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Soldatische Kriegserfahrungen | Der Zweite Weltkrieg | bpb.de

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Soldatische Kriegserfahrungen Zwischen Langeweile und Enthemmung

Dr. habil. Jörg Echternkamp

/ 7 Minuten zu lesen

So unterschiedlich wie die Einsätze und Einsatzorte der Soldaten fallen auch ihre zu Papier gebrachten Erfahrungen aus. Gleichwohl kann man von typischen Erfahrungen oder übergreifenden Phänomen sprechen. Mit Langeweile und Enthemmung lassen sich zwei Extreme beschreiben, zwischen denen sich der militärische Alltag bewegte.

Abgekämpft: deutsche Soldaten in einer Kampfpause nach der alliierten Landung in der Normandie im Juni 1944. (© Bundesarchiv)

Krieg ist Kampf: Zumindest vermitteln uns diesen Eindruck bis heute die Bilder der nationalsozialistischen Propaganda. Wir sehen vorwärtsstürmende Infanteristen, hören Granateinschläge und riechen förmlich den Pulverdampf. Doch nicht jeder, der sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet hatte oder eingezogen worden war, verbrachte den Krieg ganz oder teilweise im Frontgebiet. (Dass es sich um ein Gebiet unterschiedlicher Tiefe handelt, verdecken die Begriffe "Front" und "Frontlinie" leicht.) Hunderttausende Soldaten dienten fernab der Kampfzone und der, wie es seit dem Ersten Weltkrieg hieß, Hauptkampflinie (HKL), an der gerade die wichtigsten Kämpfe tobten. Stattdessen warteten sie in Ersatzbataillonen auf ihren Einsatz oder waren zu sogenannten rückwärtigen Diensten im Versorgungsraum hinter der Front, in der "Etappe", eingesetzt. Im Soldatenjargon "Etappenhengste" genannt, kümmerten sie sich zum Beispiel um den Nachschub, um Verwaltungsangelegenheiten oder Instandsetzungsarbeiten. Von den Soldaten der Marine war sogar nur eine Minderheit an den Frontkämpfen beteiligt.

Wieder andere befanden sich zu einem Urlaubs- oder Lazarettaufenthalt im Reichsgebiet. Nicht zu unterschätzen ist schließlich die Mobilität der Truppe. Jeden Tag waren zahllose Wehrmachtangehörige auf Dienstreise unterwegs:

Reiter-Schwadron der Aufklärungs-Abteilung 157: Marschpause vor Rudki, nördliches Polen 1939. (© Bundesarchiv)

Sie befanden sich auf dem Weg in die Heimat, auf dem Rückmarsch zu ihrer Einheit oder wurden an einen neuen Frontabschnitt verlegt, etwa von der Ost- an die Westfront. Als die ersten Wehrmachtangehörigen dem Gegner in die Hände fielen, kam ein weiterer Erfahrungsraum hinzu: das Lagerleben als Kriegsgefangener im Gewahrsam der Alliierten, sei es in Großbritannien, den USA und Kanada, sei es in der Sowjetunion. Schließlich blieb jede Erfahrung ihrerseits von den jeweiligen Vorprägungen des Einzelnen, namentlich seinem Alter und seiner Herkunft, abhängig. All das wandelte sich im Kriegsverlauf erheblich. Kein Wunder, dass die Tagebücher, Feldpostbriefe und auch die Memoiren der Soldaten diese unterschiedlichen Erfahrungen widerspiegeln.

QuellentextAus dem Tagebuch Wilm Hosenfelds (Warschau)

Wilm Hosenfeld (1895-1952) war als Reserveoffizier bei der Oberfeldkommandantur in Warschau eingesetzt. Er rettete vermutlich 12 Polen und polnischen Juden das Leben. Bekannt wurde er später durch den Film "Der Pianist", in dem Roman Polański die Autobiographie Władysław Szpilmans (Der Pianist – Mein wunderbares Überleben) verfilmt. Vor dem Hintergrund der Einkesselung der 6. Armee bei Stalingrad und dem Rückzug des Afrika-Korps notierte er am 25. Januar 1943 das Folgende:

