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Demokratie als Lebensform. Mein Achtundsechzig - Essay | 1968 | bpb.de

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Demokratie als Lebensform. Mein Achtundsechzig - Essay

Oskar Negt

/ 14 Minuten zu lesen

Das Jahr '68 produziert Sumpfblüten proportionsloser Verurteilung. Trotz Fehlentwicklungen bleibt die Forderung nach Teilhaberechten und die Durchsetzung der Demokratie als Lebensform ein bleibendes Vermächtnis.

Einleitung

Wo ist der Anfang zu machen, wenn man sich ernsthaft darauf einlassen wollte, in der mittlerweile verwilderten Landschaft "Achtundsechzig", die mit jedem mediengesteuerten Rückerinnerungsdatum zusätzlich verdreht, perspektivisch verzerrt und retuschiert wird, einige Linien zu ziehen, die den Proportionen der damaligen Ideen und den heutigen Bewegungsabläufen zugleich gerecht werden? Ein Bild, das allen gefallen wird, kann es nicht geben. Jedes Urteil über diese Zeit wird anfechtbar sein; auch das meine. Aufrichtigkeit ist der einzige jedem zumutbare Leitfaden für eine Auseinandersetzung, die mit der Erinnerung dieser Zeit kritisch umgeht.



Jubiläen sind günstige Einstiegsmöglichkeiten zur öffentlichen Thematisierung von Fragestellungen, die weder zu umgehen noch mit allgemeiner Zustimmung zu beantworten sind. Dieses neue Jubiläum - vierzig Jahre Umgang mit Ereignissen, die nach jedem Jahrzehnt immer wieder in Erinnerung gerufen wurden, obwohl ihr Einfluss auf unsere Gesellschaft deutlich spürbar, aber kaum exakt zu bestimmen ist - hat einen ganz anderen Charakter als die Jubiläumsjahre, die wir gerade hinter uns haben: Kant, Einstein, Mozart, Adorno und viele der anderen. Plötzlich entsteht eine Atmosphäre, als hätten wir es mit der Aufarbeitung einer in ihren Zielen legitimen, in der Realität jedoch missglückten, ja abgebrochenen Revolution zu tun. Die Schuldzuschreibungen nehmen in der Tat Dimensionen an, dass ein Mensch, der vielleicht im Jahr 2068 Schriftdokumente aus diesen vierzig Jahren in die Hand bekommt, sich überwältigt zeigen müsste, um welche tiefgreifende Umbruchszeit es sich bei dem Symboldatum Achtundsechzig handeln muss.

Unsere Gesellschaft ist eine andere geworden. Sozialpsychologisch könnte man, nimmt man die Hass- und Verachtungsreaktionen, durchaus von einer kollektiven Paranoia sprechen, von einem Verfolgungswahn, der im Allgemeinen mit einer aggressiven Ausgrenzung alles fremdartig Erscheinenden beantwortet wird, in dem jedoch viel unbewältigt Eigenes enthalten ist. Deshalb eignet sich Achtundsechzig vorzüglich für die Bestätigung von Vorurteilen, für die Entlastung von eigenen Problemen, deren Arsenal die Öffentlichkeit seit vierzig Jahren angesammelt und von Zeit zu Zeit publik gemacht hat.

Wollte man jedoch die gegenwärtige Wirrnis in den Schuldzuschreibungen etwas aufhellen, indem man Linien zeichnet, dann käme man sofort in Verlegenheit. Beklagt wird an der antiautoritären Protestbewegung, die eine hochgradig politische war, dass sie alles zerstört habe, was die damalige Sicherheit der Werthaltungen und des Denkens garantierte: Disziplin, Autorität, das für Erziehung notwendige Machtgefälle zwischen Erwachsenen und den Kindern oder Jugendlichen wurden eingerissen. Die Achtundsechziger hätten Disziplin als wesentliches Erziehungsmittel infrage gestellt, indem sie die Erhebung der Demokratisierung leichtfertig zum Prinzip für alle Gesellschaftsbereiche forderten. Aber auch das genaue Gegenteil wird den Achtundsechzigern vorgeworfen: Tendenzen des Totalitären, der Verachtung verständigungsorientierter Kommunikation; auch der von Jürgen Habermas formulierte und später zurückgenommene Vorwurf des "Linksfaschismus" kommt in verschiedenen Ausprägungen wieder zum Vorschein.

