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Der Sozialstaat des 21. Jahrhunderts braucht zwei Beine - Essay | Bildungspolitik | bpb.de

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Der Sozialstaat des 21. Jahrhunderts braucht zwei Beine - Essay

Jutta Allmendinger

/ 8 Minuten zu lesen

Bildungs- und Sozialstaat bedingen einander, sozialpolitische Aktivierungsprogramme fruchten nur, wenn man ein angemessenes Niveau von Bildung und Weiterbildung voraussetzen kann.

Einleitung

In Deutschland und Österreich, den Pioniernationen der Sozialpolitik, entstand im 19. Jahrhundert der Sozialstaat, der strukturelle Folgen marktwirtschaftlicher Prozesse im Industriezeitalter sozial ab-federn sollte. Auch in anderen Ländern West- und Nordeuropas, in Nordamerika, Australien und Neuseeland entwickelte sich später ein Sozialstaat, der rasch ausgebaut wurde und bis in die frühen 1970er Jahre boomte. Der Schock der Ölkrisen seit 1973 und das Scheitern der keynesianischen Wirtschaftssteuerung beendeten das goldene Zeitalter des Sozialstaats. Krisenphänomene, geringes Wirtschaftswachstum, hohe Arbeitslosigkeit, Inflation, defizitäre Haushalte und eine neoliberale Wirtschaftspolitik beschädigten den herkömmlichen "sorgenden" Sozialstaat. Die Alterung der Gesellschaft erforderte Änderungen im Finanzierungs- und Leistungssystem der Alterssicherung und der Gesundheitsfürsorge. Durch das Auflösen der traditionellen Familienstrukturen ergaben sich weitere Herausforderungen.



Hinter diesen Entwicklungen stehen Prozesse der Deindustrialisierung und ein Beschäftigungsaufbau in den wissensbasierten Dienstleistungsbranchen. Anforderungen der neuen Wissensgesellschaft sind Fähigkeiten im Umgang mit Informations- und Kommunikationstechniken und ein Metawissen für die Beschaffung, Verwendung und Produktion von Informationen. Durch diese Entwicklungen ist Bildung zur wettbewerbsrelevanten Ressource, zur kritischen Größe für die Volkswirtschaften geworden.

Diesem Bedeutungsgewinn von Bildung steht die zunehmende Finanzierungslast des Sozialstaats gegenüber. Die Liberalisierung der Finanzmärkte und der Märkte für Güter, Dienstleistungen und - im europäischen Binnenmarkt - Arbeitskräfte unterwarf die Sozialstaaten zunehmend einem globalen Anpassungsdruck. Seit den späten 1970er Jahren wird die Rückführung der Staats- auf Kernaufgaben unter dem Schlagwort des New Public Management verhandelt. Vor allem in den angelsächsischen Ländern, im Extrem in Neuseeland, sind ein Abbau sozialstaatlicher Leistungen und eine verstärkte Marktsteuerung zu beobachten.

In dieser Situation entstand das sozialstaatliche Leitbild eines aktivierenden Staates als "Dritter Weg" jenseits des versorgenden Sozialstaats sozialdemokratischer Prägung und des neoliberalen Konzepts eines Minimalstaates. Während der traditionelle Sozialstaat versucht, die Soziallage seiner Bürger durch Sozialtransfers zu beeinflussen und diese so vor dem Markt zu schützen, versucht der Sozialinvestitionsstaat seine Bürger zu stärkeren Akteuren im Markt selber zu machen. Der Bürger soll befähigt werden, (wieder) aktiv am Marktgeschehen teilzuhaben. Der Staat wird nicht mehr als Reparaturbetrieb, sondern als ein befähigender und ermöglichender Staat verstanden, der Vorsorge trifft, damit seine Bürger ein selbstbestimmtes Leben führen können. Bildung genießt dabei eine herausragende Stellung: "The key force in human capital development obviously has to be education. It is the main public investment that can foster both economic and civic cohesion." Bildungsarmut und der fehlende Zugang zu Wissen sind die zentralen sozialen Risiken in einer wissensbasierten Wirtschaftsgesellschaft.