"[Warschau], 25. Januar 1943

Angesichts dieser Hiobsbotschaften ist es unbegreiflich, daß die Schandtaten gegen die polnische Bevölkerung sich eher noch steigern. Von ganz unglaublichen Vorgängen wird hier berichtet. In der Lubliner Gegend und bei Zamosc bei Krakau werden die Bauern aus ihren Dörfern vertrieben, Männer und Frauen in Lager verschickt, die alten Leute erschossen und die Kinder in Transportzügen irgendwohin verfrachtet. Im Alter von 2-14 Jahren verschleppt man sie. Ein solcher Zug kam dieser Tage durch Warschau. Auf dem Bahnhof Praga wurden die Wagen geöffnet. Ein großer Teil war verhungert und erfroren. Die Zivilbevölkerung stürmte die Wagen und wollte die Kinder retten und mit nach Hause nehmen. Das wurde aber verboten, die Wagen wurden geschlossen, und der Zug fuhr mit den unglücklichen Kindern, ohne daß man die Toten herausnahem, weiter. Er soll irgendwohin nach Deutschland verschleppt werden. Man fragt sich, ob die Menschen, die das befehlen, wahnsinnig sind. In W[arschau] werden wahre Menschenjagden abgehalten, auf der Straße, sogar in die Kirchen und Privatwohnungen dringt die Polizei ein und verhaftet wahllos, wer ihr in die Hände fällt. Niemand weiß, was mit den Opfern geschieht. Ob man glaubt, wir verlieren dien Krieg, und will die Zivilbevölkerung als Geiseln behalten, oder, wie ein Kamerad meint, es soll durch diese Schandtaten die Kluft und der Haß immer größer werden, daß es kein Zurück mehr für uns gibt als Vernichtungskampf bis zum letzten Mann."

Quelle: Thomas Vogel: "Ich versuche jeden zu retten". Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern, München 2004

Fußnoten

  1. Tatsächlich ließ der SS- und Polizeiführers des Distriktes Lublin, Odilo Globocnik, auf Befehl Himmlers mehr als 100.000 Bauern zwangsumsiedeln, um Platz für die Ansiedlung deutscher Kolonisten zu schaffen. Das Unternehmen scheiterte schließlich am wachsenden polnischen Widerstand. Die Bauern wurden in Auschwitz und Majdanek ermordet oder zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert; die Kinder kamen zur "Germanisierung" nach Deutschland.

QuellentextFeldpostbrief eines Soldaten aus Gotenhafen (Gdynia) an seine Frau und seinen Sohn im Frühjahr 1945. Der Brief wurde nicht mehr zugestellt.

"Gotenhafen, den 23. März 1945

Meine liebe Marie und Georg!

Will Dir heute auch mal wieder ein Brieflein zukommen lassen. Bin immer gesund, was ich von meinen Lieben auch hoffe. Bei uns ist es heute schön Wetter, man kann sich direkt sonnen. Ich sitze alleine in der Stube und habe Telephonwache, und somit habe ich Zeit zum Schreiben. Die Sonne scheint einem ganz warm auf den Rücken, und da soll man Krieg führen – [das] ist arg für einen. Weißt, jetzt fängt das schöne Frühjahr wieder an und ich in weiter Ferne im Ungewissen, da kommt das Heimweh erst recht. Und daheim ist alles voller Arbeit, wo [sic!] ich Euch abnehmen sollte. Voriges Jahr konnte ich nun noch alles säen und dieses Jahr müßt Ihr es alleine machen, und dazu hat man noch mehr zum Ansäen. Weißt, möchte gerne mal wieder in meine Gärten, wäre doch bestimmt vieles zum Richten. Aber alles muß ich Euch überlassen.

Wir haben genug noch zu essen, ich gebe immer noch ab an die arme Zivilbevölkerung. Weißt, man müßt mitansehen, wie so viele Haus und Hof haben müssen verlassen und wo genug zum Leben gehabt hätten [sic!], und jetzt haben sie kein Brot mehr. Der Krieg, das ist ein schweres Elend, und was er für Leid in die Familien bringt. Welche Familie bleibt da verschont?

