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Bravo | Jugendkulturen in Deutschland (1950-2005) | bpb.de

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Bravo

Klaus Farin

/ 5 Minuten zu lesen

Als rein kommerzielles Produkt mit der Hauptzielgruppe Jugend hatte Bravo-Chefredakteur Peter Boenisch gar keine andere Wahl, als die neue Jugendkultur aus Amerika, das aus konservativer Sicht Bedrohliche, aufzugreifen.

Erste Ausgabe der Bravo vom 26. August 1956 mit Marilyn Monroe (o.l), einem Bericht über den Film "Nina", in dem Karlheinz Böhm (u.l.) eine Hauptrolle spielte und mit Richard Widmark (u.r.), abgebildet in seiner Rolle im Western "Backlash". (© AP)

Am 26. August 1956 erscheint im Münchener Kindler & Schiermeyer-Verlag zum Preis von 50 Pfennig und mit einer Startauflage von 30 000 Exemplaren die erste Nummer einer neuen Zeitschrift: Bravo - Zeitschrift für Film und Fernsehen. Ab der Nr. 13/1957 ändert sich der Untertitel zielgruppengenauer in "Die Zeitschrift mit dem jungen Herzen. Film - Fernsehen - Schlager", ab Heft 34 des gleichen Jahres entfällt der Untertitel ganz. Da liegt die Auflage des Blattes schon bei 200 000 Exemplaren, und bis Mitte 1959 wird sie weiter auf 523 000 Exemplare klettern. Glücklicher Zufall oder clevere Planung: Der Start des Blattes erfolgte genau in jenen Monaten, in denen ein gewaltiger Schub amerikanischer Produktionen (Rock'n'Roll, Filme wie "Saat der Gewalt") auf ein jugendliches Publikum zielte und das kulturelle Auseinanderdriften der Generationen verstärkte. Bravo stieg ausführlich auf diese Themen ein und etablierte sich für seine Leserinnen und Leser als eine unersetzliche Informationsquelle über die neuesten Stars, Trends und Moden aus den USA. "Jeder hat Bravo gelesen, eigentlich; ich weiß gar nicht, wer keine Bravo gelesen hat. Das war ja überhaupt die Information aus Amerika, was ist 'in' da drüben. Und da konntest du sicher sein: Wenn das in Amerika 'in' war, dann war das irgendwann auch in Deutschland 'in'."(Dirk Ipping, Jahrgang 1947, zitiert nach Maase 1992, S. 106) So begann Anfang Dezember 1956 die Berichterstattung über Elvis Presley, noch bevor dessen Platten in der Bundesrepublik auf dem Markt waren. "Den Durchbruch in der Publikumsgunst sicherte eine gleichzeitig gestartete, mit vielen Fotos versehene Fortsetzungsserie über James Dean, die ein Korrespondent aus Hollywood lieferte. Sie stieß auf derartige Resonanz, dass sie entgegen der ursprünglichen Planung mehrmals verlängert und erst nach 33 Folgen Mitte 1957 abgeschlossen wurde." (Maase 1992, S. 106)

Bemühte sich Bravo in ihrer Anfangszeit durchaus noch, als junge Unterhaltungszeitschrift für die ganze Familie eine möglichst breite Käuferschicht zu erreichen (nach Angaben des Verlegers waren noch 1960 knapp ein Drittel der - überwiegend weiblichen - Leserinnen und Leser älter als 25 Jahre), erwies sich dieser Zielgruppenspagat in der Praxis doch als extrem schwierig durchzuhalten. Da nützten auch ständige Bemühungen, sich in Kommentaren und Appellen von Randale und anderen missliebigen Erscheinungen der Halbstarken- und Rock-'n'-Roll-Kultur abzugrenzen und den vorgestellten Stars das Anstößige und Rebellische zu nehmen, wenig - Bravo bekam schnell das Image eines gefährlichen Jugendverführers. Die amtliche Bestätigung für den kulturell subversiven Geist des Blattes lieferte das Sozialministerium des Landes Rheinland-Pfalz, als es 1959 - anlässlich eines lebensgroßen "Starschnitts" von Brigitte Bardot, hochgeschlossen und aus heutiger Sicht in keiner Weise sexuell aufreizend gekleidet - die Indizierung durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften beantragte. Begründung: Mit den Filmstars gebe Bravo der Jugend falsche Leitbilder (vgl. Maase 1992, S. 110f.).

Als rein kommerzielles Produkt mit der Hauptzielgruppe Jugend hatte Bravo-Chefredakteur Peter Boenisch gar keine andere Wahl, als die neue Jugendkultur aus Amerika, das aus konservativer Sicht Bedrohliche, aufzugreifen. "Bravo musste den Tiger 'Amerikanisierung' reiten." (Maase 1992, S. 109) Dabei war Bravo gar kein revolutionäres Meinungsblatt, das selbst Trends setzen wollte, sondern - nicht anders als heute, knapp 50 Jahre später - es suchte Trends und folgte ihnen. Maßstab für die Berichterstattung war nahezu ausschließlich der kommerzielle Erfolg eines Stars oder Produktes. Um sicher zu sein, den Geschmack des Publikums exakt zu treffen, startete Bravo sogar ab 1957 einmal jährlich unter ihren Leserinnen und Lesern eine Art demoskopische Umfrage, die "Otto-Wahl". Mit Hilfe von Stimmkarten, die natürlich exklusiv dem Heft beilagen, konnten die Bravo-Käufer ihre Lieblingsstars wählen - die dann mit regelmäßigen Stories, Postern, Autogrammkarten usw. in Bravo präsent waren - bis zur nächsten Otto-Wahl.

