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So lange das Theater noch steht Zur Lage der kreativen Szene in Griechenland

Anestis Azas

/ 8 Minuten zu lesen

Die kreative Szene in Griechenland ist von der Krise ebenso in Mitleidenschaft gezogen worden wie alle anderen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Wie ist es, in einer solch "dramatischen" Situation Theater zu produzieren? Was will das Publikum sehen? Was muss man ihm zumuten?

Ein Graffiti an einer Geschäftswand in Athen. (© picture-alliance/dpa)

Die Frage ist, was sagt man jetzt.
Gut haben wir gegessen und getrunken
Bisher haben wir unser Leben gut geführt
Kleinverluste und Kleingewinne aufrechnend

Die Frage ist, was sagt man jetzt.

Manolis Anagnostakis

Auftakt - Die Krise

Wie man in einem Wirbelsturm keinen klaren Blick gewinnt und warten muss, bis der Staub sich legt um wieder klar sehen zu können, so ähnlich fehlen einem die Worte, wenn man versucht, die heutige Krise Griechenlands mit künstlerischen Mitteln zu begreifen und sinnlich im Theater auszudrücken. Als ob die geeignete Sprache fehlen würde, scheinen viele der bekannten Begriffe, die seit dem Beginn der Eurokrise den Diskurs bestimmen, ganz unfähig zu vermitteln, was da gerade geschieht: Eine Wirtschaft in Rezession, eine Bevölkerung in Depression; grassierende Arbeitslosigkeit und Armut, Gefühle von Erniedrigung und verletztem Nationalstolz, Verdächtigungen und Verschwörungstheorien; neofaschistische Tendenzen und bürgerkriegsähnliche Zustände auf den Straßen zwischen Angst, Wut und Hoffnung.

Theaterschaffen heute

Wie ist es, in einer solchen "dramatischen" Situation Theater zu produzieren? Was will das Publikum sehen? Was muss man ihm zumuten? Wie wurde das Theater von der ganzen Situation finanziell, ästhetisch und inhaltlich beeinflusst? Welche Narrative und welche Dramaturgie sind entstanden? Lassen sich die Konflikte des Alltags im politischen und sozialen Umfeld auf der Bühne kreativ und wirksam dramatisieren oder sind wir schon an einem Punkt angelangt, wo alles egal ist und selbst die Bühne still steht?

"So lange es die Theater noch aushalten, steht noch die Stadt", so steht es in einem Artikel der Tageszeitung Kathimerini von 02.02.2013, in dem über die 110 Bühnen des Athener Stadtzentrums berichtet wird. Tatsächlich bilden die Bühnen in einer von Kriminalität und Armut schwer betroffenen Stadt nach wie vor ein hoffnungsvolles Zeichen von städtischem Bewusstsein und kulturellem Leben. Schon vor der Krise war Athen eine dynamische Theaterstadt: dadurch, dass es im Lande kaum staatliche Institutionen gibt, hat es hier die Grenze zwischen Staatstheater und Off-Szene, wie man sie aus dem deutschsprachigen Raum kennt, nie gegeben. Im Gegenteil, die Szene ist ein komplexes Mosaik von großer Formendiversität. Eine spannende Frage in diesem Zusammenhang bleibt: Knüpft das zeitgenössische griechische Theater an den öffentlichen Diskurs an? Beschränkt es sich lediglich auf seine Unterhaltungsfunktion? Oder ist das Theater vielleicht mittlerweile zu einer Trost- und Therapie-Anstalt für Zuschauer und Macher mutiert?

Die griechische Theaterlandschaft

Zwei Staatstheater, das National Theater in Athen, das Staatstheater Nordgriechenlands in Thessaloniki und das große Sommerfestival von Athen und Epidaurus, als auch acht kleinere, regionale Stadttheater (ΔΗ.ΠΕ.ΘΕ) bilden die staatlich strukturierte Szene. Der Rest der Theaterproduktion, der aber den größeren Teil ausmacht, war schon vor der Krise privatwirtschaftlich organisiert und nur teilweise staatlich subventioniert. In diesem Feld agieren sowohl Privatproduzenten, die mit Fernsehstars Unterhaltungstheater produzieren, wie auch eine immer schon spannende, freie Kunst- und Theater-Szene.

