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Historische Wurzeln der politischen Kultur Rumäniens

Lucian Boia

/ 18 Minuten zu lesen

Die periphere Lage Rumäniens hat kulturelle Eigenheiten begründet: Rückzug auf sich selbst bei Öffnung für ausländische Vorbilder; Identifikation mit der Nation; Tendenz zum politischen Autoritarismus.

Einleitung

Aus westlicher Sicht birgt Rumänien so manche Überraschung. Zweifellos ist es ein Teil Europas, doch von einem einheitlichen Europa kann keine Rede sein, und voneiner gemeinsamen Geschichte noch weniger. Verglichen mit den westeuropäischen Ländern ist Rumänien Teil eines anderen Europas.


Der Osten und der Westen des Kontinents erlebten unterschiedliche, ja gegensätzliche Entwicklungen. Historisch gesehen verläuft die offensichtlichste Trennlinie zwischen dem katholischen bzw. protestantischen Abendland und dem orthodoxen Morgenland. Der Westen Europas hat eine stufenweise kulturelle und politische Auffächerung sowie eine nachdrückliche ökonomische Entwicklung erfahren, die in eine technologische und demokratische Zivilisation mündeten. Dagegen war der Osten durch eine Tendenz zum politischen Autoritarismus gekennzeichnet (man denke etwa an das byzantinische und später das moskowitische Modell); dieser wurde von der orthodoxen Kirche geduldet, die es gewohnt war, vor der politischen Macht in den Hintergrund zu treten. Die sozioökonomische Entwicklung verlief ausgesprochen langsam: Bis vor kurzem waren die osteuropäischen Länder vor allem von einer ländlichen Struktur und von patriarchalischen wie paternalistischen Denkweisen geprägt.

Diese gegensätzlichen Modelle treffen in Zentraleuropa aufeinander und werden dort zusammengeführt. So ist Zentraleuropa mit dem Westen durch kulturelle und institutionelle Merkmale wie den katholischen und protestantischen Glauben oder den römischen Wurzeln der Zivilisation ebenso verbunden wie mit dem Osten (Polen und Ungarn im Mittelalter, der Donaumonarchie bzw. der K.u.K.-Monarchie in moderner Zeit) durch seine relativ konservativen sozialen und ökonomischen Strukturen.

Der Entwicklungsrückstand der östlichen Hälfte des Kontinents wurde durch eine lange Phase politischer Instabilität verstärkt. Hier kam es noch zu Eroberungen, als der westliche Teil Europas bereits eine gewisse Stabilität gefunden hatte und einzig von inneren Auseinandersetzungen heimgesucht war: So wären beispielsweise die Eroberung Russlands durch die Mongolen im 13. Jahrhundert oder die Expansion des Osmanischen Reiches nach Südosteuropa und bis ins Zentrum des Kontinents seit dem 14. Jahrhundert zu nennen. In der Moderne war fast das ganze östliche und zentrale Europa unter drei Großmächten aufgeteilt: dem Osmanischen Reich, dem Zarenreich und der österreichischen Monarchie.

Diese bewegte Geschichte und die vielfältigen Eroberungen sind der Grund für eine besonders intensive Völkervermischung, die durch Umsiedlungen noch verstärkt wurde. (Diese hatten zum Ziel, gering bevölkerte und bewirtschaftete Gegenden zu erschließen; so erstreckte sich etwa ein regelrechter deutscher "Archipel" von Zentraleuropa bis an die Ufer der Wolga.) Das Völkergemisch brachte immense Schwierigkeiten mit sich, als man sich im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts daran machte, auf den Ruinen der einstigen Reiche Nationalstaaten nach westlichem Vorbild zu schaffen. Einige Länder der Region (die Tschechoslowakei, Polen und Jugoslawien), die aus einer nationalen Ideologie heraus geschaffen wurden, waren in ethnischer, religiöser und kulturellerHinsicht ebenso zusammengewürfelt wiedie Kaiserreiche vor ihnen. Schließlichhat nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der Kommunismus die Länder Ost-und Zentraleuropas zusätzlich geprägt und die Unterschiede zu den westlichen Ländern verstärkt.