Der Entwurf eines Sozialinvestitionsstaates ist eng mit Ergebnissen der empirischen Bildungsforschung verbunden, durch die eindeutige Zusammenhänge zwischen Bildung und einer breiten Palette sozialstaatlich relevanter Bereiche belegt werden: Besser gebildete Menschen leben länger als weniger gebildete und zeigen eine höhere politische wie soziale Teilnahme; auch werden sie schneller und dauerhafter in den Arbeitsmarkt integriert, mit individuell höheren Wahlmöglichkeiten in der Berufs- und Erwerbskarriere sowie mit höheren Entfaltungs- und Entwicklungschancen am Arbeitsplatz; entsprechend hoch ist die Erwerbsbeteiligung gut Gebildeter, entsprechend niedrig das Risiko der Arbeitslosigkeit. Die empirische Forschung zeigt aber auch, wie gefährlich ein "Dritter Weg" sein kann: Wegen der Verteilungswirkung von Bildung muss hinter einem sozialen Investitionsstaat immer eine Bildungspolitik stehen, die auf hohe Bildung für möglichst viele zielt. Niedrig Gebildeten fehlen aber die Grundlagen, Aktivierungsprogramme gehen an ihnen weitgehend vorbei, das Prinzip des Förderns und Forderns kann keine Wirkung zeigen.

Die OECD-Länder haben sich auf die Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte bislang unterschiedlich gut eingestellt. Dies lässt sich anhand des Niveaus der formalen Bildung, der kognitiven Fähigkeiten und der Weiterbildung zeigen. In fast allen Ländern können wir zwischen 1991 und 2006 eine deutliche Bildungsexpansion bei den 25- bis 34-Jährigen nachzeichnen. Die Bevölkerungsanteile im Sekundarbereich II und im Tertiärbereich nehmen zu, der Anteil von Personen mit einem Abschluss unterhalb der Sekundarstufe II nimmt indes ab. Deutschland fiel zurück: Lag Deutschland Anfang der 1990er Jahre im OECD-Vergleich beim Anteil von Personen mit Hochschulabschluss noch in der Spitzengruppe, so nimmt es heute einen der hinteren Plätze ein. Und ganz entgegen dem internationalen Trend nahm hier der Anteil 24- bis 34-Jähriger mit einem Abschluss unterhalb der Sekundarstufe II von 11 (1991) auf 16 Prozent (2006) zu.

Der Bildungsstand einer Bevölkerung kann neben dem Ausbildungsniveau auch mit internationalen Leistungsstudien, etwa dem Programme for International Student Assessment (PISA) der OECD dargestellt werden. Im Durchschnitt der OECD-Staaten und der europäischen Länder gehören rund 20 Prozent der Jugendlichen zur Gruppe mit sehr niedrigen Kompetenzen. In Finnland und Korea gibt es mit sechs bzw. neun Prozent relativ wenige kompetenzarme Jugendliche, in Italien und den USA machen sie dagegen mehr als ein Viertel jedes Jahrgangs aus. In Deutschland und Großbritannien kann jeder fünfte Jugendliche nur einfachste Aufgaben lösen. Wir sind also OECD-Mittelmaß.

Zu einer präventiven Sozialpolitik gehört ein ausgebautes System beruflicher Weiterbildung. Dies gilt besonders in einer Gesellschaft mit steigenden Anteilen von Älteren und sich schnell verändernden Anforderungen auf den Arbeitsmärkten. Hohe Teilnahmequoten an nicht-formaler, berufsbezogener Weiterbildung verzeichnen die skandinavischen Länder. Hier wurde in den vergangenen Jahren die Frühverrentung radikal abgebaut und wurden im Gegenzug öffentliche Weiterbildungsprogramme geschaffen, die konsequent darauf setzen, die Älteren zu aktivieren. Die USA, Deutschland und Großbritannien liegen auch hier im OECD-Vergleich nur im Mittelfeld. Es bleibt festzuhalten: In zahlreichen OECD-Ländern sind beträchtliche Teile der Bevölkerung nicht in der Lage, umfassend an der Wissenswirtschaft teilzunehmen. An diesen Bevölkerungsgruppen gehen Ansätze, die auf eine Stärkung der Eigenverantwortung zielen, vorbei. Die Förderung kompetenzschwacher Schüler muss daher eigenständig betrieben werden.