Am Sonntag ist wieder der Palmsonntag, und voriges Jahr war man zu Hause in dieser Zeit. Der Kleine wird sich ja mächtig freuen auf den Osterhasen. Ich hätte ihm auch gerne etwas geschickt, aber [es] gehen ja keine Päckchen weg. Habe zwei Schachteln Schoko-Kola aufgespart und kann sie nicht wegschicken. Habe jetzt eine Schachtel verschenkt an kleine Kinder, weißt, wie die eine Freude hatten. Möchte nur meinen Liebling auch mal wieder sehen, der würde auch bestimmt eine Freude haben und nicht mehr weggehen von seinem Papa und vollends wenn er zu seiner Liesel darf und reiten. So wachsen die Kinder auf ohne ihren Vater, [es] ist eine schlechte Zeit. Der Nachbar B. ist auch gestorben. Vater schrieb es mir daneulich, so geht einer nach dem andern.

[…] Unserem Iwan seine Schlachtflugzeuge sind heute wieder schwer aktiv, Welle auf Welle kommt an und packen Ihre Sachen aus. Hoffentlich habt ihr nicht mehr soviel Alarm, damit ihr nur bei Nacht ruhig schlafen könnt, wenn man den ganzen Tag über draußen ist. Oder kommen sie zu Euch auch bei Tag?

Meine liebe Marie, wünsche Dir nur recht fröhliche und gesegnete Osterfeiertage. Habe Dir im letzten Brief 2 Bilder vom Kurland bei[ge]legt und lege heute wieder bei, hoffentlich bekommst Du sie, damit [Du] ein Andenken von mir hast. Haben uns in letzter Zeit noch einmal photografiert [sic!], aber können sie zur Zeit nicht entwi[c]keln lassen.

Will nun für heute schließen und hoffe, daß mein Brief Euch alle gesund antrifft, wie er mich verläßt.
Sei, meine liebe Marie und Georg, von Herzen tausendmal gegrüßt und geküßt von Deinem treuen Georg und Vater.

Auf Wiedersehn!"

Quelle: Jörg Echternkamp, Kriegsschauplatz Deutschland 1945. Leben in Angst – Hoffnung auf Frieden. Feldpost aus der Heimat und von der Front, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Paderborn 2006, S. 174f.

Gleichwohl kann man sinnvoll verallgemeinern, von jeweils typischen Erfahrungen sprechen oder übergreifende Phänomene betrachten. Mit Langeweile und Enthemmung lassen sich zwei Extreme beschreiben, zwischen denen der militärische Alltag sich bewegte. Auch wenn Militär in erster Linie für Aktion steht, löste die Routine militärischen Handelns schnell ein Gefühl der Langeweile aus, weil der Ernstfall wochen-, ja monatelang nicht eintrat. Der junge Heinrich Böll zum Beispiel langweilte sich als Soldat an der Westfront und im Ersatzbataillon entsetzlich, bevor er – endlich! – an die Ostfront verlegt wurde.

QuellentextAus den Briefen Heinrich Bölls an seine spätere Ehefrau

Heinrich Böll (1917-1985), nach einem Lazarettaufenthalt in Frankreich in einem Ersatzbatallion im Kölner Raum stationiert, klagt in Briefen an seine künftige Ehefrau Annemarie Cech über die Langeweile des Soldatenalltags und schwärmt – wenige Tage nach dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 – von einem Fronteinsatz im Osten.

"[Köln-]Mülheim, den 6. November 1940

Warten müssen ist doch das Schlimmste. Wir Soldaten empfinden es auch als das Furchtbarste. Wir warten immer auf irgendetwas, auf Versetzung, Einsatz, Urlaub, auf die Erfüllung oder Dementierung irgendeines Gerüchts, und wenn nicht auf eines von diesen Dingen, so warten wir doch letztlich immer auf unsere Entlassung. […] Oh, auf solche Dinge warten, die an sich gewiß sind, aber zeitlich nicht festgelegt, weißt Du, daß das die Hölle auf Erden ist. Wenn man doch irgendeine auch nur im geringsten interessante Beschäftigung hätte, eine Ablenkung, aber von 24 Stunden des Tages mindestens 16 seinen blödsinnigen Gedanken widmen können, das dürfte nicht sein. Ich kann auch gar nichts dazu tun, um irgendeine Funktion zu finden, die mich wenigstens beansprucht. So muß ich eben warten, warten. […]"

