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Würde Zu einem Schlüsselbegriff der Verfassung

Günter Frankenberg

/ 16 Minuten zu lesen

Das Grundgesetz war sich sicher: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Es leitete im gleichen Artikel 1 zwei staatliche Pflichten daraus ab, nämlich sie zu achten und zu schützen. Was ist damit eigentlich gesagt? Was heißt "Würde"? Und was bedeutet "unantastbar"?

Das Grundgesetz war sich sicher: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Es leitete im gleichen Artikel 1 zwei staatliche Pflichten daraus ab, nämlich sie zu achten und zu schützen. In Anlehnung an Max Frisch wäre anzumerken: Kann man es feierlicher sagen? Wohl nicht, aber was ist damit eigentlich gesagt? Was heißt "Würde"? Was bedeutet "unantastbar"? Wie kann sie geachtet und geschützt werden? Vor welchen Verletzungen oder Beschädigungen ist sie zu bewahren?

Allem Anfang wohnt ein Rätsel inne – der Würde-Garantie gleich mehrere. Auf den ersten Blick mutet sie an wie ein Mantra – nach dem Sanskrit ein heiliges Wort oder ein heiliger Vers mit spiritueller Kraft. Inhalt des Würde-Mantras wäre wohl ein von der Vergangenheit diktiertes "Nie wieder!". Nie wieder ein menschenverachtendes Unterdrückungs- und Vernichtungssystem auf deutschem Boden. Nie wieder staatlich organisierter Massenmord. So gelesen, wäre Art. 1 Abs. 1 ein kollektiver Stoßseufzer. In dieser Funktion vergleichbar dem einleitenden Satz zur Weimarer Verfassung, die sich endlich von der Kleinstaaterei befreit wähnte: "Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen". 1919 wurde eine Last der Geschichte abgelegt. Dramatischer war das Mantra der weithin übersehenen Verfassung von Haiti 1805: "Die Sklaverei ist abgeschafft."

Verfassungen eignen sich gut als säkulare, mantramäßige Texte, weil sie von Haus aus die nötige Feierlichkeit und beschwörende Kraft mitbringen. Gleichwohl könnte die Unantastbarkeit der Würde eine andere Bedeutung haben, nämlich als Vergangenem entlehntes, aber in die Zukunft weisendes Tabu. Dessen begrifflicher Ursprung wird im polynesischen Sprachraum verortet.

Tabus treten noch nicht vollends aus dem Geltungsbereich des Sakralen heraus und bleiben verbündet mit der Tradition. Sie sind ungeschriebene Gesetze, deren Gesetzgeber, anders als bei Art. 1, im Dunkel bleiben. Sie verbieten, mit einem Tabu belegte Personen oder Dinge zu berühren oder tabuisierte Handlungen vorzunehmen. Herkunft und Sinn heutiger (weltlicher) Tabus, wie etwa das Verbot zu foltern oder eben die Würde des Menschen anzutasten, verbergen weder Herkunft noch Sinn. Sie haben die Magie abgestreift, entstehen "in unserer Mitte" mit einer Botschaft, die sich historisch entschlüsseln lässt.

Verfassungsrechtlich übersetzen lassen sich diese "letzten" Tabus als Maßnahmen der Gefahrenabwehr (gegen Folter) oder als normative Sperren gegen den Rückfall in die Barbarei (Antasten der Würde). Diese letzte Übersetzung erklärt, warum die Karriere der Menschenwürde als Verfassungsthema erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann. Die Manifeste und Deklarationen der demokratischen Revolutionen vor über zweihundert Jahren richteten den Fokus auf Freiheit und Eigentum (in den USA 1776, 1791), Gleichheit und Abschaffung der Privilegien (in Frankreich 1789) oder Beendigung der Sklaverei und des Rassismus (in Haiti 1805). Sie hielten Abstand zur feudalgesellschaftlichen dignitas und deren Konkretisierungen als Standes- oder Amtswürde, die sich auf Rang, Ehre oder Ansehen einer einzelnen Person in der öffentlichen Wahrnehmung bezogen. In den postkolonialen Verfassungen standen verständlicherweise Unabhängigkeit und Selbstbestimmung im Vordergrund. Erst – und deutlich erkennbar – als Reaktion auf die barbarischen Mordregime des Nationalsozialismus und Stalinismus nahm die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 die Würde – anstelle des Glücksstrebens der Virginia Declaration of Rights von 1776 – in ihr normatives Programm auf: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Ein Jahr später bezogen das Grundgesetz und in den Jahren danach weitere Verfassungen die Menschenrechte auf Menschenwürde als ihr Fundament. Holocaust und Gulag, auch Apartheid verlangten nach einer anderen Antwort, als die einzelnen Menschenrechte sie geben konnten. Im Völkerrecht erfassen die Straftatbestände des Genozids und stärker individualisierend das Verbrechen gegen die Menschlichkeit die kollektive Dimension der Verbrechen. Im Verfassungsrecht markiert Würde seitdem den Referenzpunkt für die verschiedenen Aspekte der Verletzung von Menschenrechten. Das Asylrecht und das allgemeine Persönlichkeitsrecht vor allen anderen, aber auch die Gewissens- und Glaubensfreiheit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, der Schutz der Wohnung und nach liberaler Auffassung sogar die Eigentumsgarantie verfügen über einen Würdekern.