Kommen wir zurück zum sozialen Investitionsstaat: Die Beziehung zwischen öffentlichen Sozial- und Bildungsausgaben ist stark. Eine expansive und egalitäre Sozialpolitik geht im Allgemeinen mit einem ausgebauten öffentlichen Bildungssektor einher. Dennoch zeigen sich deutliche Unterschiede. Die skandinavischen Staaten, also die erste Gruppe, investieren gleichermaßen in soziale Sicherung und in Bildung und Wissenschaft. Dort steht ein sozialer Investitionsstaat neben einem starken Sozialstaat klassischer Prägung, es handelt sich um Systeme mit doppelter Absicherung. Island, die Schweiz, Neuseeland, Kanada und die USA dagegen setzen viel stärker auf Bildungsinvestitionen als auf eine breite sozialstaatliche Absicherung. Es handelt sich gewissermaßen um Systeme mit beschränkter Absicherung. Die Bildungspolitik hat sich in dieser zweiten Gruppe als eine Art Sozialstaatsersatz entwickelt; dieser Schutz funktioniert allerdings nur für jene, die tatsächlich - über den Zugang zu Bildung - im System ankommen können.

Die dritte Gruppe besteht aus Ländern, in denen überdurchschnittlich hohe Sozialstaatsausgaben getätigt werden, in denen aber Bildung und Forschung eher vernachlässigt werden. Deutschland, Italien, Ungarn und Spanien gehören zu dieser Gruppe. Die Architektur des Sozialinvestitionsstaats wird hier noch nicht verstanden, umgesetzt ist sie erst recht nicht. Es handelt sich um versorgende Sozialstaaten klassischer Prägung. Bemerkenswert ist, dass in manchen dieser Länder Teile der Politik - etwa die Arbeitsmarktpolitik - eindeutig aktivierend ausgerichtet worden sind, obgleich die (Bildungs-)Voraussetzungen dafür noch gar nicht geschaffen worden waren. In der vierten Gruppe finden wir mit der Türkei, Irland und Mexiko Länder, die weder für Bildung noch für die soziale Sicherung nennenswerte öffentliche Mittel bereitstellen, also Länder mit doppelt beschränkter Haftung.

In den meisten Wohlfahrtsstaats-Typologien wird der Bildungssektor ausgeklammert. Die vergleichende Bildungsforschung vernachlässigt es ihrerseits, sich in der umfassender verstandenen Sozialstaatlichkeit zu verorten. Stattdessen trifft man zunehmend auf eine platte Gegenüberstellung von Sozial- und Bildungsstaat. Dann überwiegt der Ruf nach einem reinen sozialen Investitionsstaat, nach einer "Bildungsrepublik" - als ob damit der Sozialstaat klassischer Prägung abgelöst werden könnte. Dieses Vorhaben ist aus vielerlei Gründen zum Scheitern verurteilt. Sozialer Schutz lässt sich allein durch Bildung nicht gewährleisten. Auch Gebildete werden krank, arbeitslos und alt. Und ein gewisser Anteil - vielleicht sind es die finnischen fünf Prozent - wird sich selbst bei größtem Bemühen nicht bilden und aktivieren lassen. Diese Grenzen des Bildungsstaats entheben aber nicht von den Bildungspflichten des Staates: Die meisten Länder müssen viel mehr für Bildung tun, auch wenn es den Wählerinteressen, den Wünschen des Sozialstaatsklientels, widersprechen sollte, auch wenn es Verteilungskonflikte auslöst, und auch wenn es eine Generation lang dauern mag, bis sich Reformanstrengungen in spürbaren Bildungsergebnissen niederschlagen. Ohne entschiedenes Umsteuern würden wir in Deutschland sehenden Auges unsere Standortchancen verspielen.

