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Der ungewöhnliche Fluss

Merve Bedir

/ 7 Minuten zu lesen

Wie können Fluss und Mensch wieder zueinanderfinden? In Plovdiv war das eine Frage, der Architektinnen und Architekten nachgegangen sind. Mit temporären Interventionen versuchten sie, den Fluss wieder ins Gedächtnis der Menschen zu bringen. Denn zwischen Stadt und dem Fluss Maritsa gibt es heute, anders als in der Vergangenheit, kaum noch Verbindungen.

Zwei Männer sitzen am Ufer der Maritsa. (© Lina Krivoshieva)

Bis zu meiner Arbeit als Kuratorin der "One Architecture Week" in Plovdiv 2015 ging meine Beziehung zu dem Fluss, der durch die bulgarische Großstadt fließt, nicht über die Lektüre zufälliger Nachrichten über Hochwasser in Edirne, über die Zunahme der Grenzkontrollen durch die EU-Agentur Frontex oder über die Geschichten jener Menschen hinaus, die versuchten über die Maritsa nach Europa zu kommen. Doch dann wurde der Fluss zum Gegenstand des Architektur-Festivals und ich beschäftigte mich intensiver mit der Maritsa.

Während der Vorbereitungen und Recherchen dafür mussten wir feststellen, dass das Wissen über den Fluss verborgen ist, nicht besonders gut dokumentiert. Eines aber war deutlich geworden: Der häufige Wechsel der Zugehörigkeiten und Machtverhältnisse, die Festlegung nationaler Grenzen sowie die Bemühungen, den Wasserlauf zu kontrollieren und zu managen, haben eine dauernde Wahrnehmung der Maritsa von Krise und Katastrophe hervorgebracht, die den Fluss vom alltäglichen Leben der Menschen entfernt hat. Als eine Art Antwort darauf haben wir uns vorgenommen, das Gemeinsame, das Gewöhnliche für unsere Architekturwoche herauszuarbeiten.

Die Maritsa als ein Projekt der Moderne

In der Zeit des Osmanischen Reiches und der Bulgarischen Monarchie lag die Entscheidungsgewalt über den Umgang mit der Maritsa bei den örtlichen Behörden. Erst im Sozialismus wurde das Flussmanagement modernisiert und zentralisiert. Damals wurde ein Messekomplex unmittelbar am Nordufer in Plovdiv gebaut, entlang des Flusses selbst entstanden zahlreiche Dämme.

Nach dem Ende des Kommunismus wurde die Zuständigkeit für den Fluss wieder an die Kommunen zurückgegeben. Damals wurden einige Kanalarbeiten am Südufer durchgeführt. Gleichzeitig wurde das Management der Dämme privatisiert.

Noch in sozialistischer Zeit waren zahlreiche Brücken zwischen dem Süd- und dem Nordufer gebaut worden, um den Transport zu verbessern und die Stadt erweitern zu können. Mit der Europäischen Union rückten schließlich Stadtplanungsthemen und Landschaftsgestaltung in den Fokus des Interesses. Viele Projekte an der Maritsa scheiterten in Plovdiv aber an Finanzierungsschwierigkeiten.

Das vielleicht wichtigste Projekt war die Beteiligung am Natura-2000-Netz von Flüssen in ganz Europa. Dieses Netzwerk unterstützt die Zivilgesellschaft bei der Kartierung und beim Schutz von Naturräumen – auch in Plovdiv. Wir haben damals herausgefunden, dass die Architekten- und Ingenieurskammer sowie andere städtische Institutionen an verschiedenen Projekten an der Maritsa arbeiteten. Viele davon wurden nicht realisiert. Es fehlte ihnen am Verständnis der Landschaft und der Würdigung des Flusses.

Die Hochwasser

Auch wenn Plovdiv auf einem Hochufer über der Maritsa liegt, hatten die Hochwasser dennoch einen negativen Einfluss auf die Geschichte der Stadt. Die Stadtarchive verzeichneten zahlreiche Hochwasser in den Jahren 1858, 1876, 1897, 1900, 1911, 1957 und 2005.

