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Einführung | Jugendkulturen in Deutschland (1950-2005) | bpb.de

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Einführung

Klaus Farin

/ 3 Minuten zu lesen

Mit den neuen Segnungen aus Ame­rika kam auch Unerwünschtes, "Vul­gäres" ins Land, das sich mit den ungebrochenen Vorstellungen der Älteren darüber, was "deutsch", "korrekt", "sauber" und "anständig" sei, nicht in Einklang bringen ließ: "Buschmusik" und Comics, neue Kleidungsstile und Geschlechterrollen, "Teenager"-Filme, die ein in Lederjacken daherkommendes Rowdytum verherrlichten – eine neue Form jugendlicher Aufsässigkeit erschütterte die damalige deutsche Leitkultur.

Saalschlacht im Sportpalast: Bill Haley Konzert in Berlin 1958 (© AP)

Der 21. Juni 1948 war ein besonderer Tag. Die Deutsche Mark wurde geboren, und zur Feier des Tages erhielt jeder Deutsche in den westlichen Besatzungszonen (und vier Tage später auch in Berlin) 40 DM geschenkt. Die (West-)Deutschen hatten wieder "richtiges Geld", und scheinbar über Nacht füllten sich die Läden mit Konsumgütern – zumeist mit zuvor in versteckten Lagern zurückgehaltenen Waren. Am 1. Mai 1950 wurden schließlich die letzten seit 1939 gebräuchlichen Bezugsscheine für Lebensmittel abgeschafft. Das bedeutete zwar nicht, dass die Einkaufskörbe der meisten Deutschen über Nacht prall gefüllt waren. Aber es war ein Signal der Hoffnung: Nun würde es wieder aufwärts gehen.

In der Tat: Das Realeinkommen der Arbeitnehmer stieg zwischen 1950 und 1960 um gut drei Viertel, zudem erhöhte sich die Quote der ebenfalls erwerbstätigen Ehefrauen im gleichen Zeitraum von 26,4 auf 36,5 Prozent. Die Arbeitslosenquote sank von 10,4 Prozent im Jahr 1950 auf unter ein Prozent gegen Ende des Jahrzehnts. Waren die Jahre von 1945 bis 1955 noch von den Kriegsfolgen – Zerstörung, Vertreibung, Flüchtlingstrecks, Notunterkünfte, Hunger und Armut – geprägt, so startete Westdeutschland ab 1955 zum Wirtschaftswunderland durch. "Ärmel aufkrempeln, zupacken, aufbauen" hieß das Motto jener Jahre. Arbeit und die Teilhabe am wachsenden Wohlstand wurden zum Lebensinhalt schlechthin. Das Zeitalter des Massenkonsums war eingeläutet:

"Modewellen gaben den Ton an – etwa bei der Einrichtung des Heimes: Nieren- und Mosaiktisch, Cocktailsessel, Snap-Couch (die sich zum Bett ausbauen ließ), Schränkchen mit Messingfuß oder Dackelpfote (Gelsenkirchener Barock), Steh- und Tütenlampen zierten die Wohnzimmer und wurden unverzichtbare Statussymbole im Zeichen des wachsenden Wohlstandes. Schwungvolle Formen prägten die Einrichtungs- und Gebrauchsgegenstände bis hin zur Küchenuhr, Vase, zum Kofferradio oder zur (Schmetterlings-)Brille – und spiegelten so die dynamische Wirtschaftsentwicklung jener Jahre wider." (Sträter 1985, S. 138)

Bei allem Fleiß – vor allem der Frauen, auf deren Schultern in den Monaten und Jahren nach Kriegsende, als die meisten Männer gefallen oder noch in Kriegsgefangenschaft waren, die Hauptlast des Wiederaufbaus lag – alleine, ohne die gewaltige Unterstützung aus Übersee, hätte Deutschland das niemals geschafft. Amerika pumpte Millionen Dollar ins Land des ehemaligen Kriegsgegners: Fachkräfte, Berater, Maschinen, industrielles Know-how, nicht zuletzt Waren im Wert von 1,5 Milliarden Dollar ... Das lag durchaus im ureigenen Interesse: Die expandierende US-Industrie brauchte neue Absatzgebiete, und der Kalte Krieg zwischen Amerika und den Ostblockstaaten erforderte starke Verbündete, ein neues Bollwerk gegen den Kommunismus mitten in Europa. Aus Kriegsgegnern und Besatzern wurden Aufbauhelfer. Fortan hatte nur noch "die Zone" den Krieg verloren, Westdeutschland wurde mit allen Mitteln der Kunst aufgepäppelt.

Vor allem der Freizeitmarkt boomte. Die Mehrzahl der Produkte kam natürlich aus den USA. Während hierzulande gerade erst die Voraussetzungen für die Massenproduktion von Konsumgütern entstanden, verfügten die USA dank ihres riesigen Landes und eines Vorsprungs von mindes­tens zwölf Jahren bereits über eine hochprofessionelle Freizeit- und Modeindus­trie. Schon in der Weimarer Republik war die Begeisterung für Amerika recht groß, und nun blickten die Deutschen staunend auf die vielen neuen Wunderdinge, die in Übersee entwickelt worden waren, als in Deutschland während des Nationalsozialismus die Lichter ausgingen: Bikinis und Kunststoffkleider, Bluejeans und Nylon­strümpfe, Musikboxen und Kofferradios, Nescafé und Kaugummi.

Doch die Freude währte nicht lange, vor allem bei den Älteren. Die Sache hatte nämlich aus ihrer Sicht einen gewaltigen Haken: Mit den neuen Segnungen aus Ame­rika kam auch Unerwünschtes, "Vul­gäres" ins Land, das sich mit den ungebrochenen Vorstellungen der Älteren darüber, was "deutsch", "korrekt", "sauber" und "anständig" sei, nicht in Einklang bringen ließ: "Buschmusik" und Comics, neue Kleidungsstile und Geschlechterrollen, "Teenager"-Filme, die ein in Lederjacken daherkommendes Rowdytum verherrlichten – eine neue Form jugendlicher Aufsässigkeit erschütterte die damalige deutsche Leitkultur.

Quellen / Literatur

Sträter, Winfried: "Das konnte ein Erwach- sener nicht mit ruhigen Augen beobachten." Die Halbstarken. In: Berliner Ge- schichtswerkstatt e.V. 1985, S. 137 – 170.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Klaus Farin wurde 1958 in Gelsenkirchen geboren. Er war 1997 Mitbegründer des Externer Link: Archivs der Jugendkulturen in Berlin. Heute ist er Leiter dieses Archivs und arbeitet zudem als Schriftsteller, Journalist und Lektor.