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Dekolonisation im 20. Jahrhundert | (Post)kolonialismus und Globalgeschichte | bpb.de

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Dekolonisation im 20. Jahrhundert

Harald Fischer-Tiné

/ 12 Minuten zu lesen

Nach dem Zweiten Weltkrieg erkämpften sich viele Kolonien ihre Unabhängigkeit. Dekolonisation ist jedoch keine klare Zäsur, die einen abrupten Neustart nach sich zog. Sie ist als Fortsetzung der Geschichte des Kolonialismus zu verstehen.

Dekolonisation als transkontinentales Projekt: Der stellvertretende kubanische Ministerpräsident Raul Castro (links), sein Bruder, Ministerpräsident Fidel Castro und der kubanische Präsident Oswaldo Dorticos am 15. Januar 1966 auf der Abschlusssitzung der Drei-Kontinente-Konferenz in Havanna. Abgeordnete aus 82 Staaten berieten Fragen der Dekolonisation. (© picture-alliance)

Einleitung

Zwischen 1945 und 1975 veränderte sich die globale politische Landkarte grundlegend. Während zum Ende des Zweiten Weltkrieges noch die Hälfte der Landoberfläche von abhängigen Territorien (Kolonien, "Protektoraten", Mandatsgebieten, Dominions etc.) eingenommen wurde, in denen ca. 550-750 Millionen Menschen lebten, war deren Ausdehnung 1975 um mehr als 90 Prozent geschrumpft. Gleichzeitig wuchs die Zahl souveräner Staaten: Bei ihrer Gründung im Oktober 1945 hatte die UNO 51 Mitglieder, 1975 waren es bereits 144. Möglich geworden war diese spektakuläre Entwicklung durch die nahezu gleichzeitige Implosion der großen Kolonialreiche, die teilweise über Jahrhunderte bestanden hatten: Großbritannien, Frankreich, die Niederlande, Belgien, Portugal, die USA und Japan verloren gleichsam im Zeitraffertempo ihre kolonialen Besitzungen in Afrika, Asien, Ozeanien und der Karibik. Der Prozess der Ablösung beherrschter Territorien von ihren jeweiligen "Mutterländern" ging dabei sehr unterschiedlich von statten. In vielen Fällen — Ceylon (heute Sri Lanka), Ghana oder der Tschad wären gute Beispiele — verliefen der Rückzug der Kolonialmacht und die Machtübernahme indigener Eliten weitgehend friedlich. In anderen Konstellationen – z. B. Algerien, Malaya (heute Malaysia) oder Kenia – gingen der politischen Autonomie jedoch jahrelange blutige Auseinandersetzungen zwischen antikolonialen Gruppierungen und der jeweiligen Kolonialmacht voraus. Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen (Korea, Äthiopien) war die politische Autonomie gewissermaßen ein Nebenprodukt des Ausgangs des Zweiten Weltkrieges.

