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"Vernichten oder aufbewahren?" - Stasiakten als politische Zeitbombe | Kontraste - Auf den Spuren einer Diktatur | bpb.de

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"Vernichten oder aufbewahren?" - Stasiakten als politische Zeitbombe Sendung vom 3. März 1990

/ 7 Minuten zu lesen

Hier finden Sie das Sendungsmanuskript zum "Kontraste"-Beitrag vom 3. März 1990.

Magnetplattenspeicher aus dem zentralen Computer der Stasi. Darauf gespeichert: die Daten von Millionen Bürgern. KONTRASTE ist Zeuge ihrer Vernichtung letzten Freitag in Ostberlin.

Die elektronischen Datenträger enthielten Informationen über alle Mitarbeiter der Stasi, ihre Spitzel und ihre Opfer.

Die Metallteile werden aufbereitet und später zu Löffeln oder Kochtöpfen umgeschmolzen. Aus dem Plastik der Datenträger sollen Einkaufsnetze werden.

Auf Vorschlag des „Runden Tisches“ beschloss der DDR-Ministerrat schon am 26. Februar die Vernichtung aller magnetischen Datenträger der Stasi mit personenbezogenen Daten. Dieser Beschluss – bestätigt von Ministerpräsident Modrow – wurde in der Öffentlichkeit kaum bekannt.

Vor der schnellen Vernichtung der Computerdaten gab es keine umfangreichen Einblicke und Kontrollen darüber, was da eigentlich alles unwiderruflich zerstört wird. Dem Bürgerkomitee, das die Stasi-Auflösung begleitet, bleibt vieles unklar. Rainer Schmidt, Informatiker

„Es kostet mit Sicherheit einiges an Aufwand, selbst mit Unterstützung, falls die vorhanden gewesen wäre, von Systemen, Programmierern des ehemaligen Amtes, sich darin einzuarbeiten. ... das soll es auch.“

Frage: „Das heißt, was man jetzt vernichtet, kann es sein, dass Programme vernichtet werden, die gar nicht bekannt sind?“

„Das ist natürlich möglich.“

Der Großrechner in der Ostberliner Stasi-Zentrale. Was war hier gespeichert? Bei der Vernichtung verließ sich die von Hans Modrow eingesetzte Regierungskomission ganz auf Spezialisten aus dem DDR-Innenministerium, diese wiederum stützten sich auf die technischen Unterlagen und Versicherungen der alten Stasi-Mitarbeiter. Das Rechenzentrum selbst steht seit Mitte Januar still. KONTRASTE erfuhr, dass in den letzten Wochen davor das Innenministerium sich noch Tausende von angeblich polizeirelevanten Daten herauskopierte.

Ein ehemaliger Verantwortlicher des Stasi-Rechenzentrums, den wir noch treffen, wird vom Bürgerkomitee befragt:

Rainer Schmidt, Informatiker

Frage: „Das heißt also, Sie waren zwar der System-Verantwortliche, aber es gab jemanden, der...“

„Es gab mehrere, mehrere Abstufungen der Systemverantwortlichen. Und das System ist so aufgebaut, dass also bestimmte Grenzen drin sind. Man kann also nicht überall drinnen rumrühren, reingucken und so weiter.“

Viele Mitglieder von Bürgerkomitee und der Arbeitsgruppe Sicherheit des „Runden Tisches“, den Gremien also, die der Vernichtung mehrheitlich zugestimmt hatten, bekommen das Rechenzentrum vor wenigen Tagen überhaupt das erste Mal zu sehen. Doch Einblicke in die Datenträger gab es nicht mehr.

Fritz Peter, Regierungsbeauftragter

„Wir sind dabei, die magnetischen Datenträger zu löschen und sie der physischen Vernichtung zuzuführen.“

Frage: „Woran haben Sie erkannt, dass die elektronischen Datenträger überflüssig sind?“

„Unsere Experten, die in der Arbeitsgruppe Informatik wirken, haben festgestellt, dass die Daten, die auf den magnetischen Datenträgern enthalten sind, mindestens noch auf Karteien und Akten drei- bis viermal vorhanden sind.“

Daran sind Zweifel angebracht. Ein umfassender direkter Vergleich zwischen elektronischen Daten und schriftlichen Akten hat nicht stattgefunden. Die Informatiker des Bürgerkomitees in der Ostberliner Stasi-Zentrale Normannenstraße haben nur Einblicke in einige zufällig gefundene Computerdisketten.

Hier eine Auftragsliste für Observierungen, die bis Anfang Januar reichte.

Viele schriftliche Akten wurden vernichtet – welche, weiß keiner. Vor allem in den Stasi-Bezirks- und Kreisämtern, aber auch in der Ostberliner Zentrale und ihren Außenabteilungen – bis auf den heutigen Tag.

