versichern und ihre individuelle soziale Schätzung durch die Wahl in politische Ämter bestätigen lassen. Nur wer ein hohes Amt bekleidete, wurde auch hoch angesehen. Politik beziehungsweise die Ausübung politischer Ämter war in der stratifizierten römischen Gesellschaft somit das entscheidende Mittel der Rangmanifestation. Der Historiker Aloys Winterling bringt diesen Umstand auf die Formel einer "politischen Integration der Gesellschaft" und verweist gleichzeitig auf den besonderen, weil antimonarchisch-städtischen Kontext dieser Ordnung, die mit einer Trennung von Amt und Person einherging und deren Integrationswirkung sich auch auf alle wählenden männlichen Vollbürger übertrug, die durch die Teilnahme an der Volksversammlung ihre Zugehörigkeit zum Gemeinwesen beglaubigten.

Der antike Bürgerbegriff ist bekanntlich beschränkt, schließt Frauen, Unfreie und Ausländer aus. Aber in einer modernisierten, rechtlich erweiterten Form könnte er dem ideologiemüden und populismusgefährdeten 21. Jahrhundert durchaus wieder von Nutzen sein. Denn wenn Bürgerlichkeit heute unter dem Eindruck der technologischen Transformationen nicht mehr allein von der Erwerbsarbeit her gedacht werden kann, gesellschaftliche Teilhabe unabhängig von Lohnarbeit definiert werden muss, dann bietet sich die Politik wieder als geeignetes Integrationsfeld an. Dabei ist Bürgerlichkeit immer als ein Status zu verstehen, der durch Teilnahme gewonnen wird, nicht als unbestreitbare Eigenschaft vorhanden ist.

Eine solche "bürgerliche Bekenntniskultur" würde das Individuum zuallererst wieder zum selbstverantwortlichen Subjekt machen und es aus seinem identitären Kokon, seiner Rolle als einem von Staat und Gesellschaft schlecht behandelten Kunden befreien. Die Wiederbelebung des Bürgerempfindens hätte zur Folge, dass der soziale Partikularismus zugunsten eines politischen Universalismus verabschiedet würde, damit gemeinwohlorientierte Ziele formuliert und überindividuelle Fragen nach Gerechtigkeit, Machtverteilungen und Verantwortungen gestellt werden können. Übergeordnetes Ziel wäre eine Versöhnung der verschiedenen Identitätskollektive und Subjektgruppen, denn nur eine versöhnte oder zumindest versöhnliche Gemeinschaft kann auf Dauer stark bleiben, eine Demokratie sich nur halten, wenn die Teilhabe an ihr nicht nur individuelle Vorteile, sondern auch kollektive Verantwortung bedeutet – wenn Solidaritätserfahrungen und Pflichtanforderungen Hand in Hand gehen.

Aufruf zum republikanischen Wir

Im Sinne Kennedys berühmten "ask not what your country can do for you – ask what you can do for your country" ginge es einer postidentitären Bekenntniskultur darum, wieder das Leitbild einer möglichen gemeinsamen Handlung ins Zentrum zu stellen. Das bedeutet, dass die Politik ihre Bürger eben nicht im Stil einer wohlfeilen Pseudopädagogik dort abholt, wo sie stehen, sondern ihnen die Möglichkeit gibt, auf eigene Faust zu handeln. Also ihnen Lust macht auf ein bürgerschaftliches Selbstbewusstsein und darauf, Verantwortung für eine größere Sache als den eigenen Gartenzaun zu übernehmen. Im Grunde ist die politische Gemeinschaft auch eine Möglichkeit, sich von der Überforderung der Einzel-Existenz zu entlasten. Die Notwendigkeit des Miteinanders, des Gefühls eines "republikanischen Wir", ergibt sich aus der Unvollkommenheit des Einzelnen. Der Bürger ist als politisches, nicht als biedermeierliches, Subjekt eine zwischen lokaler Gemeinschaft und globaler Gesellschaft verantwortlich vermittelnde Person, die ohne Bevormundung nach milieu-übergreifenden Gemeinsamkeiten sucht. Damit ist für den Bürger Politik ein nie endender Prozess der Einigung und Versöhnung von Unterschieden.

Auf welches Ideal weist das schlussendlich hin? Gefordert wäre ein Begriff von Gemeinwohl, der jenseits von Konsum und Moral auch für bürgerliche Verantwortung und politische Integration steht. Dieses Bekenntnis zum Gemeinwohl impliziert erstens, dass die Kategorie des Bürgers gegenüber dem Konsumentendasein zurückerobert wird; zweitens, dass die soziale Frage nach universaler Gerechtigkeit über die identitäre Frage nach individueller Gruppenzugehörigkeit gestellt wird; und drittens, dass der verbale Konflikt neu wertgeschätzt wird. Harmonie an sich ist kein Gut: Politik lebt von der Debatte, stetige Konsensbehauptung hat den Rückzug ins Private zur Folge, wenn dieser Konsens nicht erreicht wird – mit der Konsequenz, dass wir nicht mehr in einer Gesellschaft der Freiheit, sondern der Freizeit leben.

Politik im 21. Jahrhundert kann nicht nur heißen: schnelles Internet, kundenfreundliche Bedienung und richtige Anrede auf Behördenformularen. Es muss auch um Fragen des politischen Bewusstseins gehen: Wie kann der kollektiv aufgekratzte und von allen technischen Revolutionen enorm in Mitleidenschaft gezogene menschliche Geist beruhigt werden? Welche Art der Bildung kann für uns eine gute Zukunft bedeuten? Wie reagieren wir als säkularisierter Westen auf die durch Migration und Kulturtransfer initiierte Renaissance der Religion? Eine bürgerliche Bekenntniskultur erlaubt es, sich diesen Fragen mit Enthusiasmus und Zuversicht zu stellen. Der Bürger ist nämlich, anders als der Identitäre, nicht von seinem Gewissen gefangen, sondern hat ein freies Bewusstsein. Ihm geht es ums Ganze. Denn er weiß sich als Teil davon.

ist promovierter Historiker und Feuilletonredakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". E-Mail Link: s.strauss@faz.de