"Wesseling, den 29. Juni 1941

… auch am Soldatentum zieht mich dieses Absolutgestelltsein ungeheuer an, und es reizt mich geradezu; deshalb ist meine soldatische Sehnsucht wirklich, immer an der Front zu sein … gerade jetzt, wo wieder eine Offensive in Gang ist – und es muß doch herrlich sein, in diese unendliche Weite Rußlands vorzustoßen – ich leide maßlos darunter, so immer und immer den Krieg nur im Schatten nur in Schulen und Kasernen zu verleben und zum allergrößten Teil in dumpfen und dreckigen Stuben, wie ein in Ehren Gefangener, Du weißt es … […] das Leben an der Front (würde) mir lieber und erträglicher sein, trotzdem; es ist doch absoluter im Leid und in der Freude, verstehst du mich…"

Quelle: Heinrich Böll. Briefe aus dem Krieg 1939-1945, Bd. 1, hrsg. von Jochen Schubert, Köln 2001, S. 127 und S. 205.

Kameradschaft als Bedürfnis

Zu den soldatischen Erfahrungen des Krieges in Ost- und Südosteuropa dagegen gehörte die Enthemmung. Diese "Brutalisierung" hatte nicht eine Ursache, sondern lässt sich nur durch ein Bündel von Motiven und Umständen erklären, die Wissenschaftler/innen unterschiedlich gewichten. Die gesteigerte Gewaltbereitschaft hing damit zusammen, dass sich der Krieg im Osten von einem Bewegungs- zu einem Stellungskrieg wandelte, bevor er in einem verzweifelten Rückzugskrieg endete. Der Landser musste unter immer primitiveren Mitteln gegen einen moderner ausgerüsteten Feind um sein Überleben kämpfen. Diese "Entmodernisierung" (Bartov) habe die Brutalisierung ebenso vorangetrieben wie die Auflösung der Gruppensolidarität. Die millionenfachen Verluste zerstörten den ursprünglichen Gruppengeist der

Bekanntmachung über die standrechtliche Erschießung von vier Deserteuren in Kahlberg im Februar 1945. (© Bildarchiv preußischer Kulturbesitz)

sogenannten Primärgruppen und ließen den einzelnen Soldaten vereinsamen und verzweifeln. Die Militärjustiz drohte mit drakonischen Strafen – am Ende setzte das Regime fliegende Standgerichte ein –, denen bis zu 15.000 Männer zum Opfer fielen (im Ersten Weltkrieg waren es gerade einmal 58!). Diese rigide Disziplinierung habe, so lautet eine Vermutung, deshalb funktionieren können, weil man gleichzeitig die Zügel beim Verhalten gegenüber dem Gegner gelockert und Disziplinlosigkeit zugelassen habe, insbesondere bei der Partisanenbekämpfung. Die Mischung von Terror und Motivation hat, darauf deuten Interviewprotokolle hin, auch die Soldaten der Roten Armee angetrieben, die bei Stalingrad ihre Heimat verteidigten.

Zu den Erfahrungen, die den Brutalisierungsprozess auf deutscher Seite vorangetrieben haben, gehört schließlich eine verzerrte, von der NS-Ideologie beeinflusste Verzerrung der Wahrnehmung: Deutsche Soldaten sahen sich angesichts des Elends der Menschen in der Sowjetunion in ihrer Auffassung bestätigt, es mit "Untermenschen" zu tun zu haben. Wie ein Großteil der Zivilbevölkerung auch, glaubten sie lange an den "Hitler-Mythos" (vgl. Ian Kershaw) und waren gewiss, dass der Führer sie schon retten würde. Sie fühlten sich schließlich als Opfer, nicht als Täter. Doch welche Rolle genau spielte die NS-Ideologie für das enthemmte Verhalten auch gegenüber Zivilisten und Kriegsgefangenen? In der privaten Feldpost und auch in den Stimmungsberichten, die das NS-Regime für die Truppe erstellen ließ, finden sich nationalsozialistische Deutungen und Versatzstücke der Goebbels-Propaganda eher selten. Wo sie auftauchten, bleibt noch die Frage, inwieweit sie über Lippenbekenntnisse hinausreichten und tatsächlich das Handeln der Soldaten radikalisierten. Brauchte es die ideologische Rechtfertigung überhaupt?