Wie Würde in der Dogmatik zugerichtet wird

Von Anfang an bemühte sich die juristische Zunft unter Führung des Bundesverfassungsgerichts, die Menschenwürde für die Anwendung dogmatisch herzurichten. Juristische Dogmatik konnte sich nicht mit der liberalen, auch rätselhaften Geste des ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuss, abfinden, die Menschenwürde sei eine "nicht interpretierte These", "die der Eine theologisch, der Andere philosophisch, der Dritte ethisch auffassen" mag. Juristische Dogmatik bedarf stets eines Rechtsbegriffs. Folglich war vorab zu klären, was die Garantie der Menschenwürde im Sinne des Rechts dem Grunde nach sein könnte. Als Kandidaten standen zur Wahl: Wert, Prinzip oder Grundrecht. Die Unterschiede sind oder scheinen beachtlich. Werte und Prinzipien gelten als "objektives Recht". Grundrechte als subjektive Rechte haben für sich, dass ihre TrägerInnen Personen und sie selbst einklagbar sind. In der Frühphase neigte ein großer Teil der Kommentare dazu, Art. 1 allein für eine "objektive Wertentscheidung" zu halten, die vom Staat, insbesondere vom Gesetzgeber zu beachten und umzusetzen sei. Das Bundesverfassungsgericht bejahte von Anfang an den Schutz der Würde des Menschen (nicht der Menschen oder Menschheit) als Grundrecht. Mit der Anerkennung der Doppelgestalt von Grundrechten als sowohl subjektiven Rechten wie auch objektiv-rechtlichen Grundsatznormen verlor jene Auffassung ihre Basis. Auch wenn Art. 1 Abs. 3 GG von den "nachfolgenden Grundrechten" spricht, stand der Doppelcharakter auch der Garantie der Menschenwürde schließlich außer Streit und führte zu Kombi-Grundrechten, also Verbindungen der Würde etwa mit dem Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2) oder dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1). Freilich hat er eine schwierige Struktur. Als subjektiv-öffentliches Recht wird die Würde von ihren TrägerInnen mobilisiert und zu den Gerichten "getragen" – eben: eingeklagt. Dagegen bedarf eine werthaltige Grundsatznorm der staatlich-hoheitlichen Durchsetzung.

Nach dieser Vorklärung schritt die Dogmatik zur nächsten Aufgabe, nämlich den Inhalt des Rechtsbegriffs "Menschenwürde" und damit den Kern des grundrechtlichen Schutzbereichs zu bestimmen. Was unter "Würde" zu verstehen sein könnte, führte alsbald zu drei dominierenden Deutungsperspektiven. Die These der Würde als Mitgift sah in ihr den Ausdruck der angeborenen Gottesebenbildlichkeit des Menschen und der Naturrechtssubstanz. Diese These beherrschte zunächst die Debatte, zumal sie ein Leitmotiv der Naturrechtsrenaissance nach 1945 aufnahm. Konträr zur Aufklärungsphilosophie und zum Naturrecht wendet sich die systemtheoretisch informierte These der Würde als Resultat einer erbrachten Leistung von der mutmaßlichen Ausstattung der Menschen und ihrer Kreatürlichkeit ab. Kraft seiner Identitätsbildung und Selbstdarstellung soll der Mensch selbst bestimmen, "was er ist". Ein riskantes Unternehmen, wenn das kommunikative Projekt scheitert. Immerhin kann es sicherstellen, dass den Individuen keine Würdeverwirklichungen aufgenötigt werden. Nach der dritten These gründet Würde in der wechselseitigen Anerkennung, die die Menschen einander schulden. Achtung und Respekt stellen sich in dieser Perspektive beim Leben in Gemeinschaft her. Sie entspricht dem in Art. 1 GG niedergelegten Achtungsanspruch, aber deutlicher noch der reziproken Verpflichtung in Art. 7 der Brandenburgischen Landesverfassung, dass wir einander "die Anerkennung der gleichen Würde" schulden. Verschränkt man die hier genannten Perspektiven, so überkreuzen sich im Schutzbereich der Würde der Schutz der körperlichen und seelischen Identität und Integrität der Person sowie das Prinzip gleicher Freiheit und Selbstbestimmung.