Aufgrund der Krise wurden in den letzten drei Jahren die Etats der großen staatlichen Institutionen deutlich gekürzt. So musste z. B. das Nationaltheater in Athen in der Spielzeit 2012- 2013 sein Angebot von 18 auf 12 Produktionen reduzieren. Bei den kleineren Regionaltheatern wurden die Subventionen von Seiten des Kulturministeriums von 200.000 € im Jahr 2009 auf 93.000 im Jahr 2013 und 46.000 im Jahr 2014 gekürzt. Im gleichen Spargeist wurden die Subventionen der freien Szene seit 2011 praktisch abgeschafft, was für viele der Theatermacher fatale Folgen hat. So musste die Experimentelle Bühne von Thessaloniki im letzten Jahr ihre Hauptbühne seit den 80er Jahren, das Amalia Theater, wegen unbezahlbarer Mieten kündigen. Gleichzeitig haben sich die Arbeitsverhältnisse innerhalb der Branche drastisch verschlechtert. Zum größten Teil arbeiten Schauspieler und Bühnenangestellte ohne Krankenkasse und Sozialversicherung. Es sind keine Produktionen mit großem Ensemble mehr möglich und die Künstler werden oft honoriert, indem sie selbst die Einnahmen von den Eintrittskarten am Abend zwischen sich verteilen dürfen.

Das Theater Embros in Athen. (© Public Domain)

In dieser ruinösen Theaterlandschaft gründete sich zur Spielzeit 2010-11 das Theater der Onassis Stiftung – Home of Letters and Fine Arts, welche die Rolle des vernachlässigenden Staates inoffiziell übernommen hat und das kulturelle Leben der Hauptstadt mit einem vielfältigen Programm von Inszenierungen und Ausbildungsprogrammen mittlerweile grundsätzlich prägt. Ähnlich wie beim Athens und Epidauros Festival, besteht das Repertoire des prächtigen Theaters einerseits aus berühmten internationalen Künstlern und anerkannten Namen der nationalen Szene und andererseits aus Truppen der jüngeren Generation, die die seltene Chance eingeräumt bekommen, unter professionellen Bedingungen ihre Arbeit zu zeigen und sich somit einem gutbürgerlichen Publikum vorzustellen. Parallel dazu sponsert in den letzten Jahren die Stavros Niarchos Stiftung, Erbe einer anderen Großreeder-Familie, ausgewählte Künstler und Theatertruppen. Am Falirikon Delta, der Meeresfront Athens nah zum Hafen von Piräus, baut sie einen vielversprechenden Kulturpark, der ein neues Theater für die Nationaloper und ein neues Haus für die Staatsbibliothek beinhalten wird.

Theater unter prekären Bedingungen

Doch abgesehen vom institutionellen Rahmen, hat es in Griechenland nie an romantischen Taten gemangelt. Am 11.11.2011 hat das aus jungen Theatermachern bestehende Mavili Kollektiv das alte leerstehende Gebäude vom Embros Theater in Athen besetzt und dort ein eigenes Programm aufgelegt: Theater- und Tanzvorstellungen, Performances, Konzerte, Workshops , Podiumsdiskussionen, offene Seminare von Akademikern und Künstlern, Volksküchen und Sprachunterricht für Immigranten. Bei all diesen Veranstaltungen ist von Anfang an der Eintritt frei gewesen, aber nicht nur deshalb kam das Publikum in Scharen. Zwar war die Besetzung von Embros eine Reaktion auf die Abschaffung des Subventionssystems und die zu hohen Mietpreise der privaten Theaterräume; sie hat sich aber schnell zu einer weiter ausgreifenden Dynamik entwickelt und die Grenzen des "Theaterbetriebs" im strengen Sinn weit überschritten. Mittlerweile wurde das besetzte Embros zweimal von der Polizei geräumt und ebenso oft von Künstlern und Aktivisten der Autonomen Szene in unterschiedlichen Konstellationen wieder besetzt. Vor allem, nachdem andere traditionelle "Squads" (besetze Häuser) durch die Polizei geräumt wurden, gewann Embros politisch an Bedeutung: in einer Stadtlandschaft, die zunehmend von "neoliberalen" sozialen Angriffen bestimmt wird, behauptete sich hier ein selbstverwalteter Ort, an dem Modelle einer Alternativwirtschaft diskutiert und erprobt werden können. Ein prominenter Besucher von Embros, der italienische Philosoph Giorgio Agamben, betonte in einem Publikumsgespräch am 20.11.2013 die Bedeutung solcher Häuser als "Allmendegut". In diesem Sinne bleibt das besetzte Theaterhaus für viele junge Besucher ein Hotspot der Innenstadt, als Anlaufstelle für junge Schauspieler ohne Engagement, wie für die autonome Szene Athens, die, seit jeher antiautoritär und antikommerziell eingestellt, durch die Krise noch massiv an Einfluss zu gewinnen scheint.