Als aktuelles Dokument jener Richtung, die Autoritätszerfall und Entwertung urbürgerlicher Tugenden wie Disziplin und Gehorsam Achtundsechzig zuschreibt, mag das Buch "Lob der Disziplin" des ehemaligen Leiters des Elite-Internats Schloss Salem, Bernhard Bueb, gelten. Nicht die Qualität des Buches selbst erfordert Aufmerksamkeit, es ist inzwischen einer vernichtenden wissenschaftlichen Kritik unterzogen worden. Vielmehr ist es die schier unglaubliche Rezeption; innerhalb eines Jahres sind 14 Auflagen erschienen, mit hunderttausenden von Exemplaren, so als wäre hier eine ganz neue Idee von Erziehung im Schwange, etwa dem vergleichbar, was Anfang der 1970er Jahre Alexander Neill mit Summerhill vorgeschlagen hatte. In aller Unschuld und ohne Umschweife hält Bueb fest: "Einer auf Autorität beruhenden Pädagogik der frühen Nachkriegszeit folgte nach 1968 die Neigung, Erziehung bis in den letzten Winkel der Kinderzimmer zu demokratisieren." Disziplinierung und, bei Regelbruch, empfindliche Strafen werden hier zum Kern pädagogischer Arbeit. Das passt gut ins Bild der Verschärfung des Jugendstrafrechts und zur Forderung mancher Politiker, auch die Zwölfjährigen mit Strafexpeditionen zu überziehen. Die Rechnung der Wahlstrategen, mit diesem Vorurteil auf Stimmenfang zu gehen, ist glücklicherweise nicht ganz aufgegangen.

Nachdem Eva Herman selbst die Zerstörung der bürgerlichen Familie den Achtundsechzigern anhängen wollte und nicht für diesen Unsinn kritisiert wurde, sondern deshalb, weil sie das mit einem Lob für die Nazi-Familienpolitik und mit dem Autobahnbau verknüpfte, hat sich der Kampf auf dem Schlachtfeld Achtundsechzig deutlich verschärft. Mit wachsender Dreistigkeit und im einvernehmlichen Interesse gegenwärtiger Ordnungspolitiker begeben sich auch Historiker an die Front.

Wird im Zusammenhang von Erziehung gleichsam der anarchistisch angehauchte Gedanke der Demokratisierung, also eine Form der Libertinage, zum Ursprung gegenwärtigen Werteverfalls dingfest gemacht, so werden auf der anderen Seite jetzt Herkunftsmilieus aus dem "Dritten Reich" bemüht, der autoritäre, ja totalitäre Zug im Denken und Handeln der Achtundsechziger. Für einen Historiker, dem manches Preisgeld zugeflossen ist, weil man ihn für solide hielt, ist es schon ein bemerkenswertes Selbstverständnis seiner professionellen Kompetenz, wenn er in voller Breite Zitatmontagen nebeneinander reiht (zumal aus Sekundärquellen), um die geistige Herkunft der Achtundsechziger aus dem "Dritten Reich" zu begründen. Jeder Historiker, der etwas auf sich hält, wird mit Analogien äußerst vorsichtig umgehen. So nicht Götz Aly in einem Artikel der Frankfurter Rundschau vom 30. Januar 2008 mit der abenteuerlichen, aber den gegenwärtigen Ordnungsdenkern und Strafrechtspolitikern gut ins Konzept passenden Überschrift: "Die Väter der 68er", darunter kleingedruckt "Vor 75 Jahren kam Hitlers Generationsprojekt an die Macht: die 33er". Die Assoziationen sind kaum verhüllt, freilich kann man sich über die Dürftigkeit dieser Zitatforschung nur wundern. Aber es scheint offenbar gerade den Konvertiten ein Bedürfnis zu sein, in zunehmendem Alter doch noch Anschluss an die geordneten Mehrheiten zu finden.