Wie Gerichte Würdeverletzungen feststellen und bewerten

Folgen wir dem Grundgesetz, dass die Würde unantastbar ist, was bedeutet, dass niemand seine oder ihre Würde als Person verlieren kann, dann bleibt zu klären, wo und wie sich die Würde zeigt und wie ihre Verletzung sichtbar wird. Es herrscht weitgehend Einigkeit, dass Lebensumstände, Behandlungen oder auch ein Status entwürdigend sein können. Exemplarisch kann zu Sklaverei festgestellt werden, dass ihre Lebensumstände evident entwürdigend sind. Versklavte werden ohne Weiteres in ihrer Würde verletzt, allerdings ihrer nicht beraubt, selbst wenn sie wie Sachen be- und gehandelt, gedemütigt und geschlagen werden. Kinderarbeit als Zwangsarbeit wäre, obwohl umstritten, ähnlich zu beurteilen – oder ist es ein echtes Tabu? Lässt Obdachlosigkeit an eine Verletzung der Würde denken oder eher an einen Ausfall des Sozialstaats?

Das Bundesverfassungsgericht hatte zu entscheiden, wann bei Haftstrafen die Würdeverletzung beginnt. Es hielt die lebenslängliche Freiheitsstrafe, in der Praxis beträgt sie im Durchschnitt etwa 20 Jahre, "gerade noch mit Art. 1 Abs. 1 GG [für] vereinbar". Es konnte die Strafe also gerade noch vor dem Verdikt der verfassungswidrigen Würdeverletzung retten, indem sie diese durch das Recht auf Resozialisierung einhegte. In der Untersuchungshaft dürften strengere Fristen laufen. Ohne richterliche Anordnung der Haft und Prüfung der Haftfortdauer (Art. 104 Abs. 2 GG) wäre die Würdeverletzung des Freiheitsentzugs wohl eklatant.

Als die Würde verletzende Handlungen oder Behandlungen werden üblicherweise Folter, öffentliche Ächtung und Demütigung, heimliche Überwachung und Ausforschung genannt, die den Menschen zum Objekt staatlicher Maßnahmen und Pläne machen. Diese Justierung ist insbesondere unter der Flagge des Kampfes gegen den Terror weithin verloren gegangen. Durch die Debatte über die "Rettungsfolter", auch durch Versuche der US-amerikanischen Regierung, Folter als "nur" grausame und ungewöhnliche Behandlung zu definieren, hat diese Form staatlich praktizierter Grausamkeit jedenfalls juristisch ihre Evidenz verloren.

Im sogenannten Daschner-Urteil ging es 2004 um die Androhung von Folter gegen den zu dem Zeitpunkt noch mutmaßlichen, wie sich bald herausstellte, tatsächlichen Entführer eines Kindes. Das Landgericht Frankfurt, das aufgrund der Rettungsabsicht des die Folter androhenden Vizepolizeipräsidenten, Wolfgang Daschner, ein mildes Urteil fällte, fand in einem Punkt zur Klarheit zurück: "Ein Verstoß gegen die Achtung der Menschenwürde ist auch dann verwerflich, wenn dieser – subjektiv – zu dem Zweck erfolgt, das Leben eines Kindes zu retten." Dieser Logik folgte auch das Bundesverfassungsgericht 2006, als es den "Rettungsabschuss" eines Flugzeugs, das mutmaßliche Terroristen unter ihre Kontrolle gebracht haben, wegen "der Ausstrahlungswirkung der Menschenwürde-Garantie" für verfassungswidrig erklärte.

