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Grundrecht auf Pflege? | Pflege | bpb.de

Pflege Editorial Politikfeld "Pflege" Grundrecht auf Pflege? Ein Plädoyer für Selbstbestimmung und Autonomie in schwieriger Lebenslage Mehr als nur Pflege. Care in Alten(pflege)heimen Sexualität in der Pflege. Zwischen Tabu, Grenzüberschreitung und Lebenslust "Dienstleistungssystem Altenhilfe" im Umbruch. Arbeitspolitische Spannungsfelder und Herausforderungen Kein Schattendasein mehr. Entwicklungen auf dem Markt für "24-Stunden-Pflege" Fürsorge aus Marktkalkül? Handlungsmuster und Motive von Unternehmer*innen der ambulanten Altenpflege Familiäre Pflege und Erwerbsarbeit. Auf dem Weg zu einer geschlechtergerechten Aufteilung?

Grundrecht auf Pflege? Ein Plädoyer für Selbstbestimmung und Autonomie in schwieriger Lebenslage - Essay

Thomas Noetzel

/ 15 Minuten zu lesen

Ein Grundrecht auf Pflege bedeutet, Pflegebedürftige als autonome Personen zu ihrem Recht auf Selbstbestimmung kommen zu lassen. Seine Begründung findet ein solches Grundrecht in der Rechtsphilosophie Hegels und seinen Überlegungen zur "Person".

Sich dem Thema "Grundrecht auf Pflege" zu widmen, könnte die Erwartung aufkommen lassen, es folgte eine rechtswissenschaftlich informierte Abhandlung über die juristischen Bestimmungen zur Versorgung im sogenannten Pflegefall. Dieser stellt keinen rechtsfreien Raum dar. Pflegeversicherungsgesetz, weitere Bestimmungen in den Sozialgesetzbüchern, Regelungen zur Organisation und Kontrolle von stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen, höchstrichterliche Entscheidungen zur Freiheitsentziehung von Pflegebedürftigen oder familiärer Verpflichtung zur Pflege von Angehörigen – um solche Detailrechte geht es hier nicht. Vielmehr darum, nach dem grundlegenden Recht auf Pflege zu fragen, aus dem sich dann alle besonderen Rechte auf pflegerische Versorgung ableiten, also um die Frage, ob es so etwas wie ein Grundrecht auf Pflege gibt.

Untersuchungen von Grundrechten und grundlegenden Verfassungsbestimmungen operieren mit der Unterscheidung von fundamentalen Rechten (Rechte erster Ordnung) und abgeleiteten Rechten (Rechte zweiter Ordnung). Die Untersuchung der Rechte erster Ordnung beschäftigt sich vor allem mit den Begründungen der grundlegenden Rechte und ist deshalb von großer Bedeutung, weil sich in ihnen die jeweiligen fundamentalen Auffassungen von der Stellung des Menschen und seinen daraus abgeleiteten Rechten ausdrücken. Hinzu kommt, dass ein Grundrecht auf Pflege eben keine Ableitung aus anderen Grundrechten darstellt (in der Bundesrepublik Deutschland wäre da etwa an die Wahrung der Würde des Menschen und sozialrechtliche Verpflichtungen des Grundgesetzes zu denken). Es geht vielmehr darum zu prüfen, ob der Pflegefall einen individuellen und sozialen Tatbestand ausmacht, der sowohl eine besondere Qualität menschlichen Lebens darstellt, gleichzeitig ein Allgemeines menschlicher Existenz sichtbar macht und damit aus sich selbst heraus grundlegende Rechte konstituiert.