Quellentext"...heitere Erlebnisse aus den Feldzügen dieses Kriegs"

Die Sonderveröffentlichung des Völkischen Beobachters von 1943, von dessen Schriftleiter Wilhelm Utermann 1943 herausgegeben, ging auf ein Preisausschreiben des VB zurück. "Es wurden heitere Erlebnisse aus den Feldzügen dieses Kriegs gesucht.

Der Band war mit einer Auflage von 2,6 Millionen Exemplaren ein Bestseller im "Dritten Reich".

Scherzworte von Kameraden, die in einer gefährlichen oder ernsten Situation durch ihren Humor die Stimmung wieder aufbügelten.", hieß es in der Einleitung.

"Er weiß Rat!

38 Grad Kälte an der Abwehrfront im Osten. Die Bauneröfchen in der Feuerstellung spendeten wohltuende Wärme. Der vorgeschobene Beobachter funkt: "Feuerkommando! – Feindliche Panzer! – Eile geboten!"

Alles läuft an die Geschütze und legt die Muniton fertig. Und dann wartet alles, trampelnd und händeklopfend, und ob des eisigen Windes fluchtend. Es vergehen fünf Minuten, Es vergehen zehn Minuten. Ohne ein Kommando, ohne einen Schuß. Es vergehen fünf Minuten. "Feuerpause!" – Furchtbar wütend und schimpfend tarnen die vermummten Kanoniere die Geschütze wieder und bewegen sich zum Bunker zurück. Sie knurren von Blödsinn, Quatsch und Schikanen. Alles knurrt. Nur Schmidt-Sandbank vom Rhein meint: "Der Panzer hätt ´ne Radpann´. Solln mer ne Luftpump hinbringen? Dann kütt jä!"

Alles lacht herzhaft und die Stimmung hat wieder ihr Gleichgewicht.

Wm. [Wachtmeister] Teipel"

"Das Fräulein Nummer!

Februar 1942. Ein Regiment der Waffen-SS [i.O. Sigrune], das schon monatelang den eisernen Ring um Leningrad hält, gibt einen bunten Nachmittag. […] Die schnittige Regimentskappel spielt den Eröffnungsmarsch, und dann betritt der Ansager die Rampe. Er begrüßt den mit Soldaten überfüllten Saal, die zumeist nur für wenige Tage aus den vorderten Linien abgelöst sind. In seiner Ansprache erwähnt er, daß alle Darbietungen von Soldaten für Soldaten gegeben würden. Unter großen Anstrengungen sei es ihm aber gelungen, einige weibliche Kräfte zu engagieren. Mit einer Blickwendung nach links ruft er laut "Fräulein Käthe!". Verheißungsvoll fligen mehrere hundert Augenpaare dorthin, wo eine mit Papier verhängte Türöffnung sichtbar ist. Und schon betritt eine Fee, mit allen weiblichen Reizen ausgestattet, die Rampe. Das Fräulein Nummer. Mit graziösen Bewegungen schreitet sie über die Rampe zur anderen Seite. Da ertönt plötzlich aus den Reihen der Landser, die sich am schnellsten von dem ungewohnten Anblick einer leichtbekleideten Frau erholt hatten, eine Stimme: "Fräulein Käthe, heute abend 8 Uhr am Eingang!" Schlafartig antwortet darauf das Fräulein Nummer mit tiefer Baßstimme: "Niet panemeio." (Ich verstehe nicht.)

Das Gelächter und der Applaus aller Anwesenden einschließlich des Generals nahm orkanartige Formen an. Die furchtbaren Kämpfe und Entbehrungen, sowie die mörderische Kälte des russischen Winters haben dem Landser den Humor nicht nehmen können."

Ogefr. [Obergefreiter] Rudi Bakenecker"

VG-Feldpost (Hg.), Darüber lache ich heute noch – Soldaten erzählen heitere Erlebnisse, Berlin 1943, Zitate S. 10 (Teipel), 45f. (Bakenecker)

