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Große Koalition: Durchregiert oder im institutionellen Dickicht verheddert? | Parlamentarismus | bpb.de

Parlamentarismus Editorial Neue Qualität des Parteienwettbewerbs im "Superwahljahr" Große Koalition: Durchregiert oder im institutionellen Dickicht verheddert? Vom Mythos der politischen Mitte Vertrauen, Verantwortung und die Würde des Kompromisses "Kanzlerkommunikation" von Adenauer bis Merkel Der Fraktionsreferent - ein politischer Akteur?

Große Koalition: Durchregiert oder im institutionellen Dickicht verheddert?

Reimut Zohlnhöfer

/ 14 Minuten zu lesen

Trotz breiter Bundestagsmehrheit wurde die Große Koalition nennenswert von Bundesrat, Verfassungsgericht und Bundespräsident kontrolliert. Das Scheitern einiger Strukturreformen ist programmatischen Differenzen zwischen Unionsparteien und SPD zuzuschreiben.

Einleitung

In der Bundesrepublik wird eine Große Koalition stets als demokratischer Sonderfall interpretiert. Die große Mehrheit, auf die sich eine solche Regierung im Bundestag stützen kann, wird zuweilen als Gefahr für die Demokratie wahrgenommen, weil die Opposition zu schwach sei. Zugleich wurde gelegentlich erwartet, dass nur eine Koalition aus den beiden Volksparteien in der Lage sei, die notwendigen Strukturreformen vom Föderalismus bis zu den Sozialversicherungssystemen anzugehen.


Im Folgenden sollen beide Erwartungen auf ihre empirische Richtigkeit hin untersucht werden. Erstens soll der Frage nachgegangen werden, ob es der Großen Koalition mit ihrem Sitzanteil im Bundestag von über 72 Prozent und einem Bundesrat, in dem keine Länderregierung vertreten war, der nicht mindestens einer der Koalitionspartner angehörte, gelungen ist, weitreichende Reformen durchzusetzen und die Strukturprobleme der Bundesrepublik anzugehen. Hat sich die Große Koalition also als "Koalition der neuen Möglichkeiten" erwiesen, die Angela Merkel in ihrer ersten Regierungserklärung angekündigt hatte? Und zweitens: Konnte die Große Koalition tatsächlich, wie von verschiedenen Beobachtern gefürchtet oder erhofft, "durchregieren", ohne sich im institutionellen Dickicht zu verheddern? Nach einem knappen Überblick über die Reformtätigkeit der Großen Koalition werden daher die einzelnen Institutionen - Bundesrat, Vermittlungsausschuss, Bundesverfassungsgericht und Bundespräsident - daraufhin untersucht, inwieweit sie auch für die Große Koalition relevant waren. Abschließend sollen dann die Grenzen des Verselbständigungs-, aber auch des Gestaltungsspielraums diskutiert werden, die innerhalb der Koalition selbst angesiedelt sind.

Reformbilanz der Großen Koalition

Wenn man einen Blick auf die Reformbilanz der Großen Koalition wirft, ist zu konstatieren, dass eine Reihe von Reformen insgesamt gelungen ist und einige von ihnen sogar durchaus weitreichend waren. Auch wenn das letzte Wort über die Auswirkungen der Föderalismusreformen noch nicht gesprochen ist, ist es hier doch zu nennenswerten Veränderungen gekommen. Beträchtliche Pfadabweichungen sind zudem in der Familienpolitik mit dem Elterngeld und dem Ausbau der Kindertagesstätten für unter Dreijährige zu erkennen. Diese Pfadabweichungen waren zwar auch schon von den rot-grünen Familienministerinnen angestrebt worden, aber der Durchbruch gelang erst unter der Regierung Merkel.

Das Gleiche gilt für die Erhöhung des Renteneintrittsalters und für die Unternehmenssteuerreform, mit der nach 20-jähriger Diskussion die steuerliche Belastung deutscher Unternehmen zumindest in die Nähe des Durchschnitts der 15 langjährigen EU-Mitgliedstaaten (EU-15) gesenkt wurde. Ein gewisser Erfolg ist der Koalition zumindest bis zum Ausbruch der Finanzkrise im Sommer 2008 auch bei der Haushaltskonsolidierung gutzuschreiben, und auch der beherzte Einsatz zur Bekämpfung dieser Krise ist positiv zu vermerken. Wenigstens einen symbolischen Erfolg, der den Vorgängerregierungen verwehrt blieb, konnte die Bundesregierung auch bei den Sozialversicherungsbeiträgen feiern, die sie unter die Grenze von 40 Prozent vom Bruttolohn senkte.