Ich will diese Auseinandersetzung hier jedoch nicht weiterführen; in meiner Untersuchung habe ich differenziert Stellung bezogen. So viel ist doch festzuhalten: Ich werde den Verdacht nicht los, dass es bei diesen Kritikern, von denen ich jetzt nur zwei exemplarisch genannt habe, um Aufklärung über das, was die so genannten Achtundsechziger bewirkt haben, was sie wollten, diskutierten, was sie provokativ in die Öffentlichkeit brachten, überhaupt nicht geht. Deshalb ist das Aufklärungspathos nicht auf den Zusammenhang dieser Zeitverhältnisse, den Zustand der Gesellschaft, die internationalen Aspekte, den Generationskonflikt gerichtet, sondern Achtundsechzig wird als eine Art Folie, als Projektionsfläche benutzt, auf die jeder im politischen Raum abladen kann, was seine enttäuschten Hoffnungen und seine ungelösten Lebensprobleme ausmacht. Das passt gut in eine konservative Ordnungspolitik, die zurzeit einen hohen Legitimationsbedarf hat. Wer Ordnung will, muss vorher Chaosängste schüren.

Aber auch das ist nicht hinreichend, um die ungeheure Attraktivität dieses Jubiläumsjahrs zu erklären. Es gibt umfangreiche Ausstellungen zu Achtundsechzig; Akademien machen Veranstaltungen, in Rom findet ein richtiges Festival statt, nur wenige Verlage verzichten darauf, Bücher, Bildbände zu diesem Jahrestag herauszubringen. Achtundsechzig sitzt wie ein Pfahl im Fleische dieser nach neuer Übersichtlichkeit und verlässlicher Ordnung verstärkt Ausschau haltenden Gesellschaft. Irgend etwas wird nach wie vor als Provokation empfunden, als Herausforderung an die etablierten Mächte, die spüren, dass in dieser Bewegung auch ein Wahrheitsgehalt, etwas Plausibles und Richtiges enthalten ist. Ernst Bloch würde von dem Unabgegoltenen sprechen, dem utopischen Überhang, der durch bloße Tatsachenhinweise nicht außer Kraft gesetzt ist. Gäbe es dieses Überschüssige nicht, den realistischen Tagtraum einer besseren Gesellschaft, aber auch eines guten Lebens in einem gerechten Gemeinwesen, dann wäre diese Bewegung längst der Vergessenheit anheim gefallen. Weil zentrale Probleme unserer Gesellschaft zu Bereichen einer unterschlagenen Wirklichkeit gehören, Krise der Arbeitsgesellschaft, Misere des Bildungssystems, die Polarisierung von Arm und Reich usw., eignet sich Achtundsechzig vorzüglich als Ersatzdebatte, die mit Symbolen des Werteverfalls und der Erziehungsdefizite jongliert.