Grenzland

Rumänien nimmt in Osteuropa einen besonderen Platz ein. Mit seiner überwiegend orthodoxen Glaubensausrichtung entspricht es dem religiösen Profil dieses Teils des Kontinents. Gleichzeitig unterscheidet sich Rumänien als romanische Nation von den Griechen und orthodoxen Slawen. Dieser im Mittelalter wenig bedeutsame Unterschied, als Religion mehr zählte als Nationalität, gewann im 19. Jahrhundert mit dem Aufkommen des Nationalismus wesentliche Bedeutung; die Rumänen (oder zumindest die Eliten) begannen, sich nach Westen auszurichten und sich als "romanische Insel im slawischen Meer" zu begreifen.

Die beiden großen zusammenhängenden Gefüge Osteuropas sind die Balkanhalbinsel und Russland (bzw. das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion). Rumänien befindet sich dazwischen. Obwohl es gelegentlich als Balkanland bezeichnet wird, gehört es nicht zum Balkan, dessen nördlicher Grenzfluss, die Donau, die südliche Grenze Rumäniens bildet. Die drei bedeutendsten Gebiete Rumäniens, die Walachei im Süden, die Moldau im Nordosten und Siebenbürgen im Nordwesten, haben sich in sehr unterschiedlichen geopolitischen Kontexten entwickelt. Den Balkanländern am nächsten war die Walachei. Die Moldau pflegte enge, jahrhundertelange Beziehungen zu Polen und grenzte nach der Annexion des östlichen Landesteils Bessarabien (heute Republik Moldawien) seit 1812 an Russland. Siebenbürgen gehörte im Mittelalter zum Königreich Ungarn; es ist in der Mehrheit rumänisch, aber auch von einer bedeutenden ungarischen Minderheit besiedelt, der bis 1918 die führende Elite angehörte, sowie von Deutschen, die sich im 12. und 13. Jahrhundert niedergelassen hatten.

Der rumänische Raum fand sich immer wieder an den Grenzen der großen politischen und zivilisatorischen Gefüge wieder. Die Grenze zwischen dem Römischen Reich und der Welt der "Barbaren" verlief quer durch Dakien, dem heutigen Rumänien. Die Donau war nacheinander Grenzfluss des Römischen, Byzantinischen und Osmanischen Reiches. Zu Beginn der Moderne trafen das Osmanische Reich, das Zarenreich und Österreich in dieser Region aufeinander und teilten einen Teil des rumänischen Gebietes unter sich auf, während sie die Fürstentümer Walachei und Moldau duldeten. Gleichzeitig traf hier die orthodoxe östliche auf Vorboten der westlichen Zivilisation. Auch heute leben die Rumänen an der Grenze: derzeit außerhalb, in naher Zukunft innerhalb der EU.

Die andauernde Grenzlage hatte zwei widersprüchliche und zueinander komplementäre Auswirkungen: auf der einen Seite eine relative Isolierung, eine Übernahme unterschiedlicher Modelle in abgewandelter Form sowie die Erhaltung traditioneller Strukturen und einer bodenständigen Mentalität, auf der anderen Seite eine außerordentliche ethnische und kulturelle Durchmischung, in der alle Himmelsrichtungen gegenwärtig sind. Rumänien ist ein Land, das von Epoche zu Epoche und je nach Region türkische und französische, ungarische und russische, griechische und deutsche Einflüsse aufgenommen hat. Man wird in Europa schwerlich ein vergleichbar weit gefächertes Spektrum, eine Synthese ebenso vieler unterschiedlicher Färbungen finden. Als Schnittpunkt der Wege und Zivilisationen ist Rumänien ein offener Raum; permanente Instabilität und eine unaufhörliche Bewegung von Menschen und Werten haben es charakterisiert. Rumänien ist ein offenes und zugleich verschlossenes Land; die Rumänen waren und sind geteilt in diejenigen, die in Richtung Europa blicken, und diejenigen, die äußeren Einflüssen gegenüber unzugänglich bleiben. Westliche Öffnung und nationale Isolation verdeutlichen eine für die rumänische Gesellschaft typische intellektuelle Polarisierung. Das Aufeinandertreffen dieser beiden Denkrichtungen hat den Modernisierungsprozess der vergangenen beiden Jahrhunderte begleitet.