Gleichwohl ist die Bilanz der Großen Koalition keine reine Erfolgsgeschichte. Einige Reformen blieben Stückwerk, teilweise widersprachen sie sich sogar, wenn sie nicht ganz scheiterten. So widersprechen beispielsweise die "außerplanmäßigen" Rentenerhöhungen 2008 und 2009 der Logik der Erhöhung des Renteneintrittsalters, und die Bemühungen um eine Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung wurden konterkariert von der Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes (ALG) I für Ältere. Die Gesundheits- und die Pflegereform waren ebenfalls keine großen Würfe, beide führten im Gegenteil - entgegen ihrer wirtschaftspolitischen Zielsetzung - sogar zu steigenden Beiträgen. Dennoch ist insbesondere der Gesundheitsreform zugute zu halten, dass sie durch die Stärkung der Stellung des Staates in diesem Politikfeld den Handlungsspielraum nachfolgender Regierungen erweitert hat. Ebenso umstritten sind die Mindestlöhne, die zwar auf acht Branchen ausgedehnt, aber nicht flächendeckend eingeführt wurden, wie von der SPD gewünscht. Die von der Union geforderte stärkere Liberalisierung des Arbeitsmarktes blieb ebenfalls aus. Auch in der Politik der Inneren Sicherheit blieben einige Pläne der Union unverwirklicht, vor allem die Ermöglichung eines Bundeswehreinsatzes im Innern. Ganz gescheitert sind schließlich auch das geplante Umweltgesetzbuch sowie die beiden zentralen Privatisierungsprojekte der Legislaturperiode, Bahn und Flugsicherung.

Im institutionellen Dickicht

Der knappe Überblick über die Ergebnisse der Reformbemühungen der Großen Koalition sollte gezeigt haben, dass eine Bilanz zu einem differenzierten Ergebnis kommen muss. Zwar wird die gelegentlich in den Medien gestellte Diagnose von Stillstand und Blockade den empirischen Befunden nicht gerecht, doch eine Politik "aus einem Guss" hat die Große Koalition eben auch nur selten zustande bekommen. Warum hat die Regierung Merkel aber ihre vermeintliche Machtfülle nicht dazu nutzen können, in allen relevanten Politikfeldern Strukturreformen durchzusetzen? Um diese Frage zu klären, soll nun ein Blick auf die institutionellen Beschränkungen geworfen werden, mit denen sich die Große Koalition auseinanderzusetzen hatte, um zu überprüfen, ob das "Durchregieren" vielleicht auch zu Zeiten großer Bundestagsmehrheiten an solchen Institutionen scheitert.

Bundesrat und Vermittlungsausschuss

Der Bundesrat war insbesondere nach der Wiedervereinigung ein besonders wichtiger Vetospieler. Das lag einerseits daran, dass seine Zustimmung zu 50 bis 60 Prozent aller Gesetze zwingend erforderlich war, damit das jeweilige Gesetz in Kraft treten konnte. Andererseits war es nach 1990 praktisch die Regel, dass die jeweilige Bundesregierung keine parteipolitische Mehrheit im Bundesrat mehr besaß, sondern im günstigsten Fall auf Stimmen der sogenannten gemischt regierten Länder angewiesen war, in deren Regierung also eine Partei beteiligt war, die auch der Bundesregierung angehörte, während der andere Koalitionspartner auf Bundesebene in der Opposition war. Im für die Bundesregierung ungünstigeren Fall kontrollierte die Bundestagsopposition sogar die Mehrheit im Bundesrat. In beiderlei Hinsicht konnte die Große Koalition auf günstigere Verhältnisse hoffen.

