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Das andere deutsche "68" | Prag 1968 | bpb.de

Prag 1968 Editorial Verratene Ideale - Essay Der "Prager Frühling" - Moskaus Entscheid zur Invasion Der Riss durch die Partei Tschechische Untergrundkultur Tagebuch 1968 Das andere deutsche "68"

Das andere deutsche "68"

Manfred Hettling Klaus Tanner Volker Ullrich Hans-Ulrich Wehler

/ 12 Minuten zu lesen

Das "Historische Quartett" diskutierte über das Tagebuch von Hartmut Zwahr. Deutlich wird die Anziehungskraft des "Dubček-Modells" auf die DDR. Das andere deutsche "68" bedeutete für viele das Ende aller Illusionen.

Einleitung

Am 4. Oktober 2007 diskutierte im Neuen Theater in Halle/Saale das "Historische Quartett", eine zweimal jährlich stattfindende Gesprächsrunde, über das Tagebuch von Hartmut Zwahr. Die folgende Transkription gibt Auszüge aus der Diskussion über das andere deutsche "68", die Auswirkungen des "Prager Frühlings" in der Tschechoslowakei auf die DDR, wieder.

Wehler: Hartmut Zwahr, 1936 geboren, stammt aus einer sorbischen Familie. Das Sorbische gestattet es, sich relativ mühelos das Polnische, Tschechische, Russische anzueignen; das ist wichtig für das Tagebuch. Zwahr gehört zu der Generation, die Gewinn gezogen hat aus der Massenabwanderung in den Westen, gerade aus den intellektuellen Berufen. Tausende gehen bis zum Mauerbau in den Westen, daraus entsteht für kurze Zeit eine enorme Aufstiegsmobilität. Seine Generation hat davon profitiert. Er landet zum Studium in Leipzig, bleibt dort und schreibt eine bald berühmt gewordene Arbeit über die Entstehung der Leipziger Arbeiterschaft, die bei uns als Geheimtipp gehandelt wurde...

Ullrich: ... hieß der Titel "Arbeiterschaft" - nein, "Proletariat"!

Wehler: ... und da hat er methodisch sehr innovativ einen Quellenbestand genutzt, die Schutzregister der Leipziger Stadtverwaltung und die kirchlichen Personenstandsregister. Die waren angelegt, als ob man demoskopische Umfragen fingieren wollte: Seit wann sind die Leute in Leipzig ansässig, wo kommen sie her, welche Berufe hatten die Eltern? Dieses Material hat er jahrelang - ohne Computer - empirisch aufgearbeitet. Damit konnte er zeigen, wie die Zugewanderten langsam zusammenwuchsen, auch durch Patenschaften, und sich allmählich Netzwerke bildeten, so dass auf dieser Basis Klassenbewusstsein und politische Organisationen entstanden.

Dann ist er in einer engeren Runde bekannt geworden, als er in den 1980er Jahren ein Buch schrieb, "Herr und Knecht". Es behandelt in dieser berühmten, nicht nur Hegelschen Formulierung das Gefälle zwischen Herrschaft und Abhängigkeit, zugleich mit glänzenden Interpretationen von Bildern. Danach hat sich Zwahr vor allem mit der von ihm so genannten "Selbstzerstörung der DDR" und der Revolution im Herbst 1989, vor allem in Leipzig, beschäftigt. Nach 1989 ist er einer der wenigen Historiker, die in ihrer universitären Stellung bleiben konnten.

Er hat als relativ junger Leipziger Historiker 1968 damit begonnen, Tagebuch zu führen, und das sehr ausführlich. Theodor Mommsen hat einmal gesagt, ein Historiker, der mehr als vier Stunden Schlaf braucht, tauge nicht viel im Beruf. Man hat manchmal den Eindruck, Zwahr kann sich auch nicht mehr als vier Stunden gegönnt haben, wenn man sieht, wie er nachts noch lange Texte geschrieben hat: über die Krisenjahre 1968, also den "Prager Frühling", das Niederwalzen des Reformkommunismus in Prag durch die Truppen des Warschauer Paktes und die Vibrationen, die das in seinem Umfeld in der DDR ausgelöst hat; das führt er noch bis 1970, dann bricht er es ab.