Theologie prägt den Diskurs

Blick man mit dieser Fragestellung auf die einschlägigen philosophischen, theologischen und rechtstheoretischen Diskussionen, fällt auf, dass in ihnen religiöse Begründungen einen erheblichen Raum einnehmen. Die Ansprüche pflegebedürftiger Menschen werden abgeleitet aus göttlicher Schöpfung und einer aus der menschenbildlichen Gestalt Gottes abgeleiteten Schwesterlichkeitsethik. Der Nächstenliebe kommt hier die zentrale Begründungsleistung zu. Pflegerische Versorgung ist Ausdruck einer durch die caritas bestimmten Fürsorglichkeit. Allerdings ist diese Sorge um den Menschen nur über spezifische Vermittlungsschritte in ein Recht auf Pflege zu übersetzen. In der Fürsorglichkeit steht das Wohl der Pflegeempfänger (im normativ besten Falle) im Zentrum des Handelns der Pflegenden, aber der Pflegebedürftige bleibt passiv Empfangender. Man will sein "Bestes", aber gerade das müsste in rechtstheoretischen Überlegungen bei ihm bleiben und nur für ihn verfügbar sein. Da es aber sowohl normativ in den einschlägigen sozialrechtlichen Bestimmungen als auch praktisch in der Organisation der Pflegearbeit um vielfältige Rechtsansprüche (zweiter Ordnung) der zu Pflegenden geht, muss eine genuin theologische Begründung der Versorgung Pflegebedürftiger eine Verbindungsbrücke beschreiten von der religiösen Letztbegründung hin zur modernen Sozialstaatlichkeit.

Ein Spannungsmoment, das sich hier zeigt, besteht in Perspektivenkollision von Pflegenden und Pflegebedürftigen. Schon im Begriff der Fürsorge steckt die stellvertretende Handlung für jemanden anderen (Dritte-Person-Perspektive). Das mag mit Blick auf die empirisch auch (aber nicht nur) bei Pflegebedürftigen festzustellende Einschränkung, sich selbst vertreten zu können (man denke hier nur an kleine Kinder oder demente Ältere) naheliegen, geht aber am Begründungsproblem eines Rechts auf Pflege vorbei. Es ist dieser besonderen Perspektive der Dritten-Person-Singular geschuldet, dass Pflegebedürftigkeit als Problem einer Spannung zwischen "Freiheit" und "Sicherheit" begriffen wird. Dabei ist für die Bewertung dieses Denkweges wichtig festzustellen, dass die Freiheit der Pflegebedürftigen als Ausdruck ihrer Selbstbestimmung überhaupt in eine polare Gegenposition zur Versorgungssicherheit gesetzt wird. Würde in dieser Argumentation die Freiheit der Pflegebedürftigen ein Grundrecht persönlicher Autonomie markieren (was es in theologischen Begründungsdiskursen gar nicht sein kann), dann wäre auch die Frage der "Sicherheit" dieser Freiheit auf Selbstbestimmung – und das schließt die Bereitschaft des Individuums, bestimmte Risiken in Kauf zu nehmen, ein – unzweifelhaft nachgeordnet. Von einer Symmetrie dieser normativen Zielbestimmungen in der pflegerischen Versorgung kann überhaupt nur derjenige argumentativ ausgehen, für den der Wille der Individuen nicht letzte Handlungsbegründung ist. Eine solche Wahrnehmung korrespondiert mit der theologischen Hierarchieebene, in eine von Gott gegebene Ordnung eingebunden zu sein. Schließlich geht diese Schöpfungsordnung auch dem Willen der Individuen voraus. Solidarität und Mitleid als ihr wesentlicher Teil korrespondieren nun mit der Vorstellung, die Sicherheit der Pflegebedürftigen sei das höchste zu erreichende, objektivierbare Gut. Abgestützt wird diese Argumentation durch naturrechtliche Bezüge, die säkulare menschenrechtliche Normen durchaus in sich aufnehmen können. Theologische Überlegungen können den Pflegediskurs auch deshalb stark bestimmen, weil sie sich hier entsprechenden Diskursen öffnen.