So war es eines der zentralen Ziele der ersten Föderalismusreform, die am 1. September 2006 in Kraft getreten ist, den Anteil der zustimmungsbedürftigen Gesetze an allen Gesetzen zu verringern. Dieses Ziel wurde zumindest quantitativ erreicht. Lag der Anteil der zustimmungsbedürftigen an allen Gesetzen in den vier Legislaturperioden nach der Wiedervereinigung bei rund 55 Prozent, so sank der entsprechende Anteil zwischen dem Inkrafttreten der Reform im September 2006 und dem Juli 2009 auf 40,6 Prozent. Das war der niedrigste Anteil zustimmungsbedürftiger Gesetze in der Geschichte der Bundesrepublik. Zwar ist noch unklar, inwieweit auch bei Schlüsselentscheidungen die Zustimmungsbedürftigkeit tatsächlich entfallen ist, oder ob von der Neuregelung vor allem Routineentscheidungen profitiert haben. Aber zumindest hinsichtlich der Anzahl der im Bundesrat zustimmungsbedürftigen Gesetze hatte die Große Koalition günstigere Rahmenbedingungen als irgendeine ihrer Vorgängerinnen.

Hinzu kam, dass die Bundesregierung am Anfang ihrer Regierungszeit sogar eine - allerdings knappe - eigene Mehrheit im Bundesrat besaß. Diese Mehrheit von CDU-, CSU- und SPD-Alleinregierungen oder Großen Koalitionen auf Länderebene wuchs im Jahr 2006 sogar noch weiter, ehe sie durch den Eintritt der FDP und der Grünen in verschiedene Landesregierungen abschmolz. Seit dem Amtsantritt der CDU/FDP-Koalition in Hessen im Februar 2009 kontrollieren die Partner der Großen Koalition nur noch 30 der 69 Stimmen im Bundesrat, sodass seither die Zustimmung von mindestens einem gemischt regierten Land benötigt wird, wenn Zustimmungsgesetze im Bundesrat verabschiedet werden sollen.

Auffallend ist, dass der Vermittlungsausschuss, in dem Kompromisse zwischen Bundestag und Bundesrat gefunden werden sollen, in der 16. Wahlperiode keineswegs wie in früheren Konstellationen mit gleichgerichteten Mehrheitsverhältnissen in eine Art Winterschlaf gefallen ist. Kam es in den knapp acht Jahren zwischen Oktober 1982 und Mai 1990, in denen die Regierung unter Helmut Kohl auf eine eigene Bundesratsmehrheit vertrauen konnte, zu lediglich acht Vermittlungsverfahren, so wurde der Vermittlungsausschuss in der Regierungszeit der zweiten Großen Koalition zu 18 Gesetzen angerufen (Stand: Juli 2009). Die Mehrzahl dieser Gesetze, nämlich elf, waren zustimmungsbedürftig, die anderen sieben waren Einspruchsgesetze.

Bei den Einspruchsgesetzen war der Einfluss des Vermittlungsausschusses allerdings begrenzt: In drei der sechs bislang abschließend behandelten Fälle wurde als Einigungsvorschlag beschlossen, das Gesetz zu bestätigen, weitere zwei Vermittlungsverfahren endeten ergebnislos, was in beiden Fällen ebenfalls die Durchsetzung des vom Bundestag beschlossenen Gesetzes bedeutete. In drei dieser fünf Fälle, in denen das Vermittlungsverfahren keine Änderungen an dem Gesetz brachte, erhob der Bundesrat anschließend Einspruch, in einem Fall sogar mit Zweidrittelmehrheit, was auch eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag erforderlich machte, sollte der Einspruch zurückgewiesen werden. Dennoch wurden in diesem wie in den beiden anderen Fällen die Einsprüche des Bundesrates vom Bundestag überstimmt. Dass dies auch im Fall des mit Zweidrittelmehrheit im Bundesrat erhobenen Einspruchs gelang, war dabei kein Sondereffekt der Situation einer Großen Koalition, da der Bundestag fast einstimmig - lediglich gegen die Stimme eines fraktionslosen Abgeordneten - den Einspruch zurückwies. Lediglich bei einem Einspruchsgesetz kam es zu einem echten Vermittlungsergebnis, also zu einer Änderung des vom Bundestag beschlossenen Gesetzes.

