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Wie funktionierte das Alte Reich? | Reformation: Luthers Thesen und die Folgen | bpb.de

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Wie funktionierte das Alte Reich? Die politischen Rahmenbedingungen

Axel Gotthard

/ 6 Minuten zu lesen

Ewiger Landfrieden, Reichskreise, Reichstag: Um 1500 bekam das "Alte Reich" in vielerlei Hinsicht neue Gestalt. Als System zwischen Staatenbund und Bundesstaat prägte das Reich der frühen Neuzeit ein Föderalismus, der es bis heute überdauert hat.

Sitzung des Reichtages in Regensburg unter Kaiser Ferdinand I. (1556-64). Radierung von Jost Amman (1539-1591). (© picture-alliance/akg)

Als Luthers Thesen Furore machten, hatte der Reichsverband gerade einen enormen Verdichtungsschub erfahren. Das Gehäuse der vormodernen deutschen Geschichte, das Heilige Römische Reich deutscher Nation (im Folgenden kürzer: Altes Reich), bekam in den Jahren um 1500 jenes institutionelle Gerüst, das es danach, in den Grundzügen unverändert, bis 1806 tragen wird. Diese Zeit der "Reichsreform" ist die Formationsphase für alle wichtigen Reichsorgane außer dem Kaisertum: also für Reichstag, Reichskreise, Reichsgerichte; der Ewige Landfrieden wurde in dieser Sattelzeit verkündet, zwei Jahre nach der Publikation der Lutherschen Thesen wird die erste Wahlkapitulation formuliert. Offenkundig hob damals auch verfassungsgeschichtlich Neuzeit an!

Der Ewige Landfrieden von 1495 sprach das unbefristete Verbot der Fehde aus. Modern formuliert postulierte er das staatliche Gewaltmonopol. Wer sich geschädigt sah, hatte, anstatt dem vermeintlichen Schurken den Fehdehandschuh hinzuwerfen, ein Gericht anzurufen. An die Stelle der Selbsthilfe trat der Rechtsweg. Auch deshalb wurde im selben Jahr 1495 beschlossen, ein oberstes Reichsgericht zu installieren: das zunächst in Speyer, später in Wetzlar tagende Kammergericht. Erstinstanzlich sollte es – angesichts des Entstehungszusammenhangs wenig überraschend – Landfriedensbrüche ahnden. Es war ferner Appellationsinstanz über den territorialen Gerichten; wie man sich heute durch die nachgeordneten Gerichtsinstanzen "nach Karlsruhe" hochklagen kann, so damals nach Speyer. Jene Assessoren, die die Urteile fällten, wurden von den Reichsständen präsentiert. Der Kaiser reagierte, indem er einen regelmäßig arbeitenden Hofrat in Wien einrichtete. Endgültig in der Regierungszeit Kaiser Ferdinands I. (1558-1564) wird sich der "Reichshofrat" zum zweiten (im Gegensatz zum "Reichskammergericht" kaiserlichen) obersten Reichsgericht entwickeln.

Dem Ringen zwischen den Versammlungsformen Königlicher Hoftag und Königsloser Tag (meint: die Kurfürsten versammeln ohne oder gegen das Reichsoberhaupt manche oder viele der Großen des Reiches um sich) erwuchs im Lauf des 15. Jahrhunderts der Reichstag, an der Schwelle zur Neuzeit gewann er seine dann bis 1806 maßgebliche Gestalt. Es war keine eher formlose Versammlung irgendwo zwischen Beratungszirkel und Beschlussfassungsorgan mit vom Reichsoberhaupt willkürlich gewähltem Teilnehmerkreis – als Vollversammlung der Reichsstände war der Reichstag vielmehr in seiner Zusammensetzung vom Belieben des Reichsoberhaupts unabhängig. Auch die anderen Grundlinien der – nie schriftlich fixierten – Reichstagsordnung standen erst seither fest: dass man in drei Kurien tagte (Kurfürsten-, Fürsten-, Städterat); dass der Kurfürst von Mainz das Direktorium innehatte, der Kaiser hingegen bei den Beratungen "vor der thüre" stand; dass die Beschlüsse eines Reichstages, vom Kaiser ratifiziert, prinzipiell (auch wenn manchmal überstimmte Minderheiten, Interner Link: vgl. Schlaglicht 1529, ihre "Protestationen" einlegten) Rechtskraft besaßen. Modern formuliert, entstanden so Reichsgesetze – damals sprach man von "Reichsschlüssen"; bevor sich die Reichsstände wieder zerstreuten, formulierte der Kurmainzer einen langen Text, der alle Reichsschlüsse dieses Reichstags aneinanderreihte: den "Reichsabschied". Der Reichstag war das zentrale politische Forum des Reiches, sein Legislativorgan, und wenn der Kaiser eine Reichssteuer benötigte, hatte er sie am Reichstag zu beantragen. Je nach der Bedeutung, die sie persönlich einem bestimmten Reichstag beimaßen, erschienen die Reichsfürsten persönlich oder sie ordneten juristisch geschulte Emissäre ab.