Es passt in dieses Argumentationsmuster, dass Diskussionen über dieses Verhältnis von Freiheit und Sicherheit vor allem mit Blick auf demente Personen geführt werden. Untersucht man die einschlägige theologisch inspirierte Literatur, dann scheint es fast so zu sein, dass Pflegebedürftigkeit mit demenziellen Prozessen synonym gesetzt wird. Denn von der dementen Person könnte angenommen werden, dass sie gar nicht mehr in der Lage ist, ihre Freiheit zur Selbstbestimmung in vernünftiger, intersubjektiv nachvollziehbarer Form zu leben. Mit Blick auf diese Personen scheint also die Übernahme der Beobachtungsposition Dritte-Person-Singular schlüssig nachvollziehbar zu sein. Aber Pflegebedürftigkeit geht nicht notwendigerweise mit Demenz einher, und das Problem eines Rechts auf Pflege ist mit diskursiver Fixierung auf die Frage nach den Selbstbestimmungsmöglichkeiten dementer Personen nicht hinreichend zu erörtern. Zur Beantwortung der Frage nach den Begründungsmöglichkeiten eines Grundrechts auf Pflege trägt die Konzentration auf Demenz schon deshalb nicht das Entscheidende bei, weil sie eben nicht als schwerste Stufe und wahrer Kern der Pflegebedürftigkeit anzusehen ist. Ein grundlegendes Recht bemisst sich nicht in Zuweisungsquantitäten.

Es wird im weiteren Verlauf dieses Beitrags noch genauer auf die Frage der Fähigkeit zur Selbstbestimmung als Voraussetzung von Personalität eingegangen werden. Bevor wir zu diesem Zusammenhang kommen, soll eine andere Begründung für das Recht auf Pflege diskutiert werden.

Liberale Diskurse

In sogenannten liberalen Diskursen geht es um Begründungen von Rechten erster Ordnung, die nicht aus einem außerweltlichen Willen (göttlicher Schöpfungsplan) abgeleitet werden, sondern aus der aufgeklärt-egoistischen Interessenkalkulation der Individuen in der Welt. In den in diesem Bereich vorhandenen unterschiedlichen Sozialvertragskonstruktionen wird die Legitimität politischer Ordnung durch die Bindung an den individuellen Willen der Subjekte dieser Ordnung erzeugt. Solche Begründungen der Grundrechte stehen im Zentrum liberaler politischer Philosophie. Auf den Fall der individuellen Pflegebedürftigkeit übertragen, bedeutet das etwa, dass es für das Individuum vernünftig ist, sich direkt oder indirekt (etwa durch steuerliche Abgaben) für die Versorgung Pflegebedürftiger einzusetzen, unter der Bedingung, dass reziprok auch auf die jeweils eigene Bedürftigkeit durch die anderen Subjekte versorgend reagiert wird. Sozialverträge sind immer Verträge auf politische und gesellschaftliche Gegenseitigkeit.

Der US-amerikanische Philosoph John Rawls hat den Versuch unternommen, aus der individuellen Nutzenkalkulation heraus zu einer vertragstheoretischen Konstruktion der Theorie moderner Gerechtigkeit zu kommen. Zwar finden sich bei ihm keine Ausführungen zu einem Recht auf Pflege, aber seine allgemeinen Begründungen für eine Politik der Gerechtigkeit kann auf die besondere Situation Pflegebedürftiger übertragen werden. Nach Rawls sind solche Gerechtigkeitsprinzipien begründbar, wenn sie Ergebnis einer Reflexion der Individuen sind, die von ihren aktuellen und realen sozialen Stellungen, von Fragen des persönlichen Reichtums, der Gesundheit und Ähnlichem absehen und sich hinter einem Schleier des Nichtwissens darüber Gedanken machen, für welche Regelungen sie einträten, wenn sie über ihren jeweiligen Gerechtigkeitsstatus (reich oder arm, jung oder alt, gesund oder krank, pflegebedürftig oder nicht) nichts wüssten. Im Rahmen dieser gedankenexperimentellen Modellannahme kommt man zu Aussagen, in denen die eigene Bedürftigkeit mit der möglichen eigenen Nicht-Bedürftigkeit in Spannung tritt (man weiß eben nicht, zu welcher Gruppe man gehört). Danach ist es vernünftig, bei sozialpolitischen Maßnahmen für eine mittlere Position in Bezug auf die Aufwendungen für die Gesundheit und Pflege Anderer zu votieren. Wüsste der Kalkulierende, dass er pflegebedürftig ist, dann würde er für eine maximale Versorgung eintreten und etwa die staatliche Finanzierung solcher Leistungen für gerecht halten. Wüsste der Kalkulierende nun aber, dass er als nicht pflegebedürftiger Mensch in den Genuss dieser staatlichen Leistungen gar nicht käme, dann wäre er auch nicht bereit, erhebliche praktische oder finanzielle Leistungen für die Versorgung Anderer zu erbringen. Da seine Entscheidung aber eben hinter einem Schleier des Nichtwissens getroffen wird, votiert er vernünftigerweise für eine mittlere Position, wie sie sich etwa im deutschen System der Pflegeversicherung darstellt. Die Versicherung übernimmt in einem gedeckelten Rahmen anfallende Pflegekosten, dafür werden relativ geringe Anteile vom Arbeitslohn einbehalten. Ein Anspruch auf Pflege wird hier unter einen starken Verhältnismäßigkeitsvorbehalt gesetzt.