So ist es an dieser Stelle sinnvoll, sich noch einmal einige bestimmende Aspekte dieser Bewegung zu vergegenwärtigen. Sie bezeichnen nicht primär ein Generationenproblem (das vielleicht auch), vielmehr geht es um ein demokratisches Gemeinwesen, das Basisdemokratie zum Wesensgehalt hat. Das Jahr Achtundsechzig öffnet die Geschichte für Augenblicke; es ist ein in jeder Hinsicht politisch anstößiges Jahr, das Anfänge und Hoffnungen setzte. Aber auch die Niederlagen und die enttäuschten Erwartungen gehen in jenes kollektive Gedächtnis ein, das, je entfernter die Originalereignisse liegen, desto straffer im Sinne der gegenwärtigen Realitätsanpassung zurechtgestutzt wird. So ist die Frage legitim: Was bleibt? Was soll gemacht werden, und was ist unter allen Umständen zu vermeiden? Welche Anstöße dieses anstößigen Jahres wirken weiter, welche Ideen und Ansätze sind unausgetragen, unabgegolten? Die Friedensbewegung der 1980er Jahre, Anti-Atombewegung, Ökologiebewegung und vieles andere mehr - die meisten dieser breitenwirksamen Initiativen von unten sind angestoßen von Achtundsechzigern und deren mutiger Rebellion. Wir sind Lernende, und nur in einem Prozess kollektiven Lernens, also der mühevollen Annäherung werden uns Ereignisse der Vergangenheit wieder lebendig und gewinnen ihren Gebrauchswertcharakter zurück.

Es handelt sich ja keineswegs, was häufig vergessen wird, um eine lediglich aus der deutschen Geschichte erklärbare und ausschließlich in ihr gewachsene Bewegung. Alle Faschismusanalogien sind Produkt eines borniert deutschen Blicks. In Paris sammeln sich im Mai 1968 eine Millionen Arbeiter, Studenten, Lehrer, Ingenieure, Menschen praktisch aus allen Schichten der Gesellschaft, die gegen das etablierte System aufstehen und die Veränderung der Gesellschaft fordern; das de Gaulle'sche Präsidialsystem ist dem Absturz nahe.

In der Tschechoslowakei entwickelt sich, wie wir heute nachträglich feststellen können, unter Dubcek eine der letzten möglichen, aber bereits überfälligen Reformen des Sozialismus, die sich aus der uralten Kraft sozialistischer Utopien nährt, um durch einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", friedlich und waffenlos, die nachstalinistischen Bürokratien zum Abtreten zu veranlassen - die letzte dieser Möglichkeiten wird von manchen Linksintellektuellen in der Gorbatschow'schen Öffnungsstrategie gesehen.

Über zwanzig Jahre hat es gedauert, bis der verachtete und geprügelte Alexander Dubcek als Parlamentspräsident Recht behalten durfte - aber jetzt war es kein Sozialismus mehr, den er repräsentierte. Der Vietnamkrieg treibt dem Höhepunkt entgegen. Die Tet-Offensive leitet das allmähliche Scheitern der amerikanischen Interventionspolitik ein. Antikriegskampagnen und Bürgerrechtsbewegungen der Vereinigten Staaten verschmelzen mit dieser Rebellion von Studenten und Jugendlichen, die in Berkeley ihren Ausgang nimmt. Aber es ist auch das Jahr furchtbarer individueller Tragödien: Martin Luther King wird hinterrücks erschossen, Robert Kennedy, der Hoffnungskandidat eines Neuaufbruchs, getötet. Ich erinnere daran, um auf den engen Horizont mancher Kritiker zu verweisen, die, in Verbindung mit den Konvertiten, Achtundsechzig zum Schauplatz pubertärer Rangeleien entpolitisieren.

Achtundsechzig ist weder schwärende Wunde noch ein revolutionärer Umbruch wie die Französische Revolution von 1789. Es ist ein beziehungsreicher, die Offenheit eines Prozesses gewinnender Anfang. Bei allen Irrtümern im Denken und Irrwegen im Handeln, die sich konkret benennen lassen, müssen zwei Handlungsfelder hervorgehoben werden, in denen mit Ernst und Ausdauer über Veränderungen nachgedacht und sinnvolle praktische Experimente gemacht wurden. Das wird den heutigen Ordnungspolitikern aller politischen Schattierungen nicht gefallen, denn darüber sprechen sie nur in einem ironisch-abwertenden Ton: Ich meine das Gebiet der Erziehung und Bildung, wie vor allem aber die entschiedene Neubewertung von Teilhabe und Demokratie. Beides sind wesentlich politische Probleme.