Der Status, dem aus dem Blickwinkel der Würde Verletzungen drohen, betrifft primär das Menschsein, die Kreatürlichkeit. Er wirft die Frage auf, ob der Würdeschutz auf natürlich geborene, lebende, menschliche Wesen beschränkt sein soll, wo also die existenziellen Grenzen gezogen werden – ob also Verstorbene oder Embryonen, durch Klonen oder in vitro erzeugte Wesen einen rechtlichen Status haben, der jenseits oder unter aller Würde liegt. Im Streit um Klaus Manns Schlüsselroman "Mephisto", der sich ersichtlich an das Leben des bekannten, inzwischen verstorbenen Schauspielers Gustav Gründgens anlehnte und am Beispiel von dessen Kollaboration mit dem Nazi-Regime den Typus des Aufsteigers und Verräters entwickelte, bejahte das Bundesverfassungsgericht 1971 grundsätzlich den Schutz der postmortalen Würde, fand jedoch keine Mehrheit für den Vorrang entweder der Ehre oder der Kunst. In den beiden Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch markierte das Bundesverfassungsgericht den Schutzbereich in die zeitlich entgegengesetzte Richtung. 1975 beziehungsweise 1993 leitete das Gericht für Ungeborene aus Art. 1 Abs. 1 GG das elementare Recht ab, das unveräußerlich von der Würde ausgehe, dass sich der Staat schützend vor das "werdende Leben" stellt und dazu ausreichende Maßnahmen ergreift.

Die Liste der Streitfälle lässt sich mühelos verlängern, selbst wenn man die trivialen Belästigungen, die als Würdeverletzung eingeklagt wurden, außer Acht lässt, wie die Zahlung einer Geldbuße wegen einer Ordnungswidrigkeit, die Leichenöffnung im Ermittlungsverfahren oder die Umschreibung von Umlauten in der elektronischen Datenverarbeitung. Was zeigen die genannten schwierigeren Fälle?

Erstens, Würde hat keine feststehende Bedeutung, aber vielfältige Verwendungsweisen, in denen sich immer wieder ein bisweilen neuer Bedeutungskern verdichtet. Neben den Schutz der Integrität und Identität treten seit einiger Zeit die Gewährleistung materieller Lebensbedingungen und zuletzt der Anspruch auf Demokratie.

Zweitens, die Schutzgarantie liegt seit geraumer Zeit im Schatten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Damit verschieben sich die Überlegungen vom Schutzbereich hin zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Hinweise auf Verhältnismäßigkeit geben das synonyme Untermaßverbot (etwa beim Schutz des werdenden Lebens), Formeln wie "gerade noch" (bei der lebenslänglichen Freiheitsstrafe), die "Sphärentheorie" zur Abstufung des Würdeschutzes je nachdem, ob die Intim-, Privat- oder Sozialsphäre betroffen ist.

Drittens, es gibt kaum einen die Würde betreffenden Fall, in dem ihr Schutz nicht gegen andere Werte von Verfassungsrang und Grundrechte abgewogen wird. Zwar wird sie nicht im strengen Sinn angetastet, aber ihr Schutzbereich wird vermessen, Eingriffe werden gewichtet und ihre normative Bedeutung im Verfahren des möglichst schonenden Ausgleichs, genannt praktische Konkordanz, berechnet. Das spricht gegen die Annahme, die Unantastbarkeit der Würde umschreibe ein modernes Tabu, und auch gegen die Vermutung, die Würde sei unabwägbar: Im Abhörurteil wurde 1970 die Würde gegen den Schutz des Staates abgewogen – und die Verletzung der Würde wurde für zu leicht befunden. Bei der Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch wurden der Lebensschutz des Embryos und die Entscheidungsfreiheit der Schwangeren "in ihrer Beziehung zur Menschenwürde" gesehen und abgewogen. Das Bundesverwaltungsgericht ließ bei der Frage der Zulässigkeit von Peep-Shows die freie Entscheidung der nackten Frauen hinter der "normativen Kraft" der Würde zurücktreten. Diese Beispiele illustrieren, dass die allgegenwärtige Abwägung keine Prognose zulässt, welches Gewicht die Gerichte der Würde im jeweiligen Konfliktfall beimessen.