Verpflegungsstärken der Kriegswehrmacht am 1.9.1943. Interner Link: Hier finden Sie die Grafik als hochauflösende PDF-Datei. (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Allerdings wurden 1944/45 immer häufiger jüngere Männer an die Front geschickt, die sämtliche Erziehungsinstanzen des NS-Regimes durchlaufen hatten. Sie glaubten an ihren "Führer" und fühlten sich ihm verpflichtet. Für sie war klar: Ein Zusammenbruch wie 1918 durfte sich nicht wiederholen. Eine Kollektivbiografie der Mannschaften und Unteroffiziere der 253. Infanteriedivision, die während des Ostfeldzuges an der Ostfront eingesetzt war, hat beispielhaft gezeigt, dass die 18- bis 28-jährigen Männer, die 1939 einberufen wurden, ein nationalsozialistisches Bild des Krieges im Kopf hatten, als sie ihren Marschbefehl erhielten. Rassistische Feindbilder und völkische Vorstellungen von Lebensraumeroberung wirkten zumindest im Hintergrund, auch wenn in der besonderen Situation andere Faktoren das konkrete Handeln und Deuten motiviert haben. Wie sehr sich manche Soldaten mit dem NS-Regime identifizierten, zeigte sich nicht zuletzt in den Kriegsgefangenenlagern im Ausland, wo zweifelnde Kameraden von Überzeugungstätern unter Druck gesetzt wurden.

Soldaten verarbeiteten ihre Eindrücke im konkreten Einsatzraum anhand ihres kulturellen Vorwissens, das nicht spezifisch nationalsozialistisch war. Zum einen gehörte dazu die Vorstellung von "Kameradschaft" als einem soldatischen Idealbild. Diese Vorstellung war deshalb so erfolgreich, weil sie die verschiedenen Erfahrungen, Einstellungen und Weltsichten des einzelnen Soldaten nicht als trennende Faktoren begriff, sondern integrierte. Das Kameradschaftskonzept gründete auf einer tief verankerten Tradition. Vor allem die nationalistischen Kriegervereine hatten nach 1918 das Bild einer egalitären Gemeinschaft von Kameraden gepflegt, das im "Kriegserlebnis" des Ersten Weltkriegs gründete. Kameradschaft gab dem Soldatentod einen Sinn, ohne vom eigenen aktiven Töten zu reden. Als Kameraden bildeten Soldaten vor allem eine Leidensgemeinschaft, in der das christliche Motiv des Leidens für die Gemeinschaft eine wichtige Rolle spielte. Fürsorge und Trost gehörten zu dieser militärischen Kultur ebenso wie Komplizenschaft und Verschwiegenheit angesichts der Verbrechen im Krieg.

Sozialer Zwang war die Kehrseite der sozialen Geborgenheit in der Gemeinschaft im Zeichen der Kameradschaft. Eins hatte sich nach 1918 gezeigt: Auch wenn die Soldaten aus einem verlorenen Krieg heimkehrten, konnten sie nur "mitreden", wenn sie am Fronterlebnis teilgehabt und durchgehalten hatten. Ansonsten drohten vorwurfsvolle Blicke. Zwar beugten sich längst nicht alle dieser "Moral des Mitmachens" (vgl. Thomas Kühne), doch dem Außenseiter in dieser Zwangsgemeinschaft waren enge Grenzen gesetzt – in welche Nische hätte er auch flüchten können? Geteilte Scham und der Druck, nur nicht aufzufallen, stärkten eine Gruppendynamik, die vor Denunziation schützte. Für die jüngeren Soldaten bot die Kameradschaft, einschließlich der geteilten Erfahrung von Drill und Todesgefahr, von exzessivem Trinken und Bordellbesuchen, zudem die Möglichkeit, in die Männerwelt eingeführt zu werden.

Funkgerät in der Instandsetzung, 1943 (© Bundesarchiv)

Auch das Pflichtgefühl, das die Masse der Soldaten verinnerlicht hatte, lässt sich in diesem Zusammenhang als ein militärischer Wert verstehen, der nicht an einen ideologischen Inhalt gekoppelt war. Seine Pflicht zu tun und dafür bereit zu sein, auch Wehrlose zu töten, schien den meisten als Soldaten so lange legitim, wenn nicht selbstverständlich, wie die vollständige militärische Niederlage nicht offenkundig und jedes weitere Opfer sinnlos wurde.