Schon während der bulgarischen Monarchie wurde die zentrale Mülldeponie an der Maritsa in Plovdiv errichtet. Diese wurde in sozialistischen Zeiten noch ausgebaut, die Maritsa selbst sollte zu einem kleinen See aufgestaut werden. Zu diesem Zwecke wurden am östlichen Ende der Stadt Schleusen gebaut. Es wird erzählt, dass diese Eingriffe im Wechselspiel mit den Dämmen, die am Fluss existierten, dazu führten, dass es zum Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts häufiger zu Hochwassern kam.

Die verheerendste Flut an der Maritsa datiert aus dem Jahr 1957, als Hunderte Menschen ertranken oder vermisst wurden und ebenso viele ihr Obdach verloren. Nach diesem Ereignis wurde der Fluss einbetoniert, bis heute bestimmt Beton das Bild des Flusses und seiner Ufer in Plovdiv. Auch der Bootsverkehr auf dem Fluss wurde eingestellt, die Maritsa galt nun als gefährlich. Die Menschen wurden unterrichtet, wie sie sich gegen die Maritsa schützen konnten.

Für die Architekturwoche haben wir einige Skizzen gemacht, auf denen wir zeigten, wie das Flussbett verändert wurde, um das Abflusssystem in der Stadt zu ändern. Es gab mittlerweile einige Restaurierungsarbeiten, um den Fluss wieder in sein angestammtes Bett zurückzubringen.

Alltagsleben an der Maritsa

Dennoch hat es heute den Eindruck, als würde die Maritsa nicht mehr Teil des täglichen Lebens in Plovdiv sein. Die einzigen, die an der Maritsa und ihren Ufern zu sehen sind, sind Angler und Roma.

Aus Sicherheitsgründen ist es nicht erlaubt, am Fluss entlangzugehen oder in ihm zu schwimmen. Auch Angeln ist, aus ökologischen Bedenken, eigentlich nicht gestattet. Sich im Sommer an seinen Ufern aufzuhalten, ist nicht einfach, weil der Fluss inzwischen nur noch schwer zugänglich ist. Vielen fällt es leichter, sich die Risiken und Gefahren des Flusses vorzustellen als ihn als ein Teil der Natur zu sehen.

Im 19.und beginnenden 20. Jahrhundert war der Fluss noch ausgiebig von den Menschen genutzt worden. Die öffentlichen Bäder am südlichen Ufer waren geöffnet, es war beliebt, an der Maritsa und auf ihren Inseln zu picknicken. Auch kleinteilige Landwirtschaft gehörte zum Leben am Fluss. Im Vergleich zu den Ufern der Maritsa ist der Ruderkanal heute bei weitem das attraktivere Ausflugsziel.

Plovdiv hatte zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine multiethnische Bevölkerung. In der Stadt lebten Griechen, Armenier, Juden und Roma. Der Anteil der ethnischen Minderheiten betrug 30 Prozent. Jede von ihnen hatte einen anderen Umgang mit dem Wasser, als Lebensgrundlage, als Teil von Sitten und Gebräuchen, als Gegenstand von Unterhaltung und Freizeit.

Bei den Griechen war noch die Erinnerung an Ardakos lebendig, den Flussgott der Maritsa, die im griechischen Evros heißt. Die Picknicks der Armenier waren berühmt für ihr Essen, bei den bulgarischen und Roma-Ritualen war das fließende Wasser fester Bestandteil. Der Rückgang der Minderheiten in der Stadt hat auch die Sichtbarkeit und die Erinnerung an diese Praktiken zurückgedrängt.

Gemeinsam mit Künstlerinnen und Künstlern, Designerinnen und Designern haben wir mehrere temporäre Interventionen an der Maritsa organisiert, die, wenn es nach uns ginge, gerne auch dauerhaft sein könnten. Sie sollen einen neuen Umgang mit dem Fluss ermöglichen und auch den Zugang zu den Ufern und zu ihrer Geschichte erleichtern.

Migration, Eigentum, Zugehörigkeit

Bis zum 20. Jahrhundert war die Maritsa als Wasserstraße Teil einer regionalen Infrastruktur, über die Waren von Pazardjik nach Edirne gebracht wurden und von dort weiter auf dem Landweg nach Istanbul.