Deutlich erfolgreicher war die Länderseite erwartungsgemäß bei der Beeinflussung von Zustimmungsgesetzen. In zehn der elf einschlägigen Fälle war das Vermittlungsverfahren erfolgreich, kam es also zu einem Kompromiss zwischen den Positionen von Bundestag und Bundesrat, der schließlich auch von beiden Kammern angenommen wurde. Lediglich in einem Fall beschloss der Vermittlungsausschuss als Einigungsvorschlag, das Gesetz zu bestätigen - was der Bundesrat letztlich akzeptierte. Aus drei Gründen ist allerdings das Vermittlungsverfahren zum Gesetz zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus durch das Bundeskriminalamt, kurz BKA-Gesetz, besonders bemerkenswert. Erstens war das BKA-Gesetz das erste wichtige politische Projekt der Großen Koalition, das im Vermittlungsausschuss behandelt werden musste. Zweitens fällt auf, dass die Zustimmung des Bundesrates nicht nur aus landespolitischen Gründen ausblieb, sondern dass bei den Entscheidungen der einzelnen Landesregierungen auch parteipolitische Aspekte eine wichtige Rolle spielten - und das, obwohl die Große Koalition zur fraglichen Zeit noch eine eigene Mehrheit im Bundesrat besaß, wenn auch die knappest mögliche von 35 zu 34 Stimmen. Nachdem sich die SPD in Sachsen aber darauf festgelegt hatte, das Gesetz abzulehnen, und Sachsen somit auch dem Gesetz im Bundesrat nicht zustimmen konnte, folgten auch die Länder Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein jeweils auf Druck der SPD diesem Votum. Drittens schließlich ist das BKA-Gesetz das bislang einzige zustimmungsbedürftige Gesetz, zu dem nicht der Bundesrat den Vermittlungsausschuss angerufen hat. Die Länderkammer versagte dem Gesetz vielmehr schlicht die Zustimmung und überließ es der Bundesregierung, den Vermittlungsausschuss anzurufen, sollte diese das Gesetz noch retten wollen. Das tat die Bundesregierung, und es wurde auch in diesem Fall ein Kompromiss gefunden, der dann schließlich sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat eine Mehrheit fand.

Interessant ist schließlich die zeitliche Entwicklung der Vermittlungsverfahren. Bis zum Machtwechsel in Hessen im Februar 2009, das heißt in den ersten mehr als drei Jahren des Bestehens der Großen Koalition, wurde der Vermittlungsausschuss lediglich zu acht Gesetzen angerufen. Seit die Koalition keine Bundesratsmehrheit mehr besitzt, kam es dagegen in fünf Monaten schon zu zehn Anrufungen. Dieser Verlauf macht deutlich, dass sich die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrates auch in Zeiten einer Großen Koalition bei der Anrufung des Vermittlungsausschusses bemerkbar macht. Insofern stellte der Bundesrat auch für die Große Koalition, die ja mit mindestens einem Partner an der Regierung jedes einzelnen Bundeslandes beteiligt ist, keine zu vernachlässigende Instanz dar. Gleichwohl sind die Konzessionen, die der Bundesrat der Regierungskoalition abtrotzte, bislang gering geblieben.

Bundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht als eines der auch im internationalen Vergleich besonders mächtigen Verfassungsgerichte wird als wichtiges Instrument der Opposition gegenüber der Regierung betrachtet. Das gilt insbesondere für das Recht der abstrakten Normenkontrollklage, mit der es der Opposition unter Umständen möglich ist, eine parlamentarische Niederlage noch korrigieren zu lassen. Unter den Bedingungen einer Großen Koalition ist gerade dieses sonst scharfe Schwert allerdings stumpf, da das Recht, eine abstrakte Normenkontrolle zu beantragen, laut Grundgesetz bei der Bundesregierung, einer Landesregierung oder einem Drittel der Mitglieder des Bundestages liegt. Seit 2005 kontrollierte die Opposition aber weder ein Drittel der Bundestagssitze noch eine Landesregierung, sodass sie auch keine entsprechende Klagebefugnis besaß. Die FDP-Fraktion im Bundestag brachte daher bereits im Dezember 2005 den "Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Oppositionsrechte (Änderung des Artikels 93 Abs. 1 des Grundgesetzes)" ein, der vorsah, bereits einem Viertel der Mitglieder des Bundestages das Recht auf eine abstrakte Normenkontrollklage zuzugestehen. Durchsetzen konnten sich die Liberalen mit dieser Initiative allerdings nicht.