Der Band hat drei Schichten: Die erste behandelt die Reaktion von Zwahr und ganz, ganz wenigen engen Freunden; die Hoffnung, die sie darauf gesetzt haben, dass sich dieser Reformkommunismus entwickeln und auch für die erstarrte DDR doch eine Art Vorbild werden könnte. Das sind bald verzweifelte Hoffnungen, und so ist auch die Stimmung, als alles zusammenbricht und die Panzer durch Prag rollen. Die zweite Schicht, die sehr viel Raum einnimmt, ist die der 68er-Erfahrung, die bei jüngeren DDR-Intellektuellen ganz anders war als bei uns Westdeutschen. Wegen der 68er-Bewegung trat bei uns der Prager Reformfrühling vergleichsweise zurück. Man gewinnt einen intimen Einblick in die politischen Diskussionen im Universitätsmilieu und in Parteikreisen. Die zum Teil wörtlich mitgeschriebenen Äußerungen, die Zwahr dann in der Nacht niedergeschrieben hat, sind beklemmend.

Das Tagebuch ist nicht gekürzt oder verändert, nur durch einen umfangreichen Anmerkungsapparat erschlossen worden. Man gewinnt einen Eindruck von der politischen Atmosphäre, die ich in dieser Dichte bisher nicht gefunden habe. Dieses Maß an Korruption, Beflissenheit, Karrieresucht und Unterordnung - unter das, was der große Walter Ulbricht gerade wieder einmal als Parole ausgegeben hatte, was dann sozusagen hinuntersickerte in die örtlichen Parteileitungen. Das ist ein Teil, der für jeden Politikhistoriker, der das Binnenleben in der DDR studieren will, ungemein aufschlussreich ist.

Und die dritte Schicht ist das damalige Universitätsleben in Leipzig - einer Universität, die die SED zur großen roten Kaderschmiede machen wollte. Zwahr hat sehr aufmerksam die Äußerungen von Kollegen, die für den Einmarsch in Prag waren, und von anderen dagegen notiert. Er schildert, wie sich das dann überschneidet mit Karriereentscheidungen, wo unfähige Kollegen, die aber beflissene Parteileute sind, befördert werden und auf Planstellen kommen. Wie jene, die es verdienten aufzusteigen, abgefertigt und übergangen werden.

Das alles ist ineinander geschoben, drei Schichten der Reaktion auf den "Prager Frühling". Die eine oder andere Formulierung, die verschiedenen politischen Urteile, die Zwahr fällt, sind manchmal nicht extraordinär hinreißend, aber er hat die Fähigkeit, mit einer gewissen, auch selbstkritischen Distanz diese unterschiedlichen Phänomene zu schildern. Man kann dem Buch nur wünschen, dass es nicht nur auf Zitate hin durchgekämmt wird, die für irgendeine Magister- oder Doktorarbeit brauchbar sind, sondern dass man sich darauf einlässt. Ich meine damit vor allem auch Westdeutsche, nämlich auf eine völlig andere deutsche Erfahrung von "68".