Zwei Männer sitzen am Ufer der Maritsa. (© Lina Krivoshieva)

Die nationalistische Befreiungsbewegung, die in den 1880er Jahren begann, machte die Maritsa zur Grenze zwischen Griechenland, Bulgarien und der Türkei. Mit der Gründung der Europäischen Union wurde der Fluss zum Bestandteil der Festung Europa. Die Kontrolle der, sagen wir, deutschen Grenzen, fand schon an der Maritsa statt. Alleine im Jahr 2015 war die Maritsa als Grenzregion Gegenstand von zwei Dritteln der undokumentierten Migrationsbewegungen in die Länder der Europäischen Union. Die Technologie und Arbeitskraft, die für die nationale Sicherheit und die der EU eingesetzt werden, ist ohne Vergleich, und das gilt auch für die Zahl der Toten.

In diesem Zusammenhang standen auch unsere Recherche und unsere künstlerischen Interventionen. Sie waren den Minderheiten in Plovdiv und den Roma gewidmet, der Idee des Nationalstaats und seiner Sicherheit, der globalen Migration und dem Sinn von Zugehörigkeit.

All diese Phänomene, zusammengedacht mit den Themen Wassermanagement und Wasseregime, machten es zu einem Muss, über die Vorstellung des Nationalstaats, starker Kommunen, zentralisierter Politik und gut funktionierender Netzwerke und Entscheidungsmechanismen zu diskutieren sowie den Einfluss von Programmen wie Natura 2000.

Während der Diskussionsveranstaltungen wurde insbesondere der Zuwachs von Zuständigkeiten des Staates auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger thematisiert. Die Menschen an der Maritsa haben den Sinn für Begriffe wie Zugehörigkeit oder Besitz verloren. Die Ideen von Kollektivität und Gemeinschaft haben während der sozialistischen Zeit an Attraktivität eingebüßt.

Hinzu kommt, dass die Vorstellung von Individualität auch in Bulgarien weiter an Bedeutung gewonnen hat. Individueller Besitz war hier, auch zu Zeiten des Sozialismus, schon von großer Bedeutung.

Das Manifest

Die Maritsa verlangt heute nach einem ganzheitlichen Zugang, der weder an nationale Politiken, noch an radikale lokale Vorstellungen geknüpft ist. Der Fluss hat ein ganz besonderes ökologisches Gleichgewicht hervorgebracht, zu dem seine Regeln und Technologien ebenso gehören wie Lebensweisheiten und menschliche Erfahrung. Können wir uns die Maritsa jenseits nationaler und individueller Zugehörigkeiten vorstellen? Können wir uns vorstellen, dass der Fluss allen gehört? Können wir uns einen Fluss als Gemeinwohl vorstellen?

Mit diesen Fragen will ich meinen Text beenden und das letzte Wort dem Manifest lassen, das während der Architekturwoche in Plovdiv 2015 veröffentlicht wurde:

"Dies ist ein Experiment der Vergemeinschaftung der Maritsa. Vergemeinschaftung im Sinne einer Hinterfragung der Behauptung, dass es die Natur des Flusses sei, Grenzen zu bilden. Eine Grenze zwischen Natur und Kultur, zwischen dem Norden und dem Süden, zwischen "europäisch" und "nichteuropäisch", privat und öffentlich. Vergemeinschaftung als Akt des Zusammenbringens, Teilens, Machens, Öffnens, Verbindens und gemeinsamer Arbeit. Vergemeinschaftung als Erkundung neuer Formen der Ko-Existenz und nicht als der Versuch, einen neuen Begriff für das Bestehende zu finden. (...)

Die 'One Architecture Week'‘ hat das Ziel, den Fluss Maritsa über diese Form der Vergemeinschaftung mit anderen Augen zu sehen. Das Festival hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Fluss, als ein vergessenes Element von Plovdiv, wieder an die Stadt heranzuführen. Es soll die Wahrnehmung der Stadt, des Flusses und aller, die sich den Fluss teilen, an seinen Ufern wieder zusammenbringen."

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Merve Bedir studierte Architektur an der Technischen Universität des Nahen Ostens in Ankara. Sie arbeitet als Kuratorin, etwa für das Niederländische Architekturinstitut, und engagiert sich in zahlreichen Gemeinwohlprojekten.