Viertens, die Würde wird beim fortpflanzungsmedizinischen und gentechnischen Umgang mit menschlichem Leben (etwa therapeutisches Klonen), bei der Präimplantationsdiagnostik, bei Leihmutterschaft und In-vitro-Fertilisation, bei der Haftung des Arztes für eine fehlgeschlagene Sterilisation oder auch beim Einsatz der Informationstechnologie oder gegen die Forschungsfreiheit oder informationelle Zugriffe des Staates in Anschlag gebracht. Ganz offensichtlich eignet sich die Menschenwürde dazu, neuartige Konflikte und Gefahren anzuzeigen. Wie eine Wanderdüne bewegt sie sich als erste Abwehrfront auf diese Technologien zu und versucht, mit natürlich umstrittenen Verboten eine Grenze zu ziehen. Sie stellt sich ihnen als Argument in den Weg, solange ein ausdifferenziertes Instrumentarium vom Gesetzgeber noch nicht entwickelt worden ist.

Was den Menschen für ein Leben in Würde zusteht

Der Parlamentarische Rat hatte nicht bezweckt, Menschenwürde als Anspruch auf staatliche Fürsorge zu normieren. Sie blieben ihrer liberalen Linie treu, obwohl seit einer Resolution der Internationalen Arbeitsorganisation von 1944 materielles Wohlergehen und soziale Sicherheit längst Anschluss an den Schutz der Würde gefunden hatte. Drei Landesverfassungen und vor allem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hatten eine der Würde entsprechende Existenz thematisiert, auch die DDR-Verfassung von 1949 griff die in der Weimarer Verfassung programmatisch verbürgte "Sicherung eines menschenwürdigen Daseins" auf (Art. 19). Gleichwohl mochten sich die Eltern des Grundgesetzes zu einer würdegemäßen "befriedigenden Entlohnung" oder allgemeiner einem Leben in Würde nicht äußern.

Auch das Bundesverfassungsgericht meinte 1951, der Schutz der Würde umfasse nicht die "materielle Not": Art. 1 Abs. 1 S. 2 "verpflichtet den Staat zwar zu dem positiven Tun des ‚Schützens‘, doch ist dabei nicht Schutz vor materieller Not, sondern Schutz gegen Angriffe auf die Menschenwürde durch andere, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. gemeint". Es galt Freiheit und im Notfall Fürsorge. Diese Entscheidung trat eine Debatte los, an deren Ende die Entkoppelung der Würde von den Bedingungen der materiellen Existenz und damit die liberale Existenzblindheit aufgehoben wurde. Das Bundessozialhilfegesetz ging voran und stellte der Sozialhilfe die Aufgabe, "die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht".

Schritt für Schritt wurde die antitotalitäre Fundamentalnorm geöffnet, und der "fundamentalistische Liberalismus" wurde zurückgenommen durch die Einbeziehung der sozialen Dimension. Zur Entfaltung kam diese schließlich, als das Bundesverfassungsgericht den Würdeschutz mit dem Sozialstaatsprinzip verknüpfte: Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Im Rahmen seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags fällt dem Staat nunmehr die Pflicht zu, dafür Sorge zu tragen, dass den Hilfebedürftigen die notwendigen Mittel zur Verfügung stehen. Mit dieser Argumentationslinie wurden der Schutz der Integrität und der Identität, der Autonomie und Selbstbestimmung um die Verbürgung eines Lebens in Würde ergänzt – frei nach Friedrich Schiller: "Zu essen gebt ihm, zu wohnen. Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst."

Anders als Schiller verlangte das Bundesverfassungsgericht wie bei allen Grundrechten, dass der materielle Würde-Anspruch vom Gesetzgeber "alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen" hat. Zuletzt betonte das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Leistungen für AsylbewerberInnen, dass die Frage des Existenzminimums nicht vom Aufenthaltsstatus der Anspruchsberechtigten abhängen darf. Wer also deren Mittel kürzen will, muss auch dies in einem inhaltlich transparenten Verfahren tun und muss insbesondere belegen, dass diese Gruppe tatsächlich einen niedrigeren Bedarf hat. Die Grundsicherung könnte bald das nächste Würde-Thema sein.

Der Schutz der Menschenwürde gibt mithin ein ungefähres Maß vor, was uns zusteht – in puncto Status, Behandlung, Lebensumstände und materiellen Lebensbedingungen. Konkretisieren muss dies jeweils der Gesetzgeber oder im Einzelfall die Verwaltung im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative beziehungsweise ihres Ermessens. So wurde das Hartz-IV-Gesetz beanstandet, weil die Unterhaltssätze 17 Jahre lang nicht angehoben worden waren.