Dieser rapide Kollaps der imperialen Weltordnung stellt jedoch nur eine Dimension des Phänomens "Dekolonisation" dar. Während die Hochphase des historischen Prozesses der Dekolonisation sich zeitlich relativ leicht in die ersten drei Dekaden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einordnen lässt, muss man zeitlich wesentlich weiter zurückgehen, wenn man Dekolonisation als Ideologie oder politisches Programm begreifen möchte, das nicht nur zu politischen Veränderungen, sondern auch zu einem tiefgreifenden Normenwandel in den internationalen Beziehungen führte. Denn oft schon Jahrzehnte vor der formalen Unabhängigkeit asiatischer, afrikanischer, karibischer und ozeanischer Kolonien von ihren jeweiligen "Schutzmächten", bildeten sich sowohl in den kolonisierten Gebieten als auch in europäischen Imperialmetropolen wie London, Paris oder Berlin Gruppierungen und Netzwerke heraus, die den Kampf gegen die koloniale Unterdrückung und Ausbeutung anstrebten. Dabei ergaben sich häufig Bündnisse zwischen antikolonialen Nationalisten und Anhängern von global bzw. transnational operierenden Ideologien wie Marxismus, Liberalismus und diversen Pan-Bewegungen. Nicht selten wurden von den beteiligten Aktivisten insbesondere auch die kulturellen und ideologischen Dimensionen kolonialer Herrschaft thematisiert und neben der Befreiung aus politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten eine geistige Entkolonialisierung gefordert. Wiewohl Kolonialismus und Imperialismus spätestens seit den 1960er Jahren weltweit als diskreditiert gelten, finden sich jedoch nach wie vor Relikte aus der Kolonialzeit nicht nur in Gestalt von Institutionen oder überkommenen Gesetzen, Symbolen und Praktiken, sondern auch in sehr viel subtilerer Form von Denkmustern und Stereotypen in den Köpfen. Deutlich wird dies etwa, wenn die koloniale Unterscheidung zwischen "Zivilisierten" und "Unzivilisierten" Völkern oder Nationen durch eine inhaltlich ganz ähnlich gelagerte Dichotomie zwischen "Entwickelten“ und "Unterentwickelten“ ersetzt wird. Die permanente Reproduktion und Reaktualisierung kolonialer Klischees und eurozentrischer Perspektiven in Politik, Medien, Kultur und Wissenschaft bis in unsere Tage zeigt, dass der Dekolonisationsprozess in dieser Hinsicht offensichtlich noch lange nicht abgeschlossen ist.

Makrohistorische Faktoren: Weltwirtschaften, Weltkriege und Weltordnungen

Streng genommen handelt es sich bei der Dekolonisation nach 1945 um die „dritte Welle“ kolonialer Emanzipationsprozesse. Die amerikanischen und karibischen Kolonialterritorien hatten bereits im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit erkämpft. Die weißen Siedlerkolonien des Britischen Empire (Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika) hatten im 19. bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts zumindest Teilautonomie erlangt. Diese beiden ersten Dekolonisationsschübe unterscheiden sich jedoch in vielfacher Hinsicht von der „dritten Welle“ ab 1945, weshalb sie hier nicht in die Analyse miteinbezogen werden. Der vielleicht augenfälligste Unterschied besteht im wahrhaft globalen Ausmaß der politischen Umwälzungen und der extrem komprimierten Zeitspanne, in der sich die Imperien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf vier Kontinenten auflösten. Etwas vereinfacht lassen sich drei makrohistorische Faktoren benennen, welche die Dekolonisation nach 1945 beförderten: erstens Umbrüche und Umdenken im globalen Handel und der Weltwirtschaft; zweitens vielfältige Verwerfungen, die durch die beiden Weltkriege ausgelöst wurden, und drittens, schließlich, die radikal veränderte geopolitische Konstellation seit Beginn des Kalten Krieges 1947/48. Eine exakte Gewichtung wirtschaftlicher Erwägungen für die Dekolonisation ist ebenso schwer vorzunehmen wie eine präzise Einschätzung der Rolle, welche ökonomische Motive für imperiale Expansion und die Aufrechterhaltung kolonialer Herrschaft gespielt haben. Unbestritten ist jedoch, dass viele koloniale Unternehmungen volkswirtschaftlich gesehen gigantische Verlustgeschäfte für die jeweilige imperiale Macht darstellten. Ökonomisch rentable Kolonien (wie etwa Britisch-Malaya oder Niederländisch Ostindien) stellten eher die Ausnahme als die Regel dar. Zwar profitierten mikroökonomisch zahllose Konzerne, Banken, kleinere Firmen oder einzelne Händler aus den Metropolen fraglos vom kolonialen System. Während der Zwischenkriegszeit setzen in Europa jedoch verstärkt Zweifel an der makroökonomischen Rentabilität von Kolonialimperien ein, die von kostspieligen Armeen und Verwaltungsbürokratien gestützt werden mussten. Die große Weltwirtschaftskrise 1929 wiederum führte vor allem in den empfindlich getroffenen Kolonien (wie z. B. Indochina) zu einem gesteigerten Bewusstsein für die Asymmetrie der existierenden Handelsbeziehungen und beförderte rund um den Globus das Erstarken antikolonialer Bewegungen.