Einen solchen relativierenden Bezug gibt es in vielen Diskursen über Rechte erster Ordnung, von denen ein Großteil eine Grenze in anderen Rechten erster Ordnung findet (man denke hier etwa an Grenzen der Meinungsfreiheit oder Religionsfreiheit). Für ein Grundrecht auf Pflege, das solche Verhältnismäßigkeitsüberlegungen vermeidet, muss eine starke Begründung entwickelt werden, in der deutlich wird, dass sich im Recht auf Pflege die prinzipiell und immer zu gewährleistende Wahrung der Würde des Menschen realisiert. Artikel 1 Grundgesetz ("Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.") kennt allerdings Grenzen durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie sie in vielen Entscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht gezogen wurden. Eine starke Begründung eines Grundrechts auf Pflege muss sich diesen pragmatischen Verhältnismäßigkeitsüberlegungen entziehen, und der allgemeine Anspruch auf Würde muss in der Besonderheit eines Grundrechts auf Pflege konkretisiert werden und gleichzeitig aufscheinen. Rawls Versuch, solche Fragen mithilfe einer vertragstheoretischen Konstruktion zu lösen, scheitert gerade mit Blick auf die Pflege. Wie schon an anderer Stelle gesagt, taucht sie als Reflexionsgegenstand in seiner Theorie der Gerechtigkeit nicht auf. Allgemein wird auf Hilfeverpflichtungen gegenüber Schwächeren als Ausdruck von Fairness verwiesen.

Kommunitaristische Begründungen

Die Annahme, mithilfe eines aufgeklärten Egoismus zu vernünftiger Staatlichkeit und sozialer Gerechtigkeit gelangen zu können, ist immer wieder heftig bestritten worden. Dabei ist insbesondere das Argument, jeder individuellen Freiheitsoption ginge gesellschaftliche Bezüglichkeit voraus, schon mit Blick auf die je individuellen Sozialisationsprozesse nur schwer von der Hand zu weisen. Alle Personen sind in bestimmte Gemeinschaften hineingeboren worden. Solche kommunitaristischen Kritiken liberaler politischer Philosophie verweisen auf die in der Gesellschaft angelegten Gerechtigkeitsprinzipien als Quelle normativer Substanz. Eine herausragende Rolle in diesem Diskurs spielte und spielt die Gerechtigkeitstheorie des US-amerikanischen Philosophen Michael Walzer, der unterschiedliche Gerechtigkeitsprinzipien für unterschiedliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens beschreibt. Danach gibt es Sphären des freien Austausches (ökonomischer Tausch, Markt), Räume der Anerkennung (Identitätsschonung, Sozialisation, Kunst und Wissenschaft) und Areale der Sicherheit und Wohlfahrt, in denen es um Bedürfnisse der Individuen und ihre damit verbundenen gerechten Ansprüche geht. Diese unterschiedlichen Sphären werden durch unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen geformt. Für ökonomische Fragen existieren andere Gerechtigkeitsvorstellungen als für sozialpolitische Verteilungsprobleme.