Ullrich: Ich glaube auch, dass es sich bei diesem Tagebuch um ein ganz herausragendes Zeugnis handelt, ich kenne nichts Vergleichbares, nur Victor Klemperers Aufzeichnungen, welche allerdings nur bis 1960 reichen. Und interessanterweise beruft sich ja auch Hartmut Zwahr immer wieder auf Klemperer, der ist für ihn das große Vorbild. Er versucht ihm nachzustreben und zitiert immer wieder die "Lingua Tertii Imperii", die LTI. Die genaue Beobachtung der Sprache zieht sich durch das ganze Tagebuch - auf der einen Seite die Sprache der Verlautbarung, der offiziellen Lügen, auf der anderen Seite die Vox populi. Also, es wird registriert, was man sich so auf der Straße, in der Universität, im Freundeskreis erzählt. Es werden zahlreiche Witze wiedergegeben, die damals kolportiert wurden. Das zweite, was mich fasziniert hat und was mir überhaupt nicht so bewusst war, ist die große Anziehungskraft dieses tschechoslowakischen Modells auf die DDR-Bevölkerung, wie viel Hoffnung damit verknüpft war, und wie niederschmetternd dann das Scheitern des "Prager Frühlings" empfunden wurde. Für Zwahr war danach klar, dass das die letzte Chance war, um diesen Sozialismus zu retten. Es taucht immer wieder die Formulierung auf: "Es geht ums Ganze", oder "wenn das jetzt nicht glückt" - dann sei das für die Tschechoslowakei ein Desaster, aber auch für die DDR.

Hettling: Man kann es noch zuspitzen. Er spricht sich ja explizit für den Sozialismus aus, er klagt, dass die "sozialistische Menschengemeinschaft" durch den Parteibetrieb deformiert werde. Er setzt also eindeutig auf den Sozialismus und verweigert sich letztlich der westlichen Option. Das spiegelt sich im Tagebuch darin, dass Ereignisse aus der Bundesrepublik praktisch nicht vorkommen, übrigens auch nicht das Westfernsehen. Der Westen kommt erstmals nach der Hälfte vor, mit der Mondlandung - und die wird als globales Ereignis beschrieben.

Tanner: Das war doch ein Phänomen in vielen DDR-Eliten, auch in den späten 1980er Jahren, auch während der "Wende". Da gab es das Bewusstsein, einen "dritten Weg" gehen zu wollen, und der war gerade mit diesen Reformmodellen sehr stark verbunden. Also so neu ist es an sich nicht. Und ich fand es ein bisschen ermüdend, dass man nun eineinhalb Seiten darüber lesen kann, warum und wie es keine Kohlen gab und dass bei minus 14 Grad das Handtuch an der Wand gefror. Darin liegt auch eine gewisse Redundanz dieser Lebenswelt-Beklemmungen in der DDR, die hier ausgebreitet werden. Davon gibt es viel mehr Zeugnisse, die mittlerweile auch schon gedruckt wurden. Umgekehrt hat ein bisschen gefehlt, dass man zwar immer von der Faszination des Dubcek-Sozialismus hört, des "Dubcek-Modells" - aber was er genau damit meint, welche Reformen er damit verbindet, das wird überhaupt nicht deutlich.

Hettling: Das stimmt, aber man kann es verstehen, wenn man überlegt, welche Funktion das Tagebuch für ihn hatte. Er schreibt das ja nicht als historischer Chronist für eine spätere Veröffentlichung. Ich habe mich beim Lesen immer gefragt, warum macht er das eigentlich? Warum schlägt er sich die Nächte um die Ohren? Zwahr selber deutet das an einzelnen Stellen an, er fragt sich selber, was ihn zu dieser Anstrengung treibe. Meine Deutung ist: Das Tagebuch konstituiert für ihn einen Binnenraum. Es erzeugt einen geschützten Rahmen, in dem er offen und ungeschützt, vor allem unverstellt Ich sein kann. Er beschreibt das mit Formulierungen wie: "Ich fühle mich ich, wenn ich in dieses Buch schreibe". Das Schreiben in diesem Binnenraum ermöglicht Subjektivität in unreglementierter Art und Weise. Die Stellen, in denen er ungefiltert zu sagen versucht, was ihm auf der Seele liegt, sind für mich die eindringlichsten Stellen im Tagebuch. Bis in die Sprache, in der er das formuliert. Das ist die existentielle Dimension, die scheint mir die wichtigste zu sein. Man sieht das auch daran, dass er beschreibt, wie wichtig ihm die Tschechoslowakei ist. Das Tagebuch verschafft ihm die Möglichkeit, das artikulieren zu können. Erst danach gibt es noch andere Ebenen. Diese tauchen an einzelnen Stellen auf, wenn er etwa sagt, "das darf nicht vergessen werden" - von ihm selbst. Das lese ich nicht als Postulat für die Nachwelt, sondern als Aufruf an sich selbst. Es gibt auch Passagen, in denen er konventionell wird, wo auch sozialistische Denkschablonen sichtbar werden - obwohl er sich immer von der Parteidoktrin abgrenzt. Doch wenn er von den "Volksmassen" spricht, oder über die "Rolle des Arbeiters", werden konventionelle Hülsen erkennbar.