Die neue Dramaturgie

Die Situation in Griechenland ist sehr speziell und dementsprechend auch kreativ für die Kunst. Trotz aller Schwierigkeiten: die griechische Theaterszene ist rege. Kleine und große Theatersäle sind zu Krisenzeiten gut besucht – wozu bestimmt auch die Senkung der Eintrittspreise vieler Häuser beigetragen hat.

Zahlreiche Autoren und Theatermacher haben sich in den letzten Jahren inhaltlich wie ästhetisch mit der Krise beschäftigt – dem Nationalismus und der Identitätssuche der Gesellschaft, der griechischen Familie als Ursache und Ausweg (aus) der Krise, dem Absturz der Mittelklasse, der Schuldzuweisung und der eigenen Verantwortung. Als bemerkenswerte Beispiele einer solchen Selbstbefragung kann man die Autorin Lena Kitsopoulou betrachten, deren stets provokante Haltung gegen das lokale Patriarchat für Aufregung sorgt, das Schauspielerkollektiv Blitz, die Truppen HOROS, Kanigunda, Vasistas, Nova Melancholia, Sforaris. Außerdem den in Litauen geborenen, aber in Griechenland aktiven Regisseur Cezaris Grauzinis, dessen dunkle, melancholische Inszenierung von Aristophanes "Ploutos" im Regionaltheater Patras den korrupten Reichtum der antiken Vergangenheit kritisierte. Ebenfalls erwähnenswert ist die Regisseurin Georgia Mavragani, die in ihrer Arbeit "Das Leben ist nicht leicht" mit SchülerInnen griechische Poplieder chorisch interpretierte und mit Briefen von krisengeplagten Eltern der Schule verknüpfte.

Andererseits tendieren Teile des Theater-Mainstreams zum Populismus, in Produktionen des Athener Nationaltheaters darf sich das große Publikum immer wieder in seiner Einstellung als unschuldiges Opfer der Krise bestätigt fühlen, weswegen der neue Intendant des Theaters Sotiris Chatzakis von einem Teil der Presse und dem Großteil zeitgenössischer Künstler auch heftig kritisiert worden ist. Chatzakis hat populäre Fernsehstars auf die Bühne geholt und somit in der wichtigsten Schauspielinstitution des Landes eine Art spektakuläres "Brot und Spiele" inszeniert.

Diese eskapistische Tendenz zeichnete sich letzthin auch in der Musikkultur des Landes ab: So betont die Kritikerin Matina Kaltaki in einem Artikel in der Wochenzeitung LIFO am 15.01.2014 die Rückwärtsgewandtheit des griechischen Musiktheaters, wie sie in einer neuen Retrowelle zum Ausdruck kommt: in Operetten und leichter Muse der 1930er Jahre, im urbanen Lied der 1940er wie in der Revueästhetik der 1950er und 1960er Jahre; oder auch in theatralischen, sentimentalen Hommagen an berühmten Persönlichkeiten der reichen Musikkultur des Landes – wie etwa in Tableau vivant-Vorstellung aus dem Leben des mittlerweile 90-jährigen Komponisten Mikis Theodorakis. Laut der Kritikerin Matina Kaltaki handelt sich hier um einen "nostalgischen appeal: emotionale Verschönerung und Beschwörung eines Griechenland, das noch unschuldig, schön und sorglos schien."