Dass die noch junge Institution Reichstag ganz ins Zentrum der Reichspolitik rückte, dass Reichstage zahllose Menschen (darunter viele das Reichstagsgeschehen multiplizierende Publizisten) anlockten, besiegelten die teilweise spektakulären Reichstage der frühen Reformationszeit, seit 1521. Beim Reichstagsprozedere wird sich bis zum Ende des Reiches nur noch eine bedeutsame Änderung einstellen: In der ersten Hälfte der Frühen Neuzeit gab es keine Permanenz, einberufen hat, mit kurfürstlicher Zustimmung, das Reichsoberhaupt, und wenn nach einigen Wochen oder Monaten alle gerade aktuellen Themen besprochen waren, die Mainzer Kanzlei den Reichsabschied verfertigt hatte, zerstreute man sich wieder in die Entsendeterritorien. Der 1663 nach Regensburg einberufene Reichstag aber wird nie mehr auseinander gehen, schließlich findet man sich mit seiner Permanenz ab – der Reichstag ist "immerwährend" geworden.

Reichskreise 1512. (© Cornelsen)

Im Jahr 1500 wurden sechs Reichskreise eingerichtet, seit 1512 gab es deren zehn. Die Kreise werden sich im nächsten halben Jahrhundert institutionell ausformen, und es wachsen ihnen wichtige Aufgaben zu, so insbesondere – besiegelt durch die Reichsexekutionsordnung von 1555 – die der Friedenssicherung nach innen (zeitgenössisch: Sicherung des "Landfriedens") und faktisch auch, da das Reichsheer nichts als eine Addition der zehn Kreisheere war, nach außen. Für eine einigermaßen stetige Kommunikation innerhalb der einzelnen Kreise sorgten die "Kreisausschreibenden Fürsten", das Kreisheer befehligte der "Kreisobrist": ein Fürst des betreffenden Kreises, der im Falle einer Landfriedensstörung aus Kontingenten der einzelnen Kreisglieder eine Armee zu formen und sie gegen den Störenfried zu führen hatte. Hatte sich der Kaiser im Mittelalter vor allem als Friedenswahrer verstanden, funktionierte die Friedenssicherung nun weitgehend kaiserfrei.

Was durfte dieser Kaiser überhaupt noch? Das legte erstmals 1519 eine Wahlkapitulation sehr detailliert fest. Bis zum Untergang des Reiches werden nun alle Kandidaten, ehe sie zum Reichsoberhaupt gewählt werden, eine solche von ihren Wählern, also den Kurfürsten formulierte Kapitulation unterzeichnen müssen. Die Wahlkapitulation ist der Kompetenzkatalog des Reichsoberhaupts. Sie legt den für alle möglichen Regierungshandlungen jeweils erforderlichen Grad an Rücksprache fest: Wann muss der Reichstag befragt werden, wann haben alle Königswähler zuzustimmen, genügt die Zustimmung der Mehrzahl der Kurfüsten? Versuchen wir, was sich da um 1500 formiert hatte und in den Grundzügen bis 1806 bestehen bleiben wird, nach gängigen Staatstypen zu kategorisieren, besaß das Alte Reich eine Mischverfassung: Es wies monarchische Züge auf (Monarchie = Einmannherrschaft – das Reichsoberhaupt!), gewiss bildeten "Kaiser und Reich" auch und vor allem einen aristokratischen Personenverband (Aristokratie = Herrschaft der Besten, nach vormoderner Auffassung also des Hochadels – der Reichstag als Vollversammlung der Reichsstände!), ferner waren der Verfassung des Reiches schwankende, aber zu Zeiten sehr ausgeprägte oligarchische Gehalte eigen (Oligarchie = Herrschaft von Wenigen – die herausgehobene Rolle der sieben bis neun Kurfürsten!).