Walzer rückt in Abkehr von Rawls die Gesellschaft in den Vordergrund seiner Gerechtigkeitstheorie. Die Gesellschaft ist für ihn wesentlich eine Distributionsgemeinschaft. Überzeugt davon, dass der soziale Kontext von Normen und Werten durchaus relevant für eine Theorie der Verteilungsgerechtigkeit ist, steigt für ihn diese soziale Verteilungsgemeinschaft zu einer Art objektiven Instanz der Zuweisung von Werten auf. Walzer sieht durchaus, dass es hier zu Konflikten zwischen gesellschaftlicher Zuweisung und individuellen Ansprüchen kommen kann. Von Selbstbestimmung kann nach Walzer nur dann geredet werden, wenn sich jeder im Verteilungsprozess wiederfindet. Aber die Vermittlung von individueller Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Verteilung bleibt unbestimmt, hat eben nicht die bindende Form eines Grundrechts, sondern wird an die gerechte Gesellschaft verwiesen.

Pflegebedürftigkeit wird auch von Walzer nicht direkt diskutiert, aber über den Begriff des Bedürfnisses könnten Rechtsansprüche auf Pflege begründet werden. Das Problem mit kommunitaristischen Begründungen besteht nun darin, dass die Definition dessen, was ein Bedürfnis ist, eben nicht an die Selbstbestimmung der Individuen gebunden wird, sondern an die Moral einer Verteilungsgesellschaft, die wiederum aus der Dritten-Person-Singular-Perspektive über die Angemessenheit von Bedürfnissen urteilt. Der Bedürftige bleibt passiv Empfangener und wird in diesem Status objektiviert. Solche äußerlichen Definitionen dessen, was für spezifische Individuen das Gute ist, welche Bedürfnisse sie haben sollten und welche nicht, und was in diesem Zusammenhang Gerechtigkeit bedeutet, nimmt im Kommunitarismus ab und an absurd erhellende Züge an. Ein Beispiel: So stellt etwa Charles Taylor in seinem Text zur "negativen Freiheit" fest, dass es in der Verwendung elektrischer Zahnbürsten keinen objektivierbaren Sinn gebe und deshalb das Bedürfnis und der Wunsch eine solche Zahnbürste zu besitzen, keinerlei prioritäre Befriedigung durch die gesellschaftliche Verteilung zu erwarten hat und der Mangel einer elektrischen Zahnbürste überhaupt kein Gerechtigkeitsproblem darstelle.

Gerade der kommunitaristische Diskurs, der aufgrund seiner rigiden Kritik am normativ leerlaufenden Individualismus und den damit verbundenen gesellschaftlichen Pathologien, seiner Gegenüberstellung von Rechten und Pflichten und der Bedeutung gesellschaftlicher Sittlichkeit Ende des 20. Jahrhunderts erhebliche ideologische Bindungswirkungen erzeugte, eignet sich als Theorie eines Grundrechts auf Pflege nicht. Zwar werden die Leistungen von Verteilungsgemeinschaften gewürdigt, aber mit Blick auf den Wert individueller Selbstbestimmung als Grundlage normativer gesellschaftlicher Entscheidungen liefert sie keine tragfähige normative Grundlage. Letztlich – und das zeigt sich in der theologischen Renaissance im Spätwerk Taylors – kommt eine solche Kritik liberaler Rechtsansprüche über den theologischen Paternalismus, der am Beginn dieses Beitrags skizziert wurde, nicht hinaus. Gerechtigkeit besteht dann darin, dass jedes Individuum die ihm entsprechende Zuweisung erhält. Wie diese aussieht, kann aber nicht der Selbstbestimmung der Individuen entnommen werden, sondern ergibt sich aus den normativen Grundlagen einer übergeordneten Zuweisungsgemeinschaft. Die Gesellschaft agiert als Gott der Distributionen, und der kommunitaristische Hinweis, diese gesellschaftliche Gewalt sei aber bestimmt durch die Freiheit der in ihr Zusammengeschlossenen, geht an der Idee einer unhintergehbaren und eben nicht über Verteilung zu verallgemeinernden Individualität vorbei.