(© picture-alliance/dpa)

Doch vielleicht ist gerade das eine wesentliche Erkenntnis unserer Situation: in ruhigen Zeiten erwartet man vom Theater einen Riss im Vorhang der Zufriedenheit; doch zu Zeiten totaler Verunsicherung und politischer Spaltung ist fraglich, ob gesellschaftliche Kritik überhaupt noch auf der Bühne stattfinden kann. Will man abschließend noch einmal nach der Rolle von Kunst in Krisensituationen fragen, wenn die Menschen von ihrem alltäglichen Überlebenskampf stets übermüdet sind, sollten wir uns vielleicht der grundlegenden, humanistischen Funktion des Theaters erinnern, um mit seinen Mitteln den mentalen Raum zu erweitern und damit hoffentlich dem grassierenden Zynismus des griechischen Alltagslebens entgegenzuwirken.

Dank an Mersiha Karasalihovic und Prodromos Tsinikoris für ihre Hilfe bei der Abfassung dieses Textes.

Fussnoten

Fußnoten

  1. "Der Ziel" von Manolis Anagnostakis , erstmals erschienen in der Gedichtausgabe "Achtzehn Texte", Athen 1970

  2. So erfuhr es der Autor im Gespräch mit Theodoris Gonis, dem Intendanten des Stadttheaters von Kavala (Nordgriechenland). Die Zahlen gelten für alle Regionaltheatern des Landes(ΔΗΠΕΘΕ)

  3. Im Mai 2012 wurden vom Kulturministerium letztmalig Subventionen für die freie Szene angekündigt, sie sind allerdings bis heute nicht ausgezahlt. In offiziellen Verlautbarungen heißt es, dass die Subventionierung der freien Szene “aufgrund der finanziellen Lage des Landes bis auf Weiteres” aufgehoben werden muss. Nach großem öffentlichem Druck wird aber wohl im Januar 2014 zumindest ein Viertel des ursprünglich geplanten Etats an die betroffenen Theatertruppen ausgezahlt.

  4. Die Alexander-Onassis-Stiftung ist eine private Stiftung, die von Aristoteles Onassis im Andenken an seinen verunglückten Sohn gegründet wurde. Die Stiftung vergibt diverse Preise, Stipendien und finanziert Projekte und Lehrstühle in den Bereichen Pädagogik, Kultur, Gesundheit, Religion, Umwelt und Sport. Das Theater Home of Letters and Fine Arts in Athen ist eine neue Stiftungsinitiative.

  5. Mavili Kollektiv: Das Mavili Kollektiv wurde von den Theatermachern Anestis Azas, Gigi Argyropoulou, Kostas Koutsolelos, Georgia Mavragani, Vassilis Noulas und Manolis Tsipos als spontane Zusammenkunft von Künstlern im Sommer 2010 gegründet. Dazu sind später die Regisseurin Argyro Chioti und der Bühnenbildner Giorgos Kolios gestoßen. Hauptargument und Zweck der Aktionen und Texte des Kollektivs sind stets die Forderung an den griechischen Staat nach einer konsequenten Kulturpolitik für das Theater und die darstellenden Künste, wie auch der Versuch einer Selbstregulierung der Branche. Das Kollektiv hat sich wegen interner Uneinstimmigkeiten im Oktober 2012 aufgelöst.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Anestis Azas für bpb.de

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geb. 1978 in Thessaloniki, hat an der Theaterfakultät der Aristoteles Universität in Thessaloniki sowie an der HfS Ernst Busch in Berlin (Regie) studiert. Mitwirkung bei Rimini Protokoll (Prometheus in Athen, Herodes Odeon Athen 2010). Seit 2008 inszeniert er selbst an griechischen Staatstheatern und freien Bühnen, 2013 inszenierte er "Telemachos - Should I stay or should I go“, eine szenische Konfrontation von zwei Generationen Griechischer Immigranten in Deutschland, am Ballhaus Naunynstasse, Berlin.