In noch stärkerem Maße wirkten die beiden Weltkriege als Katalysatoren für Kolonialismuskritik und den wachsenden Zulauf antikolonialer Nationalismen. Der Erste Weltkrieg verdient in dieser Hinsicht besondere Erwähnung. Die Kolonialreiche waren von dem ursprünglich europäischen Konflikt in sehr viel stärkerem Maße betroffen, als dies in den konventionellen eurozentrischen Darstellungen der „Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ Erwähnung findet. Sowohl Frankreich als auch Großbritannien setzten auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen Hunderttausende von Kolonialtruppen ein. Die politisierten Eliten in Asien und Afrika erhofften sich, gleichsam als Belohnung für den geleisteten Blutzoll und die massive wirtschaftliche Unterstützung der Kriegsanstrengungen der Entente, weitreichende politische Reformen. In den meisten Fällen (z.B. in Indien und Algerien) blieben die tatsächlichen Zugeständnisse nach dem Krieg weit hinter den Erwartungen zurück, was zu einer Radikalisierung der antikolonialen Bestrebungen führte.

Die massenhafte Präsenz von Asiaten und Afrikanern in Europa zwischen 1914 und 1919 hatte aber auch noch subtilere Folgen. Die persönliche Erfahrung der technisierten Massengemetzel von Verdun, Ypern oder Gallipoli markierten für viele Kriegsteilnehmer ein Ende des europäischen Überlegenheitsnimbus und erschütterten den Mythos von der „Zivilisierungsmission“ Europas nachhaltig. Einige der kolonialen Söldner nutzten ihren Europaaufenthalt in diesem Sinne auch, um sich mit gleichgesinnten europäischen Imperialismuskritikern auszutauschen und zu vernetzen. Diese Tendenz verstärkte sich insbesondere nach den Friedensverhandlungen von Versailles. Diese brachten nicht die erhoffte neue Weltordnung auf Grundlage des vom US-Präsidenten Woodrow Wilson proklamierten „Selbstbestimmungsrechtes der Völker“. Stattdessen blieb die imperiale Weltordnung auch nach 1920 unangetastet. Viele Antikolonialisten erhofften nun den Beistand der nach der Oktoberrevolution von 1917 entstandenen Sowjetunion.

Während des Zweiten Weltkriegs, von dem eine sehr viel größere Zahl von Kolonien direkt als Kriegsschauplatz betroffen war (u.a. Nordafrika, Südostasien), sollten sich alle diese Elemente noch weiter verdichten. Kaum jemand glaubte in Asien und Afrika noch an die Unbesiegbarkeit der Kolonialmächte, nachdem sich die Briten und Franzosen dem Ansturm der Achsenmächte zunächst nicht gewachsen gezeigt hatten. Insbesondere rasche Erfolge Japans gegen die europäischen Kolonialherren in Südostasien machten deutlich, dass die Herrschaft der großen Kolonialmächte auf tönernen Füßen stand. Hinzu kam diesmal auch ein sehr viel stärkerer politischer Druck seitens den selbstbewusster gewordenen USA. Der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt machte seinen britischen Verbündeten klar, dass sein Land als Gegenleistung für die Unterstützung im Krieg den Aufbau einer demokratischen Nachkriegsordnung auf Grundlage des Wilson’schen Selbstbestimmungsrechtes erwartete. Da auch die Sowjetunion den Kolonisierten in Aussicht stellte, sich für ihre Befreiung vom kolonialen Joch einzusetzen, schien das Ende der großen Imperien nach 1945 besiegelt.