Gewiss, die Frage: Was bleibt? ist schwer zu beantworten; Argumente für eine positive Antwort gibt es aber durchaus. Nie zuvor in der deutschen Bildungsgeschichte waren Reflexionen auf die Bedürfnisse des Kindes und des Jugendlichen so ins Zentrum des schulischen Geschehens gerückt wie in der Kinderladenbewegung oder in der Alternativschulbewegung Anfang der 1970er Jahre. Lernprojekte über Lernprojekte wurden entwickelt, stets standen das Kind oder der Jugendliche im Zentrum von Überlegungen, wie Neugiermotive des Lernens befestigt werden und emotionale und soziale Reifung stattfinden könnten. Ein Grundprinzip, das übrigens in den großen Bildungsratsgutachten der sozialliberalen Reform vorgedacht ist, bestimmt die pädagogische Arbeit dieser Zeit: Nie darf der Leistungsbegriff auf bloße kognitive Operationen reduziert werden. Vielmehr gibt es drei gleichgeordnete, wenn auch in den Zeitmaßen sehr differenzierte Leistungsbegriffe; die emotionale, soziale und die kognitive Leistung. Wo diese Leistungsarten auseinander gebrochen werden, gibt es Störungen in den individuellen Lernprozessen und im Verhalten der Jugendlichen und der Kinder.

Es ist schon bemerkenswert, im Sinne des pädagogischen Erbes der Achtundsechziger, dass der Begriff der Selbstregulierung, zentral für die antiautoritären Bildungsideen, in den PISA-Studien mit positiver Bewertung auftaucht; dass der Erwerb kognitiver Kompetenzen von der emotionalen Entwicklung der Selbstwertgefühle und der sozialen Kompetenz abhängt, ist eine durchgängige Botschaft dieser internationalen Vergleichsstudien. Umso erstaunlicher ist die deutsche Lesart der PISA-Studien, die bloß kognitiven Lernprozesse zu verstärken. Das mag damit zu tun haben, dass die Abwehr der pädagogischen Phantasie der Achtundsechziger so zum kompakten Vorurteil geronnen ist, dass vom Phantasierohstoff, den Träumen und Bedürfnissen der Kinder, nur noch Irritationen im Lehrangebot ausgehen.

Der reaktionären Wende in den Erziehungs- und Bildungsfragen, die ohnmächtige Reaktionen auf die wirkliche Misere des ganzen Bildungssystems, der Schulen, der Kindergärten, der Universitäten signalisiert, entspricht die zunehmende Tendenz des Abbaus von Mitbestimmungsrechten in allen gesellschaftlichen Bereichen. Das war ja ein Grundzug der Achtundsechziger, Mitbestimmungsrechte über den Wissenschaftsprozess, über Lehre und Erziehung zu sichern; zum ersten Mal hat es in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft eine diskutierende Öffentlichkeit in den Universitäten und Schulen gegeben, in der die Mitbestimmungsforderungen eine ganz neue Dimension angenommen haben, nämlich ihre Erweiterung auf Demokratie als Lebensform.

Mitbestimmung wird nicht mehr ausschließlich verstanden als symbolisches Mitspracherecht, sondern mit demokratischer Selbstbestimmung verknüpft. Da tauchen dann auch Rätegedanken auf, die syndikalistischen Traditionen der Arbeiterbewegung, des Anarchismus werden neu diskutiert, Bücher und Broschüren des im Nachkriegsdeutschland abgerissenen Traditionsfadens der Arbeiterbewegung gelesen und diskutiert. Es ist das Verdienst der Bewegung von Achtundsechzig, die Wundmale einer parlamentarischen Demokratie öffentlich erkennbar gemacht zu haben. Und zwei Elemente gehören zu dieser Art Basis-Demokratisierung: zum einen ist es die Politisierung der Interessen und Bedürfnisse der Menschen, so dass sie in einer kritischen Öffentlichkeit in den Prozess politischer Urteilsbildung einbezogen sind. Zum anderen betrifft die Demokratisierung der Gesellschaft, wenn man von Basisdemokratie spricht, die Bereiche konkreten Lebens, in den die Menschen ihre alltäglichen Erfahrungen machen: in den Betrieben, Büros, Schulen und Universitäten.