Vom Zentralitätsgrad her urteilend, dürfen wir das Alte Reich zwischen Staatenbund und Bundesstaat platzieren (in einem Staatenbund, wie der Deutsche Bund im 19. Jahrhundert einer war, sind die einzelnen Gliedstaaten souverän; in einem Bundesstaat wie der Bundesrepublik Deutschland steht die Souveränität dem Gesamtstaat zu). Der bundesdeutsche Föderalismus hat also weit zurückreichende Wurzeln, er steht in einer langen, lediglich von den Nationalsozialisten gekappten Kontinuitätslinie – der Sache nach, die Zeitgenossen haben es anders ausgedrückt: Sie sprachen nicht von "Föderalismus", wenn sie herausstrichen, dass das Reich seine Glieder möglichst wenig vereinnahmte und gängelte, waren vielmehr stolz auf ihre "teutsche Libertät" (lat. libertas = Freiheit, Unabhängigkeit). Die föderalistische Organisation Mitteleuropas hat es überhaupt erst möglich gemacht, 1555 die Konfessionswahl der jeweiligen regionalen Obrigkeit zu übertragen. In den schon damals zentralistischer organisierten Ländern Südwest-, West- und Nordeuropas war es gar nicht denkbar, diese für die Vormoderne zentrale Entscheidung regionalen Kräften zu überlassen.

Noch in einer anderen Hinsicht ist der Religionsfrieden für das politische System des Reiches bezeichnend. Man hat sich 1555, weil elementare Überzeugungen divergierten und von einer inhaltlichen, theologischen Akzeptanz der `falschen´ Konfession gar keine Rede sein konnte, dehnbarer Formelkompromisse bedient (die Zeitgenossen drückten auch das anders aus, sprachen vom "Dissimulieren"). Man hat sich, salopp gesagt, zu Bestimmungen zusammengerauft, mit denen bei gutem Willen beide Seiten leben konnten, die aber mit weniger Wohlwollen und rechthaberisch betrachtet ziemlich unterschiedlich deutbar waren. Reichspolitik funktionierte generell so. Das Regelwerk des Reiches war nicht festgefügt, sondern locker gefugt, es ließ Spielräume für tektonische Verschiebungen. Große Toleranzen also statt Präzisionsarbeit – aber genau das war das Erfolgsgeheimnis. Daher beim modernen Betrachter der Eindruck mangelnder Effizienz, von Reibungsverlusten, da greift nicht jedes Rädchen passgenau ins andere, es ächzt und stöhnt in allen Scharnieren, aber die Maschine läuft Jahrhunderte lang. Das Alte Reich war ja bemerkenswert viel langlebiger als alle Nachfolgegebilde in Mitteleuropa bis heute; es besaß eine überragende "Zeitelastizität" (um den Ausdruck für die zeitliche Erstreckungsfähigkeit eines politischen Systems vom Soziologen Niklas Luhmann zu borgen). Kompromiss wurde oft nicht auf halbem Wege zwischen zwei Maximalforderungen festgezurrt, äußerte sich vielmehr in dehnbaren Formeln, in Termini, die verschiedene Interessengruppen auf verschiedene Weise füllen konnten. Jener notorische Auslegungsstreit, der Reichsgeschichte zur Rechtsgeschichte macht, mag heute bei einer ersten Annäherung an das Alte Reich abstoßen, aber die Soll-Lücken, die gleich mit eingebauten Interpretationsspielräume machten die Reichsverfassung in ihrer Zeit so unwiderstehlich, also langlebig. Nur in einem Fall zahlte sich der Versuch dissimulierender "Verrechtlichung", und das mit schlimmen Folgen, nicht aus: Denn der Diskurs über den Religionsfrieden mündete in eine desaströse Kommunikationsstörung, wie unsere Ausblicke noch schlaglichtartig verdeutlichen werden.

Prof. Dr. Axel Gotthard ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Lehre gehören Historische Friedens- und Konfliktforschung, vormoderne Verräumlichungspraktiken, die Bedeutung der Konfession und von Säkularisierungsprozessen für die europäische Geschichte und die politische, Kultur- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen, u.a. "Das Alte Reich 1495-1806, Darmstadt 2003", "Der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004", "Der liebe vnd werthe Fried. Kriegskonzepte und Neutralitätsvorstellungen in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2014"; zuletzt erschien (September 2016) "Der Dreißigjährige Krieg. Eine Einführung."