Gleichwohl beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht auch in der 16. Wahlperiode mit zentralen Entscheidungen der Großen Koalition. So überprüfte es im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle die Kürzung der Pendlerpauschale bei der Einkommensteuer und entschied, dass diese verfassungswidrig sei. Damit war einerseits ein wichtiger Baustein der Konsolidierungsstrategie der Bundesregierung weggebrochen; andererseits aber passte die Rückerstattung der entsprechend eingenommenen Steuereinnahmen zum Zeitpunkt des Urteils (Dezember 2008) gut in die von der Finanzkrise erschütterte konjunkturelle Landschaft, sodass sie die Finanzpolitik der Bundesregierung nicht mehr konterkarierte.

Zudem wurden Verfassungsbeschwerden gegen die sogenannte Vorratsdatenspeicherung im Rahmen des Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung eingelegt - zum einen von einigen FDP-Politikern um Burkhart Hirsch und zum anderen von über 34 000 (!) Beschwerdeführern, die einen Rechtsanwalt beauftragt hatten. Diese hatten zumindest insoweit Erfolg, als das Bundesverfassungsgericht per einstweiliger Anordnung bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde Teile des Gesetzes außer Kraft setzte.

Auch über wichtige Bestandteile der Gesundheitsreform 2007 hatte das Bundesverfassungsgericht zu urteilen. Von diesem Gesetz fühlten sich verschiedene Kläger in ihrer Berufs- und Vereinigungsfreiheit verletzt, sodass sie Verfassungsbeschwerde einlegten. In diesem Fall hielt die Reform der verfassungsrechtlichen Prüfung allerdings stand, und die Richter ließen das Gesetz passieren. Auch eine Verfassungsbeschwerde gegen das Finanzmarktstabilisierungsgesetz blieb folgenlos, weil das Gericht die Klage aus formalen Gründen (noch) nicht zur Entscheidung annahm.

Schließlich hatte sich das Bundesverfassungsgericht noch mit einigen außenpolitischen Entscheidungen der Regierung Merkel auseinanderzusetzen, nämlich der Entsendung von Tornado-Flugzeugen nach Afghanistan und dem Vertrag von Lissabon. Gegen die Entsendung der Tornados hatte die Fraktion der PDS/Die Linke das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Organklage angerufen, allerdings ohne Erfolg. Gegen das Zustimmungsgesetz zum Lissabon-Vertrag sowie die entsprechenden Begleitgesetze wurde sowohl Verfassungsbeschwerde eingelegt (insbesondere wegen der Verletzung des Demokratieprinzips) als auch ein Organstreitverfahren durch den CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler und die Bundestagsfraktion der Linkspartei initiiert. Die Beschwerden waren insoweit erfolgreich, als das Bundesverfassungsgericht eines der relevanten Begleitgesetze als verfassungswidrig einstufte. Der Vertrag von Lissabon selbst wurde dagegen als verfassungskonform beurteilt, wenngleich das Ratifikationsverfahren bis zur Verabschiedung des überarbeiteten Begleitgesetzes nicht abgeschlossen werden kann. Die Große Koalition plant daher, das Gesetz noch vor Ablauf der Wahlperiode in revidierter Fassung zu verabschieden.

Bundespräsident

Der Bundespräsident ist sicherlich das machtloseste Verfassungsorgan in der Konstruktion des Grundgesetzes. Ein Vetorecht gegen Gesetze steht ihm lediglich in äußerst eng umgrenzten Fällen zu: Nur wenn der Bundespräsident der Auffassung ist, dass ein Gesetz offensichtlich verfassungswidrig ist, kann er die Ausfertigung verweigern. In den über 55 Jahren des Bestehens des Grundgesetzes bis zum Amtsantritt der Großen Koalition kam dies lediglich sechs Mal vor.

In der Amtszeit der Großen Koalition kamen allerdings zwei weitere Fälle hinzu. Das Gesetz zur Neuregelung der Flugsicherung verwarf Bundespräsident Köhler, weil es gegen Artikel 87d GG verstoße, der vorgibt, dass die Luftverkehrsverwaltung in bundeseigener Verwaltung zu führen ist. Die Bundesregierung reagierte auf diese Entscheidung, indem sie einerseits das Grundgesetz änderte und andererseits ein revidiertes Gesetz verabschiedete. Dadurch wurden zwar einige der Kernziele der Reform durchgesetzt, aber die mit dem Gesetz ursprünglich vorgesehene materielle Privatisierung von 74,9 Prozent der Anteile an der bundeseigenen Deutschen Flugsicherung, die Einnahmen in Höhe von etwa eine Milliarde Euro erlösen sollte, kam nicht mehr zustande - insbesondere die SPD hatte das Interesse daran verloren.