Thomas Heise, AG-Sicherheit/Runder Tisch

„Die Befehle sind schon gelaufen. Es ist also raus, es wird nichts vernichtet. Du kommst hin, und der Hexler, als der die Akten vernichtet, der ist, also, kochendwarm. Weil er gerade den Stecker rausgezogen hat. Und da sind wir zum Beispiel ganz offensichtlich verladen worden.“

Die Bürgerkomitees waren nach dem Sturm auf die Stasi Mitte Januar eigentlich gerade dazu angetreten, die Vernichtung von Akten zu verhindern. Doch die genaue Kontrolle ist kaum möglich. Wir selbst wurden bei unseren Dreharbeiten immer wieder Zeuge von unkontrollierten Aktentransporten. In diesem Fall wollten ehemalige Stasi-Mitarbeiter, die in großer Zahl noch auf dem Gelände sind, die Akten der Spionageabwehr alleine umladen – ohne Bürgerkomitee.

Ein anderer Vorgang auf dem Stasi-Gelände, am Hintereingang eines Gebäudes, zu dem wir mit unseren Kameras keinen Zutritt bekamen:

Fritz Peter, Regierungsbeauftragter

„Dann haben wir immer wieder festgestellt, dass weder Bürgerkomitee noch Arbeitsgruppen Sicherheit noch Regierungsbeauftragte den Überblick überhaupt haben über Informationen, über Daten. Und jetzt wird einfach vernichtet.“

Frage: „Sie haben festgestellt, dass es keinen Überblick gibt über Daten?“

„Da muss ich mit einer Gegenfrage antworten. Wir – und das darf ich auch sagen, betrifft mich persönlich – haben bei Beginn unserer Tätigkeit hier noch keine rechte Vorstellung gehabt, was uns bei der Auflösung eines solchen Amtes erwartet. Viele dieser zentralen Diensteinheiten hatten, haben ein solches Ausmaß und eine solche Verzweigung, dass das nicht sofort möglich ist, alle diese Verzweigungen zu durchschauen. Und da wird schon noch eine Zeit vergehen, ehe die Offenlegung all dieser Strukturen und Einzelheiten erfolgt ist. Dass sie erfolgen muss, das, glaube ich, ist unzweifelhaft.“

Frage: „Aber warum wird dann schon jetzt vernichtet?“

„Sie kommen immer wieder zu der gleichen Frage zurück. Wir vernichten gegenwärtig lediglich diese magnetischen Datenträger.“

Doch dabei allein soll es nicht bleiben. KONTRASTE liegt das Protokoll einer Beratung von Vertretern der DDR-Bürgerkomitees und den Beauftragten der Regierung Modrow vor. Ein Drei-Stufen-Plan. Nach der Vernichtung elektronischer Daten sollen die Verzweigungen der Personaldaten beseitigt werden, um den Zugriff zu erschweren.

Als dritte Stufe des Plans soll die vollständige Vernichtung des personengebundenen Materials auf entsprechenden Beschluss erfolgen.

Es gab schon eine Trendabstimmung FÜR diesen Plan.

Thomas Schmidt, Koordinator der DDR-Bürgerkomitees

Frage: „Nun bedeutet aber gerade die Aufarbeitung dieser Akten auch eine Aufarbeitung von DDR-Geschichte. Und diese würde man doch verhindern mit Vernichtung von Akten.“

„Ja, das ist richtig. Das bezieht sich jetzt auf den letzten Punkt ja dieses Stufenplans. Und diese ersten beiden Stufen sollten nach unserer Meinung auf alle Fälle erfolgen. Und – wie gesagt – bei der dritten Stufe zögere ich ja auch noch. Ich glaube, dass das eben eine Zeitbombe ist, die tickt.“

Es gibt auch andere Stimmen im Bürgerkomitee.

Raimar Fritsch, AG-Sicherheit/Runder Tisch

„Also, ich bin dafür, dass die Akten öffentlich gemacht werden, also das heißt, dass jeder seine Akte sich abholen kann. Meinetwegen zu einem bestimmten Zeitpunkt. Und wer die eben nicht haben will, der holt sie nicht ab. Aber dass auch dadurch, gerade durch diese Öffentlichkeit so eine Bewältigung erreicht wird. Also, ein Geheimdienst ist geheim und man kann ihn wirklich nur auflösen, wenn das alles offengelegt wird. Und in dem Moment, wo Sachen wieder unter Verschluss gehalten werden oder wo sich auch im Prinzip Bürgerkomitees anmaßen, über solche Sachen zu entscheiden, die eigentlich auch für mich nicht, die sind nicht demokratisch gewählt oder was. Die haben doch eigentlich nicht so die richtige Befugnis, darüber zu entscheiden, meiner Meinung nach. Da wird man mit dieser Vergangenheit nie fertig werden. Da werden dann weiße Flecken durch andere weiße Flecken in der Geschichte wieder ersetzt.“

Hier im Haus B in der Normannenstraße liegen die meisten noch vorhandenen Akten. Hier war auch der Zentralcomputer. Hier sind Herz und Hirn des Geheimdienstes, um die sich der ganze Apparat mit seinen 200.000 Mitarbeitern gedreht hat. Beim Sturm auf die Stasi Mitte Januar ist niemand bis hierher vorgedrungen. Hier wurde noch nie von einem westlichen Kamerateam gefilmt.