Es war eine gewiss utopische, aber die Realitäten immer wieder herausfordernde Idee, dass es eine demokratische Gesellschaft ohne Demokraten nicht geben kann. Wenn die Menschen in ihren Alltagsangelegenheiten keine Mitbestimmungsrechte und Kontrollmöglichkeiten haben, dann werden die besten demokratischen Institutionen ausgehöhlt, dann werden sie langfristig auch in den politischen Bereichen nur Objekte von manipulierenden Eliten sein. Die zunehmende Wahlmüdigkeit ist ein bedrohliches Symptom jeder repräsentativen Demokratie.

Aber die Selbstbestimmung am Arbeitsplatz, die praktische Erziehung zur Selbständigkeit und zu kritischer Urteilsfähigkeit ist nicht eine Forderung, die von außen an die hoch industrialisierten Gesellschaften herangetragen wird; sie entspricht der industriellen Entwicklung in ihren differenzierten und komplexen Strukturen selbst. Mit wachsender Vernetzung und Globalisierung der Wirtschaft nimmt der Aktionsspielraum von relativ autonomen Einheiten zu, in denen sich neuartige Kooperationsverhältnisse entwickeln. Befehlsverhältnisse werden selbst unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten unproduktiv; wie nie zuvor ist die Ausbildung von politischer und soziologischer Phantasie notwendig.

In diesem Sinne ist Mitbestimmung, wie sie Achtundsechzig gefordert wurde, ein entscheidender Schritt auf dem Wege zur Selbstbestimmung und der konkreten Verwirklichung von Teilhaberechten, die sich auf den Alltagszusammenhang der Menschen beziehen. Wenn ich dieses demokratische Element des antiautoritären Protestes hier in den Vordergrund rücke, dann darf jedoch nicht übersehen werden, dass in den Zerfallsprozessen der Achtundsechzigerbewegung sehr schnell auch ganz andere Tendenzen sichtbar wurden. Manche gingen, mit proletenhaftem Habitus in die Betriebe, um das Proletariat für den Klassenkampf wachzurütteln. Die meisten taten das in gutem Glauben, mussten aber sehr schnell erkennen, dass selbst die spontan aufbrechenden wilden Streiks das eher reformistische Bewusstsein, wie es von diesen Studenten beklagt wurde, nicht aufzubrechen vermochten; sie scheiterten. Andere wiederum sahen in Deutschland ein Land des "offenen Faschismus" und griffen zur Waffe, um auf diese Weise das Volk aufzurütteln. Auch diese Form des Terrors, mit Wiederbelebung von Kommandostrukturen in den eigenen Reihen, hinterließ ein verödetes Feld sinnloser Opfer und beförderte Tendenzen, die den Sicherheitsstaat erweiterten, aber die Autonomiespielräume der Menschen weiter verengten.

Wenn man also Achtundsechzig mit der politischen Substanz der Basisdemokratie so eng verknüpft, wie ich das tue, darf man das Unterscheidungsvermögen nicht verlieren. Dieses anstößige, symbolträchtige Jahr ist offensichtlich nach wie vor für viele, die ein gespaltenes Bewusstsein im Blick auf Demokratie haben, ein fortwirkendes großes Ärgernis. Und die substanzielle Leitidee, die dieses Ärgernis auslöst, ist das umfassende Mitbestimmungsmodell der Demokratie. So hatte es ja Willy Brandt verstehen wollen, als er die Parole formulierte: Mehr Demokratie wagen.