Regionen und Minderheiten

Rumänien ist ein relativ junger Staat. Im Jahr 1859 ging aus der Vereinigung der beiden Fürstentümer Walachei und Moldau "Kleinrumänien" hervor und umfasste im Jahr 1914 eine Fläche von 137 000 Quadratkilometern. "Großrumänien" mit rund 295 000 Quadratkilometern entstand nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, als der Kern durch Bessarabien, die 1775 durch die Habsburger von der Moldau abgetrennte Bukowina und vor allem durch Siebenbürgen vervollständigt wurde (hier als Oberbegriff gebraucht, der außer Siebenbürgen selbst noch drei Regionen westlich desselben einschließt: das Banat, Crisana und Maramures, alle mit vorwiegend rumänischer Bevölkerung, aber bis 1918 zu Ungarn gehörend).

Das verbindende Element dieser Ansammlung von Ländern und Regionen, die unterschiedliche historische Entwicklungen erlebt haben, war die rumänische Bevölkerung, die überall in der Mehrzahl war. Aber die Minderheiten waren ebenso zahlreich und verliehen dem "großen" Rumänien einen recht zusammengewürfelten Anschein. So gab es in Siebenbürgen (im engeren Sinn) nach Erhebungen von 1930 57,6 % Rumänen, 29,1 % Ungarn und 7,9 % Deutsche; im Banat 54,3 % Rumänen, 23,8 % Deutsche (angesiedelt im 18. Jahrhundert) und 10,4 % Ungarn; in der Bukowina 44,5 % Rumänen, 27,7 % Ukrainer, 10,8 % Juden und 8,9 % Deutsche; in Bessarabien 56,2 % Rumänen, 12,3 % Russen, 11 % Ukrainer und 7,2 % Juden; in der ans Schwarze Meer grenzenden Dobrudscha, die zum Osmanischen Reich gehörte und 1878 Rumänien angegliedert wurde, 44,2 % Rumänen, 22,8 % Bulgaren und 18,5 % Türken. In ganz "Großrumänien" betrug der rumänische Anteil an der Bevölkerung 71,9 %. Die nationale Einheit wurde in der Verfassung festgeschrieben. Rumänien war zweifellos weniger ethnisch durchmischt als die Vielvölkerstaaten Tschechoslowakei, Polen oder Jugoslawien; es befand sich auf halbem Weg zum Nationalstaat.

Seitdem hat das Land einen "Rumänisierungsprozess" erlebt. Gebiete wie die Bukowina im Norden, Bessarabien und der Süden der Dobrudscha, in denen Minderheiten besonders zahlreich waren, sind vom Staatsgebiet abgetrennt worden; Rumänien umfasst heute 238 000 Quadratkilometer. Ein Teil der jüdischen Bevölkerung (4 % des Anteils von 1930) wurde im Zweiten Weltkrieg ermordet, ein anderer Teil emigrierte; es leben in Rumänien nach Erhebungen von 2002 nur noch rund 6000 Juden. Auch die meisten der 750 000 Deutschen, die 1930 ungefähr 4 % der Bevölkerung ausmachten, emigrierten; 2002 hatte sich ihre Zahl auf 60 000 (0,3 % der Bevölkerung) reduziert. Heute sind 89,5 % der Bevölkerung ethnisch gesehen Rumänen. Die bedeutendsten Minderheiten bleiben die Ungarn und die Zigeuner.

Auch die Anzahl der Ungarn hat abgenommen. Stellten sie 1930 noch 24,4 % der Bevölkerung Siebenbürgens (im weiteren Sinne), waren es 1992 noch 21 und 2002 19,6 %; in ganz Rumänien lebten 1992 7,1 und 2002 6,6 % Ungarn. In Siebenbürgen stieg der Anteil der rumänischen Bevölkerung von 58 % im Jahr 1930 auf heute fast 75 %. Auch die Zahl der Zigeuner ist angestiegen: Lebten 1992 rund 410 000 (1,8 % der Bevölkerung) in Rumänien, waren es 2002 bereits 535 000 (2,5 %); es wird geschätzt, dass ihr tatsächlicher Anteil deutlich höher liegt, da sich viele in Befragungen als Rumänen bezeichnen.