Anerkennungsverhältnisse

Meines Erachtens bietet sich mit der hegelschen Rechtsphilosophie eine starke Begründungsgrundlage, die das Grundrecht auf Pflege als normative Reproduktionsbedingung von Gesellschaftlichkeit und personaler Würde überhaupt begreift. Immerhin ist die Idee, individuelle Selbstbestimmung ins Zentrum der bürgerlichen Gesellschaft zu rücken, keineswegs neu. Schon für Hegel ist die Person Ausgangspunkt seiner Rechtsphilosophie: "Die Totalität oder Wirklichkeit, welche sich als die Wahrheit der sittlichen Welt darstellt, ist das Selbst der Person; ihr Dasein ist das Anerkanntsein." Die Person gewinnt ihre Autonomie in einem gesellschaftlichen Interaktionsverhältnis. Personalität, Selbstbestimmung und Autonomie sind nicht mehr individuelle, gar natururwüchsige Eigenschaften und Kompetenzen, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Kommunikation. Der Kommunikationsbegriff ist deshalb richtig gewählt, um diese gesellschaftlichen Anerkennungsverhältnisse zu beschreiben, weil sich diese nicht als Verknüpfung individueller Handlungen und Interaktionen ergeben, quasi als Netzwerk entstehen, sondern immer schon das Netz sind, indem das Individuum seine Anerkennung erfährt und damit auch seine Selbstbestimmung und Autonomie.

Dieser Anspruch auf wechselseitige Anerkennung ist für Hegel das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft: "Die konkrete Person, welche sich als besondere Zweck ist, als ein Ganzes von Bedürfnissen (…) ist das eine Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, – aber die besondere Person als wesentlich in Beziehung auf andere solche Besonderheit, so daß jede durch die andere und zugleich schlechthin nur als durch die Form der Allgemeinheit, das andere Prinzip, vermittelt sich geltend macht und befriedigt."

Was macht Hegel hier? Er verbindet die beiden Grundeigenschaften des Individuums – zugleich unhintergehbar einmalig und ein Rechtssubjekt zu sein – im Begriff der Person und macht selbigen zur Grundlage seiner Rechtsphilosophie, zum Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft. Die Besonderheit der je individuellen Personalität, der individuellen Existenz, die es nur so und einmalig gibt, drückt sich in der Ersten-Person-Singular-Perspektive aus. Nur "ich" kann "ich" für mich sagen. Die Erste-Person-Singular ist unvertretbar. Gleichzeitig und in derselben Person ist das Individuum Träger allgemeiner Rechte. In seiner Person verbindet sich also individuelle Selbstbestimmung und allgemeine Rechtsordnung.

Die unhintergehbare Individualität der einzelnen Person ist in der bürgerlichen Gesellschaft somit im hegelschen Sinne aufgehoben. Die einzelnen Personen existieren dabei nicht atomistisch nebeneinander, wie bei Rawls, sondern sind immer nur in Beziehung aufeinander zu denken. Hegel verschränkt die Bedürfnisbefriedigung der einzelnen Personen dergestalt, dass die Bedürfnisbefriedigung des Anderen Bedingung der Möglichkeit meiner Bedürfnisbefriedigung ist – und umgekehrt. Somit ist die bürgerliche Gesellschaft der Raum, in dem eben dies für Alle als Allgemeinheit möglich ist. Dabei bleibt jede Person stets eine Handelnde, insofern die Bedürfnisbefriedigung immer vor dem Hintergrund der Autonomie und Selbstverwirklichung vonstattengeht. Was bedeutet dies nun für das Verständnis von Pflege? Hegel liefert das Maß, an dem sich jede Gesellschaft messen lassen muss. Das Recht auf Pflege ist der bürgerlichen Gesellschaft inhärent. Es gilt, die Unhintergehbarkeit, Unvertretbarkeit und Unverwechselbarkeit der je eigenen Individualität samt ihrem Anspruch auf Autonomie und Selbstverwirklichung anzuerkennen.