Das Recht, Rechte zu haben

Zu der durch die Ewigkeitsklausel (Art. 79 Abs. 3 GG) jeglicher Verfassungsänderung entzogenen Würde-Garantie gehört schließlich noch das Bekenntnis in Abs. 2: "Das Deutsche Volk bekennt sich darum", also wohl wegen Achtung und Schutz der Würde, "zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Was Menschenrechte sind, scheint geklärt: Sie gelten für alle, das heißt universell. Es kommt nur auf das bloße Menschsein an, nicht etwa auf die nationale Zugehörigkeit zu einem Staat oder einem Stand, auf ein bestimmtes Geschlecht oder das Erreichen einer Altersgrenze. Angesichts des Elends der Vertriebenen, Deportierten und Staatenlosen pointierte die Philosophin Hannah Arendt den Begriff und folgerte, es gebe nur ein einziges Menschenrecht, nämlich das Recht, Rechte zu haben, weil nur dieses im Zustand "absoluter Gesetz- und Schutzlosigkeit" das bloße Menschsein sichert. Dem entsprach das Grundgesetz in der Fassung von 1949 mit der menschenrechtlichen – würdenahen – Verbürgung: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht."

Lange galt das Recht, Rechte zu haben, als eine interessante philosophische Idee ohne juristische Bedeutung. Es scheint jedoch, als könnte dieses Recht eine späte, vom Würdeverständnis beschleunigte Karriere machen. Zuletzt hatte die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) über die völkerrechtswidrigen Rückschiebungen (Push-Backs) an der spanisch-marokkanischen Grenze zu verhandeln. Im Oktober 2017 befand der EGMR, Spaniens Rückschiebepraxis sei menschenrechtswidrig. Er gab damit zwei Individualbeschwerden statt, mit denen Geflüchtete ihr grundlegendes "Recht auf Rechte" einforderten.

Schluss

Angenommen die Unantastbarkeit der Würde ähnelte einem Tabu: Wozu brauchen wir diese Norm? Nach dem hier kursorischen Durchgang durch Deutungen und Kontroversen liegt die Vermutung nahe, der Würde-Schutz solle uns an die Versehrbarkeit unserer Existenz erinnern und die grundlegende und einzige wechselseitige Verpflichtung bekräftigen, nämlich die gleiche Würde aller anzuerkennen. Daneben ruft Art. 1 GG ins Gedächtnis, was Anderen – den Fremden – zusteht. Nicht nur politisch, nicht nur moralisch, sondern von Verfassungs wegen haben sie das Recht, bei uns Rechte zu haben. Denn das rechtliche Unglück der Geflüchteten und Asylsuchenden besteht nicht darin, dass sie "des Lebens, der Freiheit, des Strebens nach Glück, der Gleichheit vor dem Gesetz oder der Meinungsfreiheit beraubt sind". "Ihre Rechtlosigkeit entspringt einzig der Tatsache, daß sie zu keiner irgendwie gearteten Gemeinschaft mehr gehören."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der genaue Wortlaut: "Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

  2. "Kann man es höflicher sagen?" war der Kommentar von Max Frisch zu dem von ihm auszugsweise verlesenen Wortlaut der Eigentumsgarantie: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." Max Frisch, Dankesrede, Friedenspreis des deutschen Buchhandels 1976, S. 13–18, Externer Link: http://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/sixcms/media.php/1290/1976_frisch.pdf.

  3. In Totem und Tabu gibt Sigmund Freud eine Erläuterung, die uns zur Frage nach der Bedeutung zurückführt: "Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung, sie sind unbekannter Herkunft; für uns unverständlich, erscheinen sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft leben." Siegmund Freud, Totem und Tabu, Hamburg 2014, S. 29.

  4. Vgl. Cathérine Dupré, The Age of Dignity, Oxford-Portland 2015, S. 1ff. Sie setzt den Akzent etwas anders – auf die Bedrohung des menschlichen Lebens durch die Biotechnologien.

  5. Die Charta der UNO von 1945 beruft sich in ihrer Präambel u.a. auf den "Glauben (…) an die Würde".

  6. Eindrucksvoll vor allem Art. 14 der Verfassung des Kaiserreichs Haiti von 1805, der für alle Personen im Lande, gleich welcher Hautfarbe, die Bezeichnung "Black" vorsah.

  7. Instruktiv dazu Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider – Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008, insb. S. 227ff.