Als Folge der "Rumänisierung" haben sich die regionalen Unterschiede nach und nach verwischt. Dieser Prozess wurde durch die kommunistische Industrialisierungspolitik (die etwa in Siebenbürgen rumänische Landbevölkerung in Städten mit mehrheitlich deutscher oder ungarischer Bevölkerung angesiedelt hat) und die Strategie der sozioökonomischen Vereinheitlichung noch verstärkt. Das Syntagma der nationalen Einheit, das in der Verfassung verankert ist, entspricht besser als in der Vergangenheit der tatsächlichen Zusammensetzung Rumäniens. Doch nach wie vor gehören mehr als zehn Prozent der Bevölkerung Minderheiten an, vor allem den Ungarn, die in zwei Verwaltungsbezirken sogar über eine Bevölkerungsmehrheit verfügen (Covasna und Harghita, 74 bzw. 85 %). Daher fordern die Ungarn die Streichung dieses Syntagmas. Sie fühlen sich nicht der rumänischen, sondern der ungarischen Nation zugehörig; zu ihren Forderungen gehört die kulturelle und sogar die territoriale Autonomie der Region, in der sie die Bevölkerungsmehrheit bilden.

Der Gedanke der nationalen Einheit ist fest im Bewusstsein der Rumänen verankert, in dem der politischen Klasse ebenso wie im öffentlichen Bewusstsein. Als Rumänien im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem Zusammenschluss mehrerer Landesteile geschaffen wurde, wäre eine föderale Lösung durchaus denkbar gewesen. Auf den ersten Blick hätte diese der tatsächlichen Vielfalt "Großrumäniens" auch eher entsprochen. Aber eben diese Vielfalt und die große Bedeutung ethnischer Minderheiten wirkten einer föderalen Lösung entgegen. Die Rumänen befürchteten, dass eine unvollständige Integration der Landesteile zum Zerfall des Landes führen könnte. Sie entschieden sich daher für ein zentralistisches, am französischen Modell orientiertes System, indem sie die spezifische Physiognomie der historisch gewachsenen Regionen missachteten und das Land in den französischen départements vergleichbare Verwaltungsbezirke, judete, unterteilten. Der Begriff "Föderalisierung" ist bis heute in Rumänien tabu. Man glaubt noch immer, dass regionale Autonomie der Beginn des Zerfalls Rumäniens wäre. Es ist unverkennbar, dass sich diese Sorgen vor allem auf Siebenbürgen beziehen, obwohl es jeder Logik widerspricht, zu befürchten, 20 Prozent Ungarn könnten diese Provinz gegen den Willen von 75 Prozent Rumänen "beschlagnahmen". Die europäischen Auflagen in Bezug auf die Regionalisierung wurden nur sehr vage umgesetzt. Es wurden mehrere "Entwicklungsregionen" gebildet, die allerdings nicht von großer Bedeutung und vor allem so zugeschnitten sind, dass sie nicht den historischen Regionen des Landes entsprechen. Rumänien soll ein einheitlicher Staat bleiben.

Die Minderheiten haben weitreichende Rechte. Es gibt Schulen in ihrer Sprache, und die Möglichkeit, ihre Kultur und Traditionen zu pflegen, sind vielfältig. Jede Minderheit, auch die kleinste, entsendet automatisch einen Vertreter ins Parlament. Das gilt nicht nur für die 60 000 Deutschen, sondern auch für die 3000 Italiener und die weniger als 2000 Armenier. Die Ungarn fordern ferner die Gründung rein ungarischer staatlicher Universitäten, die ihnen bisher verweigert werden (dafür wird an mehreren Universitäten in ungarischer Sprache gelehrt). Trotz allen Misstrauens hat sich das Verhältnis von Rumänen und Ungarn seit den blutigen Zwischenfällen von 1990 deutlich verbessert; gewalttätige Übergriffe sind wenig wahrscheinlich, zumal die Demokratische Union der Ungarn in Rumänien (UDMR) seit 1996 Regierungspartei ist.

Die Problematik der Zigeuner ist eine andere: Jahrhundertelang arbeiteten sie als Sklaven auf den Anwesen der Bojaren oder der Klöster. Auch nach ihrer Befreiung Mitte des 19. Jahrhunderts wurden sie von der rumänischen Gesellschaft an den Rand gedrängt, und noch heute sind sie ökonomisch, sozial und kulturell stark benachteiligt. Ziel muss es sein, ihre Lebensbedingungen zu verbessern sowie Misstrauen und rassistische Einstellungen zu überwinden. Erste Schritte in diese Richtung sind getan.