Das zweite Gesetz, das der Bundespräsident nicht ausfertigen mochte, war das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Verbraucherinformation. Hier monierte Köhler, dass das "Gesetz gegen das seit dem 1. September 2006 geltende Verbot des Artikels 84 Abs. 1 Satz 7 des Grundgesetzes verstößt, durch Bundesgesetz den Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben zu übertragen". Dieses Gesetz wurde später in geänderter Form neuerlich verabschiedet und dann auch vom Bundespräsidenten ausgefertigt.

Machtbeschränkung und Reformhemmung

Die Ausführungen machen deutlich, dass die Große Koalition einerseits trotz ihrer großen Mehrheit im Bundestag keine unkontrollierte Machtfülle besaß, dass es andererseits aber nicht die institutionellen Vetospieler waren, welche die Regierung Merkel davon abgehalten haben, in größerem Umfang Strukturreformen durchzusetzen. Vielmehr lässt sich zeigen, dass es die Partner der Großen Koalition selbst waren, die größere Reformen verhinderten. Zum einen waren die inhaltlichen Positionen beider Koalitionspartner in wichtigen Fragen ausgesprochen unterschiedlich. So hatten die Parteien den Bundestagswahlkampf 2005 in der Gesundheitspolitik mit den konkurrierenden Konzepten von Bürgerversicherung und Kopfpauschale bestritten, die sich auch nach der Wahl nicht umstandslos in ein gemeinsames Projekt verwandeln ließen. So ging es bei der Gesundheitsreform, wie auch bei der Pflegereform, dann letztlich vor allem darum, keine zukünftigen Optionen zu verbauen, also beiden Koalitionspartnern die Möglichkeit zu erhalten, bei für sie günstigeren Mehrheitsverhältnissen ihr präferiertes Reformkonzept doch noch durchsetzen zu können.

Auch bei den Reformen auf dem Arbeitsmarkt ging es vor allem darum, die Durchsetzung der - den eigenen Vorstellungen widersprechenden - Konzepte des Koalitionspartners zu verhindern. Dabei war die SPD, die die von der Union geforderte Liberalisierung des Arbeitsmarktes praktisch vollständig abwehrte, erfolgreicher als ihr christdemokratischer Koalitionspartner, der zwar die Einführung flächendeckender Mindestlöhne abwendete, aber doch eine erhebliche Erweiterung von deren Geltung hinnehmen musste.

Der Grund für den größeren Erfolg der SPD verweist auf das zweite wichtige innerkoalitionäre Hemmnis für eine weitreichende Reformpolitik: den Wettbewerb um Wählerstimmen. Die SPD hatte in der zweiten Regierungszeit von Gerhard Schröder erfahren müssen, dass Reformpolitik im deutschen Sozialversicherungsstaat ein unpopuläres und wahlpolitisch höchst riskantes Unterfangen ist. Auch die Union führte ihr schwaches Bundestagswahlergebnis 2005 darauf zurück, dass sie mit einem liberalen Reformprogramm angetreten war, das von den Wählerinnen und Wählern offenbar nicht akzeptiert worden war. Entsprechend versuchten beide Parteien in der Großen Koalition, ihre sozialpolitische Kompetenz unter Beweis zu stellen. So musste die Union fürchten, dass ihr eine Ablehnung von Mindestlöhnen bei zukünftigen Wahlen schaden könnte, sodass diese schließlich trotz der ordnungspolitischen Bedenken seitens der CDU/CSU-Wirtschaftspolitiker verabschiedet wurden (wenngleich die Union zumindest versuchte, die Ausweitung von Mindestlöhnen so weit wie möglich zu begrenzen). Ähnliches gilt für die "außerplanmäßigen" Erhöhungen der Renten (und in deren Folge auch anderer Sozialleistungen) in den Jahren 2008 und 2009 - und damit in unmittelbarer Nähe zur Bundestagswahl 2009. Wiederum stimmten Union und SPD diesen Maßnahmen zu - teilweise offenbar wider besseres Wissen, wurde Angela Merkel doch mit den Worten zitiert, diese seien "ordnungspolitisch kein Meisterstück" gewesen.

Die Verlängerung des ALG I für Ältere zeigt schließlich, dass sich die Parteien im Versuch, Wählerstimmen zu gewinnen, sogar wechselseitig zu zwar kurzfristig populären, aber auch teuren und die eigenen Politikziele in Frage stellenden Reformen hochschaukelten. Die Debatte wurde im Herbst 2006 vom nordrhein-westfälischen CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers in Gang gebracht, dem es gelang, seine Partei zumindest formal auf eine verlängerte Bezugsdauer festzulegen. Als auch in der SPD eine entsprechende Debatte begann, mochte der damalige SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering diese Rücknahme einer zentralen Reform der Agenda 2010 zunächst nicht mittragen. Da der SPD-Vorsitzende (seinerzeit noch Kurt Beck) angesichts der Position der Union allerdings die Gefahr sah, dass eine Weigerung der SPD dieser wahlpolitisch schaden könnte, setzte er sich mit aller Macht gegen den Arbeitsminister durch.

Fazit

Die empirische Analyse hat gezeigt, dass sowohl die Hoffnungen als auch einige der Befürchtungen, die mit der Großen Koalition verbunden wurden, zumindest übertrieben waren. Erstens zeigte sich, dass auch die Große Koalition mit ihrer breiten parlamentarischen Basis und ihrer Beteiligung an allen Landesregierungen keine unbegrenzte Machtfülle besaß. Am Ende der Legislaturperiode hatte die Koalition sogar ihre Mehrheit im Bundesrat verloren, was sich in einem steilen Anstieg der Zahl der Vermittlungsverfahren niederschlug; auch das Bundesverfassungsgericht blieb als Kontrollinstanz durchaus wirksam, und der Bundespräsident übte seine verfassungsrechtlichen Kontrollbefugnisse ungewöhnlich extensiv aus. Von unkontrollierter Machtfülle im politischen System der Bundesrepublik kann also selbst in Zeiten Großer Koalitionen kaum die Rede sein.

Zweitens lässt sich feststellen, dass der Großen Koalition keineswegs in allen Bereichen Strukturreformen geglückt sind - trotz nennenswerter Erfolge bei der Föderalismusreform, der Unternehmensbesteuerung und in der Familienpolitik. Allerdings waren es nicht die institutionellen Gegengewichte gegen die Mehrheitsherrschaft, die den Hauptteil der Verantwortung dafür tragen, dass die Große Koalition keine Politik "aus einem Guss" betrieben hat. Es waren vielmehr die teilweise - etwa in der Gesundheitspolitik - erheblichen programmatischen Unterschiede zwischen den Koalitionspartnern, zum Teil aber auch wahltaktische Überlegungen, die solche weitreichenden Reformen verhinderten. Insofern veränderten sich die Muster der parlamentarischen Willensbildung in der Bundesrepublik unter der zweiten Großen Koalition erstaunlich wenig.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Abschnitt hat von Papieren profitiert, die am 26. und 27. 3. 2009 bei der Konferenz "Bilanz der Großen Koalition" in Bremen präsentiert wurden und 2010 in einem von Christoph Egle und mir herausgegebenen Band erscheinen werden.

  2. Vgl. die Darstellung bei Eckart Lohse/Mark Wehner, Rosenkrieg. Die große Koalition 2005-2009, Köln 2009, S. 130f.

  3. Für hilfreiche Anmerkungen zu diesem Abschnitt danke ich Sascha Kneip.

  4. BT-Drs. 16/126.

  5. Das Gleiche gilt auch für einen ähnlichen Antrag der Linkspartei. Vgl. BT-Drs. 16/4119.

  6. BT-Drs. 16/3866, S. 1.

Dr. rer. pol., geb. 1972; Professor für Politikwissenschaft, insbesondere international vergleichende Politikfeldanalyse, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Feldkirchenstraße 21, 96045 Bamberg.
E-Mail: E-Mail Link: reimut.zohlnhoefer@uni-bamberg.de