Im Zeichen der allgemeinen Rivalität um Macht und geostrategische Vorteile während des Kalten Krieges kam es bereits wenige Jahre später zu einem regelrechten Wettkampf zwischen den Supermächten um Einfluss in den Kolonien bzw. dekolonisierten Staaten. In Indonesien beispielsweise unterstützten die USA die antikolonialen Nationalisten im Kampf gegen die Niederlande, um weiteres Chaos und ein dadurch mögliches Abdriften des Landes ins sozialistische Lager zu verhindern. Der endgültige Beweis dafür, dass die alten Großmächte ihren Status verloren hatten, erfolgte während der Suez-Krise des Jahres 1956. Großbritannien und Frankreich, die Luftlandetruppen nach Ägypten entsandt hatten, um den von Präsident Nasser verstaatlichten Suezkanal zurückzuerobern, wurden durch massive Drohungen der beiden Supermächte USA und Sowjetunion dazu gezwungen, ihre militärische Operation abzubrechen.

Die Auflösung der Kolonialreiche

Bereits ein Jahrzehnt vor der Demütigung der alten Kolonialmächte im Zuge der Suezkrise war die Lawine der Dekolonisation angerollt. Unter der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit wurde im August 1947 das ehemalige Britisch-Indien in die Unabhängigkeit entlassen. Aus der wichtigsten Kolonie Großbritanniens gingen gleich zwei Staaten hervor: die säkulare Indische Union und das sich als Heimstatt für Südasiens Muslime begreifende Pakistan. Der Erfolg der indischen Nationalbewegung unter ihren charismatischen Führern M. K. Gandhi und J. Nehru entfaltete eine weltweite Wirkung. Sowohl die Formen politischer Mobilisation und Organisation als auch Widerstandstechniken gegen den kolonialen Repressionsapparat, die in Indien erprobt worden waren, dienten zahllosen späteren nationalen Befreiungsbewegungen als Modell. Zunächst beschränkte sich die Auflösung der Kolonialreiche dabei weitgehend auf Asien (Indonesien, Ceylon, Burma etc.). Vielerorts traute man den afrikanischen Territorien noch immer nicht zu, sich in absehbarer Zeit selbst zu regieren. Das Fanal für den Aufbruch Afrikas in eine neue Zeit kam erst mit der weltweit viel beachteten Autonomie der britischen Kolonie Ghana (vormals Gold Coast) im Jahre 1957. Weitere Staatsneugründungen in Afrika folgten kurze Zeit später, nachdem der britische Premierminister Harold Macmillan 1960 in einer viel beachteten Rede in Kapstadt festgestellt hatte: "The wind of change is blowing through this continent, and whether we like it or not, this growth of national consciousness is a political fact." Macmillans Statement wurde von den Wortführern antikolonialer Bewegungen weitgehend als Zusage gelesen, nationalistischen Autonomieforderungen künftig nicht mehr entgegentreten zu wollen. Ihr folgte eine ganze Kaskade von Unabhängigkeitserklärungen nicht nur in Afrika.

Etwa zur gleichen Zeit war auch der bereits erwähnte Normenwandel, der den politischen Prozess der Dekolonisation begleitete, weitgehend vollzogen. Dies lässt sich nicht zuletzt an einer Positionierung der UNO ― der nun bereits eine ganze Reihe in die Unabhängigkeit entlassener ehemaliger Kolonien angehörten ― zur Frage kolonialer Herrschaft ablesen. In der vielzitierten Resolution 1514 aus dem Jahr 1960 bekannte die Generalversammlung der Vereinten Nationen, sie sei überzeugt, dass „das Fortbestehen des Kolonialismus die Entwicklung der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit behindert, die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der abhängigen Völker hemmt und dem Ideal […] von einem weltweiten Frieden entgegenwirkt“.

Trotz dieses neuen internationalen Konsensus hielten einige europäische Mächte weiter hartnäckig an ihren kolonialen Besitzungen fest, die sie nun kurzerhand zu integralen Bestandteilen des „Mutterlandes