Nationale Mythologie

Der Nationalismus ist in der rumänischen Kultur verwurzelt. Die rumänischen Fürstentümer Walachei und Moldau traten erst Ende des 14. Jahrhunderts auf die Bühne der Geschichte. Die "bescheidene" Vergangenheit als "Untergebene" der Großmächte hat Komplexe und Frustrationen genährt und Spuren im öffentlichen Bewusstsein hinterlassen, die durch eine glorreiche Geschichtsmythologie kompensiert werden. So wurden die edle romanische Herkunft betont und die Daker auf eine höhere Zivilisationsstufe gehoben. Die Ursprünge, ob romanisch, dakisch oder dako-romanisch, sind in der rumänischen Kultur gegenwärtig. Die Rumänen stellen sich gern als Verteidiger Europas und des Christentums gegen das Osmanische Reich dar, indem sie an ihre Kämpfe gegen die Türken im Mittelalter erinnern, ein "Opfer", das ihrer Meinung nach am Anfang des historischen Entwicklungsrückstandes steht.

Rumänien ist aus dem Willen der Rumänen heraus entstanden, in einem Einheitsstaat zu leben. Dadurch erklärt sich die zentrale Rolle einer nationalen Ideologie im Bewusstsein und deren Fortbestehen in der heutigen Zeit. Die befürchteten oder tatsächlichen, dem Staat drohenden Gefahren (etwa die erzwungenen Gebietsabtretungen 1940) haben Argwohn gegen die Nachbarn (Russen, Ungarn und Bulgaren) und auch gegen Minderheiten (die Ungarn im Besonderen) gesät. Anfangs trug das von der Sowjetunion installierte kommunistische Regime vehement anti-nationale Züge; Ziel war es, den Rumänen "internationalistische" Anschauungen einzuflößen, die dazu dienen sollten, die Übernahme der russischen Kultur und der sowjetischen Interessen zu fördern. Dieser Versuch misslang; er rief eine nationale Reaktion hervor, die ihren Höhepunkt von 1965 bis 1989 unter dem langen Regime Nicolae Ceauçescus fand. Der Diktator setzte auf nationale Rhetorik (ruhmreiche Geschichte; Einheit des rumänischen Volkes; Misstrauen gegenüber dem Ausland), um seine Macht abzusichern. Die Rumänen waren geneigt, die nationale Ideologie wieder aufleben zu lassen, so dass viele in die Falle des übertriebenen Nationalismus tappten, nachdem in den fünfziger Jahren die nationale "Seele" fast verloren gegangen war. Auch nach dem Fall des Kommunismus bestand das Misstrauen gegen das Ausland, insbesondere den Westen und westliches Kapital, fort und wurde in der Amtszeit Ion Iliescus (1990 bis 1996) weiter genährt. "Wir verkaufen unser Land nicht", lautete ein Slogan Anfang 1990. Die Rumänen haben heute allen Grund, diese Haltung zu bereuen, denn westliche Kapitalanleger haben dieses als wenig stabil geltende, sich in Richtung ungarischem, tschechischem oder polnischem Markt orientierende Land jahrelang gemieden.

Das Fortbestehen des nationalen Geschichtsdiskurses wurde auch durch einen 1999 entfesselten Lehrbuchskandal deutlich. Die neue Generation der für Gymnasien bestimmten Geschichtslehrbücher, die eine weniger heroische Sicht der rumänischen Vergangenheit vortrug, rief bei großen Teilen der Öffentlichkeit Empörung hervor, da die Menschen überzeugt waren, dass diese "neue Geschichte" die "wahre" verfremdete (also die im Wesentlichen nationalistische Geschichte, die lange Zeit gelehrt wurde).

Europäische Vorbilder und rumänische Eigenheiten

Im Laufe ihrer Geschichte haben die Rumänen verschiedene kulturelle und politische Modelle übernommen. Im Mittelalter war dies das slawisch-byzantinische Modell. Im 18. Jahrhundert dominierte der griechische und türkische Einfluss. Der Prozess der Verwestlichung setzte relativ spät, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, vor allem um 1830. Im Bereich der Eliten konnten sich die Veränderungen schnell durchsetzen. Um 1800 kleideten sich die Rumänen der gehobeneren Klassen nach türkischem Vorbild, sprachen griechisch und schrieben in kyrillischer Schrift. Um 1850 kleideten sich ihre Enkel und Urenkel nach der Pariser Mode, sprachen französisch und hatten das lateinische Alphabet angenommen. Frankreich sollte für mehrere Generationen die größte Liebe der Rumänen bleiben, deren Elite frankophon und in den meisten Fällen sehr frankophil wurde. Der deutsche Einfluss konnte vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Frankreichs konkurrieren. Den Rumänen gelang eine Synthese dieser beiden recht unterschiedlichen Modelle. Aber all dies betraf vor allem die oberen Gesellschaftsschichten. In den niederen sozialen Schichten drang die Verwestlichung in viel geringerem Maße vor. Rumänien blieb in weiten Teilen ein Agrarland (1930 lebten 80 % der Bevölkerung auf dem Land) und war durch erschreckende soziale und kulturelle Unterschiede gekennzeichnet (1930 waren noch 43 % der Bevölkerung Analphabeten).