Wehler: Was Volker Ullrich gesagt hat über die Hoffnungen, die das Prager Aufbegehren begleiteten, das ist natürlich bei Zwahr dadurch verschärft, dass er es sehr früh hört, weil er sorbisch kann und tschechisch versteht: wenn also Ota Sik die Wirtschaftsreform offen verteidigt oder wenn Dubcek spricht oder Goldstücker, ein berühmter Literaturwissenschaftler in einem der vielen Sender, die damals Tag und Nacht liefen, in einer freien Sprache zu hören war - die in Leipzig eben nicht gesprochen werden durfte. Das muss ihn ungeheuer aufgewühlt haben: Da ist eine Welt, nur ein paar Kilometer von uns entfernt, es ist auch eine Volksdemokratie, und genau da, vor meiner Tür, setzt sich eine Reformbewegung durch, da wird über Probleme gesprochen, die wir in ähnlicher Form auch haben, und sie tun es frei. Damit gewinnen die Tschechen die Aussicht, ihre Probleme lösen zu können. Wir aber leben in dieser eisigen Erstarrung.

Er kann in einer Sprache zuhören, die um ihn herum sonst keiner versteht, niemand kann tschechisch aus seinem Freundeskreis. Und er kann dann immer erzählen, "Du hättest mal Ota Sik hören müssen ...". Das ist schon eine ganz andere Lebenserfahrung. Ich kenne von ihm auch seine Erfahrung von 1989, da hat er die großen Demonstrationen in Leipzig mitgemacht. Jede DDR-Einheit von Regimentgröße an aufwärts hatte damals einen russischen Führungsoffizier, und er verstand die Befehle der Russen, die zur Zurückhaltung aufforderten. Das konnten die meisten Demonstranten auch nicht verstehen.

Hettling: Ich würde gerne noch auf die andere Schicht eingehen, die gerade angesprochen wurde. Sehr eindringlich finde ich, wie er die Hektik des normalen Alltagsbetriebs schildert. Es gibt ja inzwischen für die DDR den Begriff der "durchherrschten Gesellschaft". Wenn man Zwahr liest, hört man auch den gequälten Schrei desjenigen, der diesen ganzen Parteiaktivismen atemlos und ausgezehrt hinterher hechelt. Man gewinnt den Eindruck, es handle sich um eine "absorbierte" Gesellschaft. Als ob die Leute müde gemacht werden sollen durch all die sinnlosen Aktivitäten, um keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können. Das beschreibt er mit sehr eindringlichen Formulierungen, wie "Wir ertrinken in Ideologie", "die Partei denkt für uns, alles schweigt, nur wer angestoßen wird, redet". Oder, nachdem er von einer Parteiversammlung zurückkam: "Bin gerädert, wie nach Alkohol", das heißt Kater ohne Rausch. Auf den Punkt bringt er es so: "Es ist die totale Erfassung des Menschen, die in den Sektionen betrieben wird." Wenn man das liest, gewinnt man den Eindruck, er flüchtet sich von der öffentlichen Welt, dort, wo die Partei Zugriff hat, in die wissenschaftliche Arbeit. Deren Stellenwert hält er mit einem geradezu bürgerlichen Leistungsethos hoch. Doch zusätzlich braucht er das Tagebuch als Forum, um die Sinnlosigkeit der Aktivismen und Versammlungen im privaten Bereich loswerden zu können.