Wer jetzt meint, der Personenbegriff könne dieser Theorie auf die Füße fallen, der irrt. Natürlich setzt jeder Personenbegriff Reflexionsvermögen, Selbstbezüglichkeit und Selbstbewusstsein, wie auch immer geartet, voraus und man könnte jetzt müßig spekulieren, wie viel davon in welchem Pflegegrad vorhanden ist und ein "Recht auf Pflege" quantitativ verteilen. Gemeint ist jedoch die Person als Allgemeines. Dient sie, wie bei Hegel, als Grundlage einer Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, so ist die einzelne, real existierende Person a priori immer schon Teil der bürgerlichen Gesellschaft und ist eben deshalb Person. Die Personalität kann folglich niemandem abgesprochen werden. Diese Personalität kann auch niemand verlieren, weil er sie als persönliche individuelle Kompetenz nie besessen hat. Die Würde der Person entsteht in der normativen Struktur gegenseitiger Anerkennung ohne naturale Zertifizierung. Niemand muss beweisen, dass er eine Person ist, um als solche anerkannt zu werden. Wenn solche besonderen Bedingungen mit der Anerkennung von Personalität verbunden werden, stoßen wir auf ein Herrschaftsinstrument der Unterdrückung, Entwürdigung und Demütigung von Menschen, das die Sittlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft tief verletzt.

Damit verliert auch das immer wieder beschworene Problem der Demenz wenigstens seinen theoretischen Schrecken. Für die Frage eines Grundrechts auf Pflege, in dessen Begründungszentrum das individuelle Recht auf Selbstbestimmung und Autonomie steht, ist die Frage der naturalen Verfassung der Individuen von keinerlei Bedeutung. Dieses Grundrecht auf Pflege als Ergebnis gesellschaftlicher Sittlichkeit der Anerkennung der je Anderen als unhintergehbare Verbindung von individueller Besonderheit und rechtlicher Allgemeinheit hat keinerlei naturalistische Komponente. Es geht bei einer Reflexion über das Grundrecht auf Pflege und den normativen Bezügen der Wahrung von Selbstbestimmung und Autonomie nicht um die Messung persönlicher Kompetenzen, sondern um die Realisierung der Anerkennung der Sittlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Anerkennung zu vollziehen, drückt die Würde der Einzelnen aus. Die oft beschworene Spannung zwischen Freiheit und Sicherheit löst sich in ein technisches Problem auf und geht an der Frage der Wertschätzung und einmaliger, unverwechselbarer Personalität – in welcher psycho-physischen Form auch immer – vorbei. Das Grundrecht auf Pflege fußt auf der Freiheit der Person und ihrer Autonomie. Auf nichts anderem.