Nach dem Zweiten Weltkrieg sorgte das Modell des sowjetischen Kommunismus für einen radikalen Richtungswechsel. Die alten Eliten wurden fast vollständig beseitigt (die politische und ökonomische vollständig, die intellektuelle teilweise) und durch Bauern und Arbeiter ersetzt. Die verstärkte Industrialisierung machte eine erhebliche Anzahl Bauern zu Industriearbeitern. Daraus entstand ein fast vollständiger sozialer Umbruch. Unter diesen Bedingungen geriet ein Großteil der kulturellen und politischen Traditionen in Vergessenheit. Von der bürgerlichen Gesellschaft blieb nicht viel übrig, im Gegensatz zu den kommunistischen Ländern Zentraleuropas, wo sie in den siebziger und achtziger Jahren wieder an Einfluss gewann (bestärkt durch die katholischen und protestantischen Kirchen, deren Haltung von der orthodoxen Kirche nicht geteilt wurde). Das weitgehende Fehlen einer handlungsfähigen Opposition und das durch die gescheiterte Politik der Industrialisierung hervorgerufene wirtschaftliche Elend erklären die blutige Revolution von 1989 und die "Machtübernahme" durch einstige kommunistischen Führer. Die in dieser Hinsicht exemplarische Figur ist der frühere Präsident Ion Iliescu, ehemaliger Minister des Ceausescu-Regimes und Mitglied des Führungskaders der kommunistischen Partei.

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wandten sich die Rumänen erneut dem Westen zu. Doch dieser Prozess kam nur langsam in Gang. Ein Großteil der Bevölkerung hatte sich an den kommunistischen Lebensentwurf gewöhnt: relative soziale Gleichstellung, Arbeitsplatzgarantie und ein mittelmäßiges, aber sicheres Einkommen. Die ersten freien Wahlen im Mai 1990, bei denen Iliescu, ein Verfechter der langsamen (und unvollendeten) Revolution, 85 Prozent der Stimmen erhielt, spiegelten diese Einstellungen wider (die sich allmählich verändern).

In der heutigen politischen Kultur Rumäniens ist eine Tendenz zum Autoritarismus erkennbar, der durch historische Entwicklungen erklärbar ist: eine lange Tradition der Machtunterwerfung in einer ländlichen, von patriarchalischen Werten geprägten Gesellschaft; eine unsichere Vergangenheit ohne Beständigkeit, die in jedem Moment nach dem schützenden "Retter" zu verlangen schien; unvollendete Demokratisierung in moderner Zeit; Philosophie und Praxis eines totalitären Kommunismus. Das historische Gedächtnis der Rumänen ist personenorientiert, an erster Stelle stehen die mittelalterlichen Prinzen, die für die Unabhängigkeit und Würde der rumänischen Gebiete kämpften. So konnte sich der Kommunismus in größerem Maße als in anderen Ländern im sowjetischen Machtbereich in Richtung eines Personenkultes entwickeln, wie er von Gheorghe Gheorghiu-Dej (bis 1965) und mehr noch von Ceausescu praktiziert wurde. Letzterer institutionalisierte einen Familienkommunismus eher nordkoreanischer als europäischer Prägung in der Absicht, mit Ehefrau und Sohn als Nachfolger quasi eine Dynastie zu begründen.

Nach 1989 hieß der Retter für die Mehrheit der Rumänen Ion Iliescu. Für diejenigen, die beabsichtigten, sich vom Kommunismus zu lösen, war es Emil Constantinescu, der 1996 die Wahlen gewann. Und schließlich, 2004, hieß der Retter Traian Basescu. Das heutige politische System ist, dem französischen vergleichbar, semi-präsidentiell, wobei der Präsident der Republik mit weniger Machtbefugnissen ausgestattet ist. Den Rumänen dagegen scheinen Beschränkungen der präsidentiellen Macht unbekannt. Sie erwarten, dass der Präsident sich über seine verfassungsgemäßen Zuständigkeitsbereiche hinaus im politischen Prozess engagiert. Präsident Basescu hatte vor der Wahl verkündet, dass er beabsichtige, dieses Spiel mitzuspielen; er hält Wort, indem er ständig in die Tagespolitik eingreift (was zu einem gespannten Verhältnis zum Premierminister führte). Die Vorstellung, dieser "zweiköpfigen" Regierung zu entsagen, um ein wahrhaft parlamentarisches System anzunehmen, in dem das Amt des Präsidenten auf rein repräsentative Funktionen beschränkt wäre, ist nicht nach dem Geschmack der Mehrheit der Rumänen und hätte schlechte Chancen, verwirklicht zu werden.