Immanuel Kant spricht davon, dass Autonomie, Selbstdenken und Selbstbestimmung, Selbstgesetzgebung Grundlagen der menschlichen Würde sind. Wo Menschen zu bloßen Mitteln für Zwecke anderer werden, da verlieren sie ihr eigentliches Unterscheidungsmerkmal von allen anderen Lebewesen dieser Welt. Demokratie und Würde in diesem umfassenden Sinne sind daher untrennbar und Grundlage eines friedensfähigen und nach Gerechtigkeitsprinzipien eingerichteten Gemeinwesens. So steht es auch im Grundgesetz: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Nun haftet der Demokratie als einer gesellschaftlichen Gesamtverfassung ein Makel an; sie funktioniert nicht aus sich heraus, auch nicht, wenn man über die besten Institutionen und rechtlichen Regelungen verfügt. Das Schicksal einer demokratischen Gesellschaftsordnung, die mit Leben erfüllt ist, hängt davon ab, in welchem Maße die Menschen dafür Sorge tragen, dass das Gemeinwesen nicht beschädigt wird und der politische Faden zum Wohlergehen des Ganzen nicht reißt.

Und vor allem eines war im öffentlichen Diskussionszusammenhang der Achtundsechziger, in dem sich viele Problemstellungen um das Verhältnis von Politik, Moral und Macht gruppierten, Debattenthema: Demokratie ist die einzige politisch verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss - nicht ein für allemal, so als könnte man sich einen gesicherten Regelbestand anlegen, der fürs ganze Leben ausreicht, sondern stets aufs Neue, in tagtäglicher Anstrengung und bis ins hohe Alter hinein. Und solch ein Lernprozess ist ohne praktische Übung in solidarischer und kooperativer Mitbestimmung nicht möglich. Nimmt man also das höchst strapazierte Wort vom lebenbegleitenden Lernen in den Mund, dann ist zunächst Nachdenken darüber erforderlich, worin diese Dimension politischen Lernens besteht, bevor man sich den marktbezogenen individuellen Qualifikationsanforderungen zuwendet.

Dass man fortwährend lernen müsse, ist freilich ein uralter Topos, der seit Entstehen der kapitalistischen Wirtschaftsdynamik mit der sie begleitenden Klage über die Enttraditionalisierung des Lernens auf engste verknüpft ist. Schon Goethes "Wahlverwandtschaften" legen Zeugnis ab für dieses Erschrecken über die Notwendigkeit fortwährenden Lernens und die geringe Verlässlichkeit von Traditionsbeständen: "Es ist schlimm genug", rief Eduard (dieser reiche Baron im besten Mannesalter, wie Goethe ihn kennzeichnet), "dass man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann. Unsere Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen."

Demokratie macht Lernen in noch kleineren Zeitabschnitten notwendig; ohne Mitbestimmung in allen Lebensbereichen, die wichtige Angelegenheiten der Menschen regulieren, ist demokratisches Lernen nicht möglich. Achtundsechzig ist wahrlich ein anstößiges Jahr - insbesondere für eine Gesellschaft, die wieder dabei ist, auf Prämien für Tugenden des leistungsbewussten Mitläufers zu setzen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf zwei Schriften kompetenter Erziehungswissenschaftler und Pädagogen. Micha Brumlik (Hrsg.), Vom Missbrauch der Disziplin. Antworten der Wissenschaft auf Bernhard Bueb, Weinheim-Basel 2007(4); ders., Aberglaube Disziplin. Antworten der Pädagogik auf das ,Lob der Disziplin', Heidelberg 2007.

  2. Bernhard Bueb, Lob der Disziplin. Eine Streitschrift, Berlin 2007, S. 80.

  3. Vgl. Oskar Negt, Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Moral, Göttingen 2008.

Geb. 1934; Professor emeritus der Sozialwissenschaften an der Universität Hannover. Podbielskistr. 31, 30163 Hannover.