  8. Die Verfassung der DDR von 1949 erwähnt in Art. 19 das "menschenwürdige Dasein".

  9. Zu den Deutungskontroversen um die Menschenwürde breitet Manfred Baldus mit Sorgfalt und Übersicht viel Material aus. Manfred Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde. Die Debatten seit 1949, Frankfurt/M. 2016. Siehe auch Klaus Kröger, Einführung in die Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 2016.

  10. Siehe dazu Georg Lohmann, Die rechtsverbürgende Kraft der Menschenwürde, in: Zeitschrift für Menschenrechte 1/2010, S. 46–63.

  11. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 1, 332 (343); BVerfGE 125, 175 (223).

  12. Grundlegend Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, in: Der Staat 1/1990, S. 1–31.

  13. Eine gute, aufs Wesentliche beschränkte Übersicht liefern Bodo Pieroth/Bernhard Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Karlsruhe 201228, S. 83–88.

  14. Nachweise bei Lena Foljanty, Naturrechtsrenaissance, in: Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, Berlin 2016, Sp. 1868–1871.

  15. Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, Berlin 20186, S. 53ff.

  16. Zum Achtungsanspruch auch BVerfGE 109, 133 (150). Damit wäre die Kreatürlichkeit von Tieren – anders als in der Schweizer Bundesverfassung und dem Gentechnikgesetz – aus dem Schutzbereich von Art. 1 Abs. 1 GG ausgeschlossen.

  17. Vgl. Manfred Liebel, Kindheit und Arbeit. Wege zum besseren Verständnis arbeitender Kinder in verschiedenen Kulturen und Kontinenten, Frankfurt/M.–London 2001; Georg Wimmer, Kinderarbeit – ein Tabu: Mythen, Fakten, Perspektiven, Wien 2015.

  18. BVerfGE 47, 187; BVerfGE 109, 133 (150f.).

  19. Vgl. Baldus (Anm. 9).

  20. Mit zahlreichen Nachweisen Günter Frankenberg, Staatstechnik, Frankfurt/M. 2013, Kap. VII.

  21. Rolf Dietrich Herzberg, Folter und Menschenwürde, in: Juristenzeitung 7/2005, S. 321–328.

  22. BVerfGE 115, 118 (154).

  23. BVerfGE 30, 173 – mangels Mehrheit kam es zu keiner Vorrangentscheidung.

  24. BVerfGE 39, 1 (I) und 88, 203 (II).

  25. Dazu Günter Frankenberg, Tyrannei der Würde? Paradoxien und Parodien eines Höchstwertes, in: Kursbuch 1/1999, S. 48–58.

  26. Die Entscheidung zum Lissabon-Vertrag BVerfGE 123, 267 und zum europäischen Stabilitätsmechanismus BVerfG 129, 124.

  27. Akustische Überwachung von Wohnraum: BVerfGE 109, 279 (315ff.); Verwertung des Tagebuchs als Beweis im Strafverfahren: BVerfGE 80, 367.

  28. Zu den umstrittenen Entscheidungen siehe Baldus (Anm. 9), S. 111–133.

  29. Die Resolution forderte das Recht aller Menschen auf materielles Wohlergehen und geistige Entwicklung unter den Bedingungen von Freiheit, Würde, wirtschaftlicher Sicherheit ein.

  30. Siehe Art. 1 und 23 Abs. 2 AEMR.

  31. BVerfGE 1, 97.

  32. Siehe Baldus (Anm. 9), S. 62–66.

  33. §1 Abs. 2 Bundessozialhilfegesetz.

  34. BVerfGE 45, 187 (227ff.); BVerfGE 70, 297 (308ff.); BVerfGE 117, 71 (77ff.).

  35. BVerfGE 125, 175.

  36. Friedrich Schiller, Würde des Menschen, in: Gedichte, Frankfurt/M. 2008.

  37. BVerfGE 132, 134.

  38. Hannah Arendt, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, in: Die Wandlung 3/1949, S. 754–770.

  39. Siehe Spanien verletzt EMRK mit Abschiebungen von Melilla nach Marokko, 30.10.2017, Externer Link: http://www.humanrights.ch/de/internationale-menschenrechte/europarats-organe/egmr/urteile/menschenrechtswidrige-push-backs-spanien.

  40. Arendt (Anm. 38), S. 758.

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ist Seniorprofessor für Öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte sind Verfassungsrecht, Gefahrenabwehrrecht, Grundlagen des Rechts und Rechtsvergleichung. E-Mail Link: frankenberg@jur.uni-frankfurt.de