Die enge Verbundenheit mit der orthodoxen Kirche ist eine weitere rumänische Besonderheit. Lediglich ein geringer Prozentsatz der Bevölkerung bezeichnet sich als "nicht gläubig". Zudem geht die Kirche aus allen Umfragen als die am meisten respektierte Institution hervor, sehr viel anerkannter als die politischen Institutionen. Die Politiker lieben es, in der Kirche gesehen zu werden, und zögern nicht, religiöse Überzeugungen kundzutun. Dennoch ist man von jeder fundamentalistischen Haltung weit entfernt. Viele Rumänen praktizieren ihren Glauben, aber viele, die sich "gläubig" nennen, sind es vor allem aus Achtung vor der Tradition und der nationalen Identität - zu deren wichtigsten Symbolen die orthodoxe Kirche zählt. Im Unterschied zu den griechischen oder russischen Kirchen pflegt die orthodoxe Kirche Rumäniens herzliche Beziehungen zum Vatikan. 1999 reiste Papst Johannes Paul II. nach Bukarest, wo er triumphal empfangen wurde. Auch im Bereich der Religion bewahrheitet sich die ambivalente Haltung der Rumänen: Sie sind eine Nation, die eifersüchtig, aber keineswegs fundamentalistisch über ihr Erbe wacht und gleichzeitig dem Dialog offen gegenübersteht.

Die Rumänen haben immer wieder die politischen und kulturellen Vorbilder gewechselt, um ihre Traditionen mit mehr oder weniger fremden Ideen und Institutionen zu verbinden, und sind so Meister der Kunst geworden, sich Formen anzueignen, ohne sich mit deren wirklichem Inhalt zu beschäftigen. Titu Maiorescu (1840 - 1917), ein Rumäne mit deutscher Ausbildung und europäischem Geist und eine einflussreiche Persönlichkeit auf kulturellem und politischem Gebiet, prägte den Begriff "Formen ohne Füllung", um diese oberflächliche Verstellungskunst seiner Landsleute anzuklagen. Die Rumänen haben keine Schwierigkeiten, Gesetzgebung und Institutionen nach westlichem Vorbild aufzugreifen. Aber oft genug bleiben diese nur beschränkt funktionstüchtig, was Korruption und administratives Wirrwarr befördert. Die politischen Parteien haben sich formell in die Reihe der großen politischen Familien Europas eingegliedert, aber ihr Verhalten stimmt nicht immer mit den Kürzeln überein. So machte die Sozialdemokratische Partei (gegründet von Ion Iliescu) durch autoritäre Politik und Selbstbereicherung ihrer Funktionäre auf sich aufmerksam. Kürzlich ist die Demokratische Partei (aus der Traian Basescu hervorging) quasi von einem Tag auf den anderen "von links nach rechts" gewechselt, indem sie sich zugunsten einer populären Doktrin von der sozialdemokratischen Denkweise abwendete. Ein halbes Dutzend Parteien nennen sich "christdemokratisch", die meisten ohne eine solche Grundlage. Viele Politiker haben zwei- oder dreimal die politischen Lager gewechselt.

Die Rumänen stehen der europäischen Integration mehrheitlich positiv gegenüber, ebenso wie der Aufnahme in die NATO im März 2004 (im Gegensatz zu anderen Ländern der Region, wo die Meinung verhaltener, ja sogar skeptisch ist). Aber tatsächlich verkennt ein Teil der Rumänen die Bedeutung eines EU-Beitritts: Für sie geht es weniger um eine kulturelle und politische Entscheidung als vielmehr um die Hoffnung, dass der Anschluss an den Westen wie durch ein Wunder alle Probleme Rumäniens lösen würde.