Moderne und erfolgreiche Wohlfahrtsstaaten lösen den Sozialstaat klassischer Prägung nicht ab, sie folgen nicht dem neoliberalen Ruf, staatliche Leistungen abzubauen, und sie beugen sich nicht einem dritten Weg, der nur auf soziale Investitionen in das Humankapital der Bevölkerung zielt. Die leistungsfähigsten Länder setzen gleichermaßen auf den Bildungs- und den Sozialstaat, betonen die zukunftsorientierte Bildungs- und Wissenschaftsinvestition, setzen auf hohe Effektivität und Ergebnisgleichheit ihrer Bildungspolitik und betreiben eine engagierte Sozialpolitik. Sie stehen also mit beiden Beinen auf der Erde.

So ist die Gruppe der skandinavischen Länder außerordentlich stark, wenn es darum geht, ein hohes, von den meisten Bürgerinnen und Bürgern erreichtes Bildungsniveau mit einer hohen Absicherung bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter zu verbinden. Dabei dürfte das eine das andere bedingen. Die in Finnland, Norwegen, Schweden oder Dänemark im internationalen Vergleich kurze Verweildauer in Arbeitslosigkeit bei - oder trotz - sehr hohen Lohnersatzleistungen zeigt: Programme der Aktivierung fruchten gerade dann, wenn man ein angemessenes Niveau von Bildung und Weiterbildung voraussetzen kann. Es wird breit gefördert und gesichert - und entsprechend kann dann auch gefordert werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für einen breiten Überblick vgl. Francis G. Castles u.a. (eds.), The Oxford Handbook of the Welfare State, Oxford 2010 (i.E.).

  2. Vgl. Peter Flora, Growth to Limits: The Western European Welfare States since World War II, Berlin-New York 1986.

  3. Vgl. Daniela Rohrbach, The development of knowledge societies in 19 OECD countries between 1970 and 2002, in: Social Science Information, (2007) 46, S. 655 - 689.

  4. Vgl. OECD, Education at a Glance, Paris 2008.

  5. Vgl. Fritz W. Scharpf/Vivien A. Schmidt, Welfare and Work in the Open Economy. From Vulnerability to Competitiveness, vol. 1, Oxford 2000.

  6. Vgl. Paul Pierson, Dismantling the Welfare State?, Cambridge 1994, sowie Peter Starke, Radical Welfare State Retrenchment: A Comparative Analysis, Basingstoke 2007.

  7. Vgl. das Konzept des "enabling state" in: Neil Gilbert, The "Enabling State" from public to private responsibility for social protection: Pathways and pitfalls. OECD Social, Employment and Migration Working Papers No. 26, Paris 2005.

  8. Anthony Giddens, The Third Way and its Critics, Cambridge 2000, S. 73.

  9. Vgl. Jutta Allmendinger, Bildungsarmut: Zur Verschränkung von Bildungs- und Sozialpolitik, in: Soziale Welt, 50 (1999), S. 35 - 50.

  10. Vgl. OECD (Anm. 4).

  11. Vgl. Rita Nikolai, Sozialpolitik auf Kosten der Bildung? Verteilungskonkurrenz in Zeiten knapper Kassen, in: Zeitschrift für Sozialreform, (2007) 53, S. 7 - 30, sowie Marius R. Busemeyer, Determinants of Public Education Spending in 21 OECD democracies, 1980 - 2001, in: Journal of European Public Policy, (2007) 14, S. 582 - 610.

Ph. D., geb. 1956; Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), Reichpietschufer 50, 10785 Berlin.
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