Was meint Freiheit hier? Nichts anderes als Ermöglichung von Prozessen der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Das geht über einen negativen (Freiheit von) und positiven (Freiheit zu) Freiheitsbegriff hinaus. Autonomie ist die unhintergehbare Freiheit des Individuums, ein radikal Einzelnes zu sein, das sich qua Konkretion durch Komplexion im Wechselspiel mit anderen Einzelnen, aufgehoben im Allgemeinen der bürgerlichen Gesellschaft, selbst verwirklicht. Dieser Vorgang nennt sich Leben und ist ein Grundrecht, das sich gerade im Pflegefall bewähren muss. Ein Grundrecht auf Pflege bedeutet also, Pflegebedürftige als autonome Personen zu ihrem Recht auf Selbstbestimmung kommen zu lassen. Koste es, was es wolle. Dass weder der theologische Diskurs noch die im Rahmen dieses Beitrags skizzierten liberalen und kommunitaristischen Ansätze zu einer solchen Nobilitierung der Pflegebedürftigkeit als Philosophie der Freiheit kommen, zeigt eine gewisse Armut der Theorie und erheblichen denkerischen Nachholbedarf. Und ist vielleicht auch Ausdruck einer ängstlichen Scheu der Philosophierenden, sich mit den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Autonomie im Grenzfall der Pflegebedürftigkeit selbst zu beschäftigen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Das auf die Bedürftigkeit von Kindern im weiteren Verlauf dieses Beitrags nicht eingegangen wird, hängt damit zusammen, dass Kinderrechte auf Pflege zu begründen sind mit den Kompensationsverpflichtungen ihrer Eltern, die mit der Zeugung und Geburt des Kindes existenzielle Fremdbestimmung vorgenommen haben. Zeugung und Geburt stellen ein Gewaltverhältnis dar, dessen strukturelles Unrecht wieder gut gemacht werden muss – dadurch, dass das Kind aus der Situation der fremdbestimmten Natalität in die Lage versetzt wird, sich sein Leben in freier Selbstbestimmung anzueignen.

  2. Vgl. Marco Bonacker/Gunter Geiger (Hrsg.), Menschenrechte in der Pflege. Ein interdisziplinärer Diskurs zwischen Freiheit und Sicherheit, Opladen–Berlin–Toronto 2018. Die beiden Herausgeber sind in führender Position in der Weiterbildungsarbeit der katholischen Kirche tätig.

  3. Vgl. Marco Bonacker, Zwischen Genese und Geltung. Religiöse Identität bei John Rawls als Paradigma einer theologischen Ordnung, Paderborn 2016. Den Menschen sind von Gott natürlicher Rechte zugewiesen worden. Eine solche Vorstellung gestifteten Rechts hat mit der Idee der Würde autonomer Individuen nichts zu tun.

  4. Vgl. Otfried Höffe, Soziale Gerechtigkeit. Über die Bedingungen realer Freiheit, in: Gerhard Schwarz/Justus Uwe Wenzel (Hrsg.), Lust und Last des Liberalismus. Philosophische und ökonomische Perspektiven, Zürich 2006, S. 123–128.

  5. Vgl. John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge MA 1971.

  6. Vgl. Günter Frankenberg, Würde. Zu einem Schlüsselbegriff der Verfassung, in: APuZ 16–17/2019, S. 37–42, hier S. 40.

  7. Rawls spricht im neunten Abschnitt der Theorie der Gerechtigkeit von "Fairness als Pflicht". Vgl. Rawls (Anm. 5).

  8. Vgl. Michael Walzer, Spheres of Justice: A Defense of Pluralism and Equality, New York 1983.

  9. Vgl. Charles Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt/M. 1988. Mit Blick auf die elektrische Zahnbürste ist es übrigens nicht sehr weit gedacht. Dass das in Fällen körperlicher Einschränkung und Pflegebedürftigkeit ein wertvolles Hilfsmittel sein könnte, ist Taylor nicht eingefallen. Hier zeigt sich noch einmal, dass Pflege, Hinfälligkeit, Bedürftigkeit nur selten Gegenstände der Philosophie und des Philosophierens sind.

  10. Ich danke der Hegelexpertin Uta E. Köhler für Anregungen und Hilfe. Sie hat mir Hegel nahegebracht.

  11. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 1970 (1807), S. 465. Herv. Thomas Noetzel.

  12. Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Frankfurt/M. 1970 (1820), §182, S. 339. Herv. Thomas Noetzel.

  13. Vgl. Person. Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. von Martin Brasser, Stuttgart 1999, S. 102–108.

  14. Das tun Aufzüge im Übrigen auch nicht. Oder stand irgendwann auf den TÜV-Plaketten zu lesen: maximal 12 Personen oder Menschen.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Thomas Noetzel für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der Philipps Universität Marburg.
E-Mail Link: noetzel@mailer.uni-marburg.de