Ullrich: Er flüchtet sich nicht nur in Arbeit, sondern auch ins Tagebuch. Wie Sie völlig zu Recht sagen, dieses Tagebuch hat für ihn eine Art Entlastungsfunktion. Es findet sich immer wieder die Formulierung: "Ich lade ab." Beim Gespräch mit seiner Frau lädt er ab und im Zwiegespräch mit sich selbst im Tagebuch. Auf der anderen Seite ist er jemand, der durchaus funktioniert. Sie haben die Stelle zitiert: "Alles schweigt." Auf Parteiversammlungen schweigt auch er. Er sagt nichts, er erhebt nicht seine Stimme, um zu protestieren. Er führt also eine Doppelexistenz: Einerseits wahrt er den Schein, ist Mitglied der Partei, kein Hundertprozentiger, aber er macht doch mit, auch um seine wissenschaftliche Karriere nicht zu gefährden. Er ist jemand, der sich mehr oder weniger unauffällig verhält, und nicht den Anschein erweckt, dass da ein Widerstand zu erwarten sei. Andererseits führt er dieses Tagebuch, in dem er alles rauslässt, was ihn bewegt. Diese Art der Doppelexistenz, so könnte ich mir vorstellen, war für viele DDR-Bürger, zumal für DDR-Wissenschaftler, bezeichnend. Ich habe ein Dokument, wo das so scharf herauskommt, noch nicht gelesen.

Wehler: Zwahr arbeitete über die Entstehung der Leipziger Arbeiterschaft, er hat strenge Sozialgeschichte betrieben. Die Arbeit ist 1978 in der DDR gedruckt wurden. Aber bis dahin ist er beruflich in einer Situation, wo er sich sagt, ich bin eigentlich der Einzige, der die Entstehung des Proletariats am Beispiel einer ostdeutschen Großstadt ernst nahm und untersuchte, was Arbeiterleben damals war. Er schildert die Entstehung - wie wir sagen würden - eines Arbeitermilieus, welches Zehntausende umfasst, die nach Leipzig gezogen waren. Mit dieser ungeheuer sorgfältigen empirischen Fundierung trifft er aber wohl eher noch auf Ablehnung, wie bei den Adressbuchstudien, die er im Tagebuch erwähnt. Das ist genau die Zeit, wo er in die Partei eintritt. Er gibt mit Anfang 30 nach und sagt, "ich gehe jetzt in die Partei, der Druck wird sonst unerträglich". Das kann man sehr gut verstehen. Und auf der anderen Seite ist das Tagebuch, das beflügelt ist von den Prager Hoffnungen, wirklich ein Ventil.

Hettling: Wir haben das bisher nur diskutiert als Beschreibung von Leben in der DDR. Es gibt aber auch Stellen, an denen wir ihn gewissermaßen als einen von uns lesen können. Es gibt einerseits die Verbindung von Alltag mit den Erfordernissen des Berufs und der Parteiaktivitäten; Letzteres haben bei uns wahrscheinlich weniger am Hals. Diese subjektive Dimension kann man als DDR-Geschichte verstehen: Den einen Tag geht seine Frau ins Kaufhaus, um nach einem Herd zu fragen, am anderen Tag er - und so weiter. Darin wird aber auch eine partnerschaftliche Form der Alltagsorganisation sichtbar, geboren aus der Not der Verhältnisse. Dieses Durchdringen von Alltagsorganisation und Wissenschaft, das er thematisiert, das hat auch etwas sehr Zeitgemäßes und Modernes.