Zum anderen zählten zum kulturellen Gewissen die Wertvorstellungen "Reinlichkeit" und "Ordnung". Immer wieder schildern die Briefe der Soldaten das Erlebte mit dem Gegensatzpaar von Sauberkeit und Schmutz. Ihre gesteigerte Gewaltbereitschaft lässt sich daher auch mit einem Überlegenheitsgefühl erklären, das mindestens auf die Zeit des Ersten Weltkriegs zurückging: Die Landser deuteten die Unterschiede, die sie zwischen Deutschland und "dem Osten" beobachteten, als ein durch eigene Erfahrungen vor Ort bestätigtes Kulturgefälle, das sie wiederum in den Begriffen von Reinlichkeit fassten. Der Gegner galt als schmutziger Barbar, der den "sauberen", kulturell höher stehenden Deutschen zu "infizieren" drohte. Der Krieg bestätigte und radikalisierte die negativen Feindbilder der Soldaten. Die Rede von Ordnung und Sauberkeit haben dem Töten einen (zusätzlichen) Sinn gegeben und insofern das Verbrechen erleichtert. Das erklärt die Kaltschnäuzigkeit, mit der (heimlich abgehörte) Kriegsgefangene über das Töten von Zivilisten redeten. Sicher, Reinlichkeits- und Ordnungsvorstellungen waren ebenso wenig wie das Kameradschaftsideal nicht die Ursache für die Beteiligung am Vernichtungskrieg. Aber sie gehörten zu jenen kollektiven, vom Nationalsozialismus aufgegriffenen Deutungsmustern, die im Zusammenspiel mit den persönlichen Erfahrungen immer wieder zur Enthemmung führten.

Ausgewählte Literatur:

  • Omer Bartov, Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges, Reinbek 1995.

  • Veit Didczuneit, Jens Ebert und Thomas Jander (Hrsg.), Schreiben im Krieg - Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Essen 2011.

  • Jörg Echternkamp, Kriegsschauplatz Deutschland 1945. Leben in Angst – Hoffnung auf Frieden. Feldpost aus der Heimat und von der Front, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Paderborn 2006.

  • Stephen G. Fritz, Frontsoldaten. The German soldier in World War II, Lexington/Ky 1995.

  • Jochen Hellbeck, Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht, Frankfurt am Main 2012.

  • Michaela Kipp, "Großreinemachen im Osten". Feindbilder in deutschen Feldpostbriefen im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt am Main 2014.

  • Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006.

  • Andreas Kunz, Wehrmacht und Niederlage. Die bewaffnete Macht in der Schlussphase der nationalsozialistischen Herrschaft zwischen Sommer 1944 und Frühjahr 1945, München 2005.

  • Sönke Neitzel und Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt am Main 2011.

  • Christoph Rass, "Menschenmaterial". Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer Infanteriedivision 1939-1945, Paderborn 2003.

  • Rafael A. Zagovec, Gespräche mit der Volksgemeinschaft, in: Jörg Echternkamp (Hg.), Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939-1945: Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung, Stuttgart 2005 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/2).

  • John Zimmermann, Pflicht zum Untergang. Die deutsche Kriegführung im Westen des Reiches 1944/45, Paderborn 2009.

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Dr. habil. Jörg Echternkamp, geboren 1963, ist Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Projektbereichsleiter am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw), vormals Militärgeschichtliches Forschungsamt (MGFA), in Potsdam. Er hatte zahlreiche Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland; 2012/13 war er Inhaber der Alfred-Grosser-Gastprofessur am Institut d'Études Politiques (Sciences Po) in Paris. Echternkamp forscht und lehrt zur deutschen und europäischen Geschichte vom 18. zum 21. Jahrhundert; Schwerpunkte bilden derzeit die Gesellschafts- und Erinnerungsgeschichte der Weltkriege, der NS-Zeit und der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zu seinen Publikationen zählen: (Hg.) Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/1-2: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939-1945 (München 2004/2005; engl. Oxford 2008/2014), Die 101 wichtigsten Fragen: Der Zweite Weltkrieg, München 2010, Militär in Deutschland und Frankreich 1870-2010, Paderborn 2011 (hg. mit S. Martens), München 2012; Experience and Memory. The Second World War in Europe, Oxford 2010/2013 (hg. mit S. Martens); (Hg.), Wege aus dem Krieg im 19. und 20. Jahrhundert, Freiburg 2012; Die Bundesrepublik Deutschland 1945/49-1969, Paderborn 2013; Gefallenengedenken im globalen Vergleich (hg. mit M. Hettling), München 2013; Soldaten im Nachkrieg 1945-1955, München 2014.