Wir begleiten eine Gruppe von Bürgerkomitees und Regierungskommission.

Ehemalige Stasi-Archivare zeigen uns den komplizierten Weg, wie eine Akte zu finden ist.

Zuerst geht es in die zentrale Personenfindungskartei, in der Bürger mit ihrem richtigen Namen erfasst sind.

Dieser Raum umfasst lediglich Karteikarten von A bis k. Jede Karte hat eine Schlüsselnummer. Wir wollen es am eigenen Beispiel sehen. So wird die Nummer von KONTRASTE-Autor Roland Jahn notiert. Mit dieser Nummer geht es zur nächsten, gesonderten Kartei in einem anderen Stockwerk, zu der die Archivare der ersten Kartei keinen Zutritt hatten.

Hier findet sich unter der Nummer eine Karteikarte, die nur noch einen Stasi- Decknamen des bespitzelten Bürgers trägt. Nicht nur die Spitzel, auch jedes Opfer erhielt einen Decknamen. Zwei Akten Jahns liegen laut dieser Kartei in der Bezirksverwaltung Gera. Jahn stammt aus Jena und ist vor 7 Jahren ausgebürgert worden.

Uns fallen offensichtliche Manipulationen an dieser Kartei auf:

„Was hier fehlt, sind vom Ministerium alle aktiven Vorgänge. Die sind aus Gründen des Quellenschutzes hier rausgenommen worden.“

‚Aktive Vorgänge‘ – das sind alle, die noch in den Stasi-Abteilungen verstreut bis zuletzt in Arbeit waren. Stasi-Mitarbeiter haben diese Teile der Kartei herausgenommen und an einen versteckten Ort ins Archiv gebracht.

Über Roland Jahn gibt es mehrere Aktenteile, sogenannte ‚Vorgänge‘.

„Ja, das ist auch ein laufender Untersuchungsvorgang für die gleiche Diensteinheit. Das ist erkennbar.“

Was von diesem Aktenmaterial in der Abteilung beim Ausräumen übrigblieb, liegt jetzt ungeordnet in den Regalen. Hier ist es nicht möglich, schnell etwas zu finden. Keiner weiß, was überhaupt noch da ist. Nur ein Vorgang Jahn ist auffindbar.

Noch unter der Regierung Modrow wurde diese Akte fortgeführt beim Stasi- Nachfolger ‚Amt für Nationale Sicherheit‘, obwohl es öffentlich von der SEDRegierung hieß, niemand werde mehr bespitzelt.

„Der ist im Dezember archiviert worden.“

Frage: „Als Amt für nationale Sicherheit?“

„Ja.“

Westberlin, der Wohnort des KONTRASTE-Autors, wird in der Akte als ‚Operationsgebiet‘ bezeichnet. Bespitzelt wurde vor allem seine journalistische Tätigkeit.

Im Berichtszeitraum konnten weitere Hinweise zur journalistischen Tätigkeit des Jahn für die politische Magazine erarbeitet und dokumentiert werden. So soll Jahn ein eigenes Zimmer in der Redaktion des SFB haben. Mehrfach konnten Kontaktaufnahmen des Jahn aus dem SFB mit Verbindungspersonen festgestellt werden...

Folgende Aufträge wurden an Spitzel erteilt:

- Feststellung des Zeitrhythmus und Tagesablaufes, - Typische Verhaltensweisen und Reaktionen in besonderen Situationen, - Hinweise zum Privatleben, Kontakt zu seiner Tochter, zu Frauen, - Arbeitszeit und Benutzung von Verkehrswegen, - Einschätzung der Hausbewohner und ihre Stellung zu Jahn.

Objekt Wohnhaus des Jahn - Außen- und Innenaufnahmen wie Zugänge, Einfahrten, Klingel, Treppenaufgang, Hof....

Objekt Anlaufpunkt Café ‚Einstein‘ - Öffnungs- und Schließzeiten, Charakteristik des Publikums, Grundrissskizze, Inhaber, Pächter...

Schon der flüchtige Blick in diese Personen-Akte gibt einige Hinweise auf das unrechtmäßige vorgehen der Stasi. Was steht in den anderen Teilen der Akte? Was in den Oberservierungs- und Vollzugsberichten?

Wer waren die Verantwortlichen? Wer die Ausführenden? Von Wohnungseinbrüchen, Diebstahl von Post, Erpressungen, erzwungene Ausbürgerungen, Inhaftierungen und Verurteilungen?

Es gibt Millionen Akten.

40 Jahre DDR-Geschichte.

Mit freundlicher Genehmigung des Rundfunk Berlin-Brandenburg

Fussnoten