Tanner: Das erste Buch von Günter Gaus über die Nischengesellschaft hat das ja bereits gezeigt. Die DDR-Situation war auf Grund gelaufen, das wusste man spätestens, wenn man von Parteiversammlungen zurückkam. Wenn man in dieser Mühle steckte, begünstigte das in bestimmten Kreisen, auch in Partnerschaften, die Ausbildung einer Innenorientierung, die anders war als im Westen. Das wirkte als Entlastung von dieser Mühle, in die man im Alltag immer eingespannt war. Das dokumentiert das Buch schon, aber das ist nichts Neues. So wichtig es auch ist, vielleicht.

Hettling: Es ist nichts Neues - aber es verweist auch auf Zusammenhänge, die nicht DDR-spezifisch sind. An einer Stelle fühlte ich mich wirklich an die Universität von heute erinnert. In seiner Kritik der politisierten Universität besonders nach der III. Hochschulreform gibt es den schönen Satz: "Wer nicht forscht, der lehrt, und wer nicht lehrt, macht Wissenschaftsorganisation." Der Ertrag in der Forschung ist Zwahrs oberstes Leistungskriterium, da tritt sein Selbstverständnis als Wissenschaftler hervor, und eine selbstbewusste Arroganz gegenüber den Parteiaktivismen wird sichtbar. In diesem Punkt beschreibt er Mechanismen, wie wir sie auch aus deutschen Universitäten im Jahr 2008 kennen. Die politischen Überformungen sind andere, nicht repressiv, das ist unstrittig. Doch die Spannung zwischen Wissenschaft einerseits und außerwissenschaftlichen politischen Versuchungen, bürokratischen Regulierungen und persönlichen Seilschaften ist systemunabhängig.

Tanner: Die These dazu lautet, dass wir auch in unserer Universitätsverwaltung im Spätsozialismus leben. Die ganzen Programme der Evaluierung leben von der Fiktion der Planbarkeit. Jeder Student muss elektronisch erfasst werden - "Stud.IP" heißt das bei uns -, es muss die Anwesenheit kontrolliert werden, alle Daten werden zusammengeführt. Die Effektivität der Lehre wird mit schön klingenden Formeln auf viele Stellen hinter dem Komma berechnet. Das ist die Lehrleistung, heißt es dann. Darauf baut die moderne universitäre Planwirtschaft auf, dabei erfriert auch so einiges.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hartmut Zwahr, Die erfrorenen Flügel der Schwalbe. DDR und "Prager Frühling". Tagebuch einer Krise 1968 bis 1970, Bonn 2007. Anmerkung der Redaktion: vgl. auch die Auszüge aus dem Tagebuch von Zwahr in diesem Heft, S. 27 - 33.

  2. Ders., Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchung über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution, Berlin (Ost) 1978/München 1980.

  3. Ders., Herr und Knecht. Figurenpaare in der Geschichte, Leipzig-Jena-Berlin 1990.

  4. Ders., Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 1993.

  5. Vgl. Günter Gaus, Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung, Hamburg 1983.

Dr. phil., geb. 1956; Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Martin-Luther-Universität (MLU) Halle-Wittenberg, Hoher Weg 4, 06120 Halle/Saale.
E-Mail: E-Mail Link: manfred.hettling@geschichte.uni-halle.de

Dr. phil., geb. 1953; Professor für Theologie an der MLU Halle-Wittenberg, Institut für Systematische Theologie, Franckeplatz 1, Haus 30, 06099 Halle/Saale.
E-Mail: E-Mail Link: tanner@theologie.uni-halle.de

Dr. phil., geb. 1943; Historiker, Publizist und Schriftsteller, Leiter des Ressorts "Politisches Buch" bei der Wochenzeitung "Die Zeit", Speersort 1, 20095 Hamburg.
E-Mail: E-Mail Link: DieZeit@zeit.de

Dr. phil., geb. 1931; Professor emeritus; bis 1996 Ordinarius für Allgemeine Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Bielefeld, Postfach 100131, 33501 Bielefeld.