Rumänien 2006

Die Mischung aus ländlichem Traditionalismus, im 19. Jahrhundert ererbtem und durch die Propaganda Ceauçescus verstärktem Nationalismus und zur Zeit des Kommunismus im Bewusstsein der Menschen eingeprägtem anti-liberalen Kollektivismus ist im Verschwinden begriffen. Das Rumänien des Jahres 2006 unterscheidet sich stark vom Rumänien des Jahres 1990, als es krank aus der kommunistischen Diktatur hervorging. Nach schwierigen Anfängen und einer beispiellos langsamen Reformphase ist es der Marktwirtschaft gelungen, Fuß zu fassen. Nach und nach bildet sich ein Mittelstand heraus. Verkehrsstaus in den Straßen von Bukarest und die spektakuläre Verbreitung großer Einkaufsmärkte wie kleiner Einzelhandelsgeschäfte zeugen davon. Eine neue Generation ist von ideologischen Komplexen verschont herangewachsen; es melden sich junge Intellektuelle zu Wort, die in westlichen Ländern studiert oder dort ihre Studien vervollständigt haben (die englische Sprache hat das Französische verdrängt; Deutsch findet trotz tragfähiger wirtschaftlicher und politischer Kontakte mit Deutschland und Österreich nur selten Anwendung). Viele Rumänen, nach Schätzungen etwa zwei Millionen, arbeiten im Ausland, hauptsächlich in Italien, Spanien und Deutschland.

Zu Zeiten des Kommunismus isoliert, öffnet sich Rumänien der Welt. Ein Wandel der Denkweisen ist im Gange: weniger Vorurteile gegen ausländische Bürger, mehr Vertrauen in Werte wie Eigeninitiative. Und auch sicherere demokratische Reflexe bilden sich heraus: Bereits zweimal (1996 und 2004) hat sich die Mehrheit der Rumänen gegen die autoritären Tendenzen der Herrschenden entschieden; die drei Machtwechsel (1996, 2000 und 2004) zeigen, dass die Rumänen die wesentlichen Lektionen der westlichen Demokratie gelernt haben.

Andererseits bleiben die sozialen und kulturellen Diskrepanzen besorgniserregend. Zwei Seiten Rumäniens stehen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber: eine, die sich dem Westen angenähert hat, und eine andere, die, arm und von der Modernisierung wenig berührt, vor allem im ländlichen Milieu und im Umland der Städte sichtbar wird. Es bleibt zu hoffen, dass der Beitritt zur EU die positiven Tendenzen beschleunigen kann und dass ein wenig mehr Disziplin und Konsequenz die unstrittige Anpassungsfähigkeit der Rumänen bereichern.

Übersetzung aus dem Französischen: Anna Schnitzer, Halle/Saale.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Lucian Boia, Romania. Borderland of Europe, London 2001; erw. französische Ausgabe: La Roumanie. Un pays à la frontière de l'Europe, Paris 2003.

  2. Die statistischen Daten sind folgenden Werken entnommen: Enciclopedia României, Bd. I, Bukarest 1938: Kap. "Popula?ia României", S. 133 - 160; Recens?mîntul popula?iei si locuin?elor din 7 ianuarie 1992: Popula?ie - structura demografic?, Bukarest 1994; Structura etnic? si confesional? a popula?iei, Bukarest 1995; Recens?mîntul popula?iei si al locuin?elor, 18 martie 2002, Bd. I: Popula?ie - structura demografic?, Bukarest 2003.

  3. Anm. der Übersetzerin: im frz. Original tsiganes, im Folgenden in direkter Übersetzung verwandt.

  4. Vgl. eine Analyse der rumänischen Geschichtsmythen in: Lucian Boia, Geschichte und Mythos. Über die Gegenwart des Vergangenen in der rumänischen Gesellschaft, Köln-Weimar-Wien 2003.

  5. Vgl. für eine detaillierte Darstellung der politischen Entwicklungen Rumäniens nach dem Zusammenbruch des Kommunismus Tom Gallagher, Theft of a Nation. Romania since communism, London 2004.

  6. Anm. der Übersetzerin: im französischen Original formes sans fonds.

Dr. phil., geb. 1944; Professor an der Historischen Fakultät der Universität Bukarest. Universitatea din Bucuresti, Facultatea de Istorie, Bd. Regina Elisabeta 4 - 12 Sector 5, 70031 Bucuresti/Rumänien.
E-Mail: E-Mail Link: HistoryUBucharest@hotmail.com