In den Beiträgen widmete Bravo den Aspekten der Vermarktung genauso viel Platz wie den künstlerischen Leistungen der Stars. Charts - Verkaufshitparaden - und andere kommerzielle Ranglisten ("die größten Einspielergebnisse von US-Filmen", "die höchsten Hollywood-Gagen") wurden ein zentrales Element der Berichterstattung. Der kommerzielle Erfolg wurde so zum Maßstab für künstlerische Qualität und Legitimationsgrundlage für Unterhaltung und Geschmack. Als im März 1957 die Wogen der Empörung über Elvis Presleys "unzüchtige" Musik wieder einmal hochschlugen, listete Bravo (Nr. 12/1957) nur seine amerikanischen Umsatzzahlen auf und kommentierte lapidar: "Zahlen sprechen für Elvis. Schließlich wurden diese Millionen Platten Stück für Stück mit sauer verdienten Dollars bezahlt!" Kommerzieller Erfolg als Gütesiegel - das war neu und musste in einem Land, in dem bereits jeder Schüler lernte, dass Kultur aus purem Idealismus entstehe und nur dem "Wahren, Guten und Schönen" verpflichtet sein dürfe, auf blankes Entsetzen der konservativen Kulturbewahrer stoßen.

Die Halbstarken und Rock-'n'-Roll-Fans sahen das naturgemäß anders. Für sie brachte der "Übergang vom moralischen zum kommerziellen Code" (Lindner 1986, S. 282) in der Beurteilung von Jugendkulturen auch ein Stück "Befreiung von moralisch-pädagogischen Diktaten" (Maase 1992, S. 149). "Staatliche, kirchliche und ideologisch selbst ermächtigte Kulturwächter und ihre Vorstellungen zur Regulierung des geistigen Konsums und des Wertehaushalts der 'Masse' verloren an Einfluss; Medien und Populärkultur konnten im Wechselspiel von Angebot und Nachfrage den Raum des Möglichen erweitern und 'volkserzieherische' Tabus schwächen." (Maase 1992, S. 70)

Die Halbstarken, als Jugendliche besonders sensibel für gesellschaftliche Umbrüche, waren die ersten, die auf den Wandel der Mangel- in eine Wohlstands- und Konsumgesellschaft reagierten und mit dem asketischen Leistungsethos der Nachkriegsgesellschaft brachen. Die Früchte dieser Tat konnten sie selbst allerdings nicht mehr ernten. Ihre Revolte ging den Weg aller symbolischen Protestformen: Die Bilder nutzten sich ab, verallgemeinerten sich, verloren damit den Reiz des Neuen und die Schärfe oppositioneller Abgrenzung zum Mainstream. Die Kulturindustrie stand bereit, um diesen Prozess möglichst schnell und effektiv zu organisieren. Ab Frühjahr 1958 stockt die Zufuhr von rebellischem Rock'n'Roll aus den USA. James Dean lebt nicht mehr, Elvis Presley wird Soldat der US-Army, lässt sich stolz in Uniform und mit Stahlhelm fotografieren, und Bravo erkennt wieder einmal den Trend der Zeit.

Doch andere profitieren von der Pioniertat der Halbstarken und Rock'n'Roller. Jugendliche, die aufgrund ihrer Herkunft aus aufstiegsorientierten Arbeitermilieus, aus Angestellten- und Mittelschichtfamilien mit dem sehr direkten, körperbetonten, männlich-aggressiven Stil der proletarischen Rebellen nichts anfangen konnten, nutzten die neuen Freiräume für ihre eigenen Autonomiebestrebungen. Denn neben den Halbstarken entwickelten sich parallel auch andere Jugendkulturen. Musik stand bei ihnen allen im Mittelpunkt. Doch die Radiostationen der Besatzungsmächte, die für die Jugendlichen damals die Bedeutung hatten wie heute MTV, brachten für ihre in Deutschland stationierten Soldaten nicht nur Rock'n'Roll, sondern auch Rhythm'n'Blues, Soul, Jazz und Swing. Diese Musikrichtungen wurden sehr schichtspezifisch wahrgenommen, wie es der Hanauer Rock'n'Roller Chris Hyde alias Helmut Wenske, Jahrgang 1940, in seiner Autobiographie notiert.

"Wir standen nur auf Rock'n'Roll, auf diesen einfach brutalen, knallharten, kochend heißen, schweißtreibenden, stampfenden Rock'n'Roll. Nicht dieses Dixielandgewichse, nach dem die Muttersöhnchen vom Gymnasium im Konfirmandenanzug am Sonntagnachmittag mit ihrer Irmes beim Tanztee rumhopsten, und auch nicht dieser zickige, blutarme Cool-Jazz-Krampf, bei dem sich die Existentialisten in ihrem Keller am Busdepot einen runterholten." (Hyde 2003, S. 9)

Quellen / Literatur

Bravo 12/1957

Hyde, Chris: Rock'n'Roll Tripper. Berlin 2003.

Lindner, Rolf: Teenager. Ein amerikanischer Traum, in: Deutscher Werkbund e.V. (Hrsg.) 1986, S. 278-283.

Maase, Kaspar: Bravo Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren. Hamburg 1992.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Klaus Farin wurde 1958 in Gelsenkirchen geboren. Er war 1997 Mitbegründer des Externer Link: Archivs der Jugendkulturen in Berlin. Heute ist er Leiter dieses Archivs und arbeitet zudem als Schriftsteller, Journalist und Lektor.