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Liquid Democracy als "Versöhnungstechnologie" | Politische Teilhabe im Netz | bpb.de

Liquid Democracy als "Versöhnungstechnologie"

Frieder Vogelman

/ 4 Minuten zu lesen

Liquid Democracy – der Versuch hin zu einer alternativen demokratischen Machtausübung bei der die Grenzen zwischen Regierenden und Regierten zusehends verschwimmen – ist auch ohne den Erfolg der Piratenpartei ein interessantes Konzept. In seinem Artikel erklärt Frieder Vogelmann warum Liquid Democracy eine "Versöhnungstechnologie" ist, was das bedeutet und warum das ganze so verführerisch einfach erscheint.

Liquid Democracy will die starren Begrenzungen der repräsentativen Demokratie "verflüssigen". (Andy Price) Lizenz: cc by-nc-sa/3.0/de

Festes verflüssigen zu können, ist das Versprechen heutiger Alchemisten – mit dem gefährlichen Unterschied, dass es ihnen tatsächlich gelingt. Ein solches Versprechen einer besseren, weil demokratischeren Demokratie ist der zentrale Vorschlag der Piratenpartei: Liquid Democracy. Wenngleich die Piraten gegenwärtig in die Bedeutungslosigkeit zurücksinken, aus der sie kamen, bleibt dieser Vorschlag interessant. Eine Unterscheidung vorweg: Liquid Democracy ist der Begriff für eine alternative Technologie demokratischer Machtausübung und nicht mit Liquid Feedback als einem Werkzeug zur Meinungsbildung zu verwechseln. Als Externer Link: neue Form der Demokratie, in der verschiedene "starre" Begrenzungen »verflüssigt« werden, soll Liquid Democracy die gegenwärtigen »zeitlichen«, »inhaltlichen« und »partizipatorischen« Fixierungen der (deutschen) Demokratie abschaffen oder zumindest abmildern. So soll Liquid Democracy feste Wahlperioden aufheben, die Bürgerinnen und Bürger gezielt über einzelne Gesetze anstatt nur über von den Parteien vermittelte "Komplettlösungen" entscheiden lassen und ihnen ermöglichen, sich an der Entstehung der Gesetzestexte zu beteiligen.

Der Katalysator dieser Verflüssigung ist das "Delegate Voting", das allen Bürgerinnen und Bürgern immer wieder neu zu wählen erlaubt, ob sie in einer bestimmten Frage selbst abstimmen oder lieber einen Repräsentanten festlegen, der in dieser – aber eben auch nur in dieser – Frage für sie entscheidet. Liquid Democracy hebt insofern die Externer Link: bisherige Trennung zwischen repräsentativ-demokratischen Entscheidungen und direktdemokratischen Entscheidungen [auf].

Aus radikaldemokratischer Perspektive, in der Demokratie als grundlose Herrschaft verstanden wird, weil jede und jeder mit gleichem Recht herrschen kann, ohne dafür durch Reichtum, Abstammung oder Wissen qualifiziert sein zu müssen, lässt sich Liquid Democracy als alternative Versöhnungstechnologie begreifen, die die demokratische Spaltung erträglich machen will. "Demokratische Spaltung" meint dabei, dass die Demokratie notwendigerweise immer wieder Regierende von Regierten unterscheiden muss (sonst wäre sie keine kratie, keine Herrschaft), ohne auf einen festen Grund für diese Teilung zurückgreifen zu können (sonst wäre sie nicht die Herrschaft aller, sondern der Reichen oder der Besten). Der gegenwärtig eingespielte Mechanismus für diese Spaltung ist die freie und geheime Wahl in regelmäßigen Intervallen: Zumindest auf der konzeptuellen Ebene steht es hier allen Bürgerinnen und Bürgern frei, sich aufstellen und wählen zu lassen, um so von den Regierten zu den Regierenden zu wechseln. (Ein anderes, historisch einflussreiches Mittel war das Los.)

Die demokratische Spaltung macht Versöhnungstechnologien nötig, um den auf Seiten der Regierten gelandeten Bürger_innen eine Interpretation ihrer Lage anzubieten, die es ihnen rational als auch affektiv erlaubt, ihre momentane Unterworfenheit zu akzeptieren. Liquid Democracy ist dafür eine verführerisch einfache Technologie: Weil die demokratische Spaltung ständig erneuert wird, lassen sich die Regierten mit dem Hinweis auf sofortige Wiederholung vertrösten: Jetzt und in dieser Frage magst Du zu den Regierten gehören, dann und in jener Frage aber wirst Du regieren.

Die aktuell genutzte demokratische Versöhnungstechnologie der Repräsentation verfährt anders; sie verspricht den Regierten neben der Wiederholung eine "stellvertretende" Anwesenheit unter den Regierenden, konkret in Gestalt der Opposition. Ob man Repräsentation nun als Anwesenheit der Abwesenden, als ihre Stellvertretung oder als Verdopplung bestimmt, sie ist eine Akzeptanzmaschinerie, die den Regierten erlauben soll, friedlich abwarten zu können, bis die demokratische Spaltung erneuert und ihnen damit eine Chance auf den Positionswechsel geboten wird. Je fester dieser Umgang mit der demokratischen Spaltung allerdings etabliert ist, desto seltener muss die demokratische Spaltung erneuert werden und desto stärker ist die Gefahr, dass sich die beiden Pole der demokratischen Spaltung zur Oligarchie verfestigen. Diese Perspektive erklärt, warum die Verflüssigung der demokratischen Spaltung so attraktiv ist: Als alternative Versöhnungstechnologie mutet sie den Regierten weniger zu als die Repräsentation, muss keine fiktive Anwesenheit oder eine stets bezweifelbare Stellvertretung versprechen, sondern kann die fortwährende Chance auf einen sofortigen Positionswechsel anbieten. Der Preis, den sie dafür zahlt, ist die Aufhebung der demokratischen Spaltung. Die Liquid Democracy individualisiert und dynamisiert, bis sie verschwimmt. Als »neues Betriebssystem« der Politik führt Liquid Democracy so zu einer demokratischen Machtausübung, die zu jeder Zeit mit dem zählbaren Volkswillen übereinstimmt: eine totale Identität der Gesellschaft mit ihren Herrschaft ausübenden Institutionen, die die für demokratische Politik notwendige Spannung der grundlosen Spaltung zugunsten einer postdemokratischen Verwaltung abschafft.

Beide Versöhnungstechnologien haben also ihre spezifischen Gefahren: Verflüssigt Liquid Democracy die demokratische Spaltung, bis sie zur Interner Link: Postdemokratie verschwimmt und in einer Herrschaft mündet, die ihren Herrschaftscharakter verschleiert, verfestigt Repräsentation die demokratische Spaltung bis zur Oligarchie. Konstruktiv gewendet, ist das eine Aufforderung, neue Versöhnungstechnologien zu erfinden, die die demokratische Spaltung in Regierende und Regierte respektieren, sie für die jeweils Unterlegenen akzeptabel machen, aber die Versöhnungstechnologie selbst der demokratischen Gestaltung nicht entziehen. Demokratische Versöhnungstechnologien müssten mit der grundlosen Spaltung in Regierte und Regierende spielen: sich mit ihr befreunden, ohne sie abschaffen zu wollen, sie gestalten, ohne sie zu verlieren.

Der Text ist eine stark gekürzte Fassung meines Artikels Interner Link: Flüssige Betriebssysteme in Aus Politik und Zeitgeschichte 2012/48.

Frieder Vogelmann

Frieder Vogelmann ist Philosoph und Politikwissenschaftler. Zunächst studierte er Philosophie, Mathematik und Kognitionswissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, schrieb dann seine Dissertation zum Thema "Im Bann der Verantwortung" an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Aktuell ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien in Bremen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Martin Nonhoff, Demokratisches Verfahren und politische Wahrheitsproduktion. Eine radikaldemokratische Kritik der direkten Demokratie, in: Hubertus Buchstein (Hrsg.), Die Versprechen der Demokratie, Baden-Baden 2013.

  2. Vgl. den "Vertröstungseffekt" periodischer Wahlen bei Claus Offe, Politische Legitimation durch Mehrheitsentscheidung?, in: ders., Herausforderungen der Demokratie, Frankfurt a. M./New York 2003, S. 66.

  3. Vgl. Frieder Vogelmann, Der Traum der Transparenz. Neue alte Betriebssysteme, in: Christoph Bieber/Claus Leggewie (Hrsg.), Unter Piraten, Bielefeld 2012.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Frieder Vogelman für bpb.de

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Frieder Vogelmann ist Philosoph und Politikwissenschaftler. Zunächst er studierte Philosophie, Mathematik und Kognitionswissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, schrieb dann seine Dissertation zum Thema "Im Bann der Verantwortung" an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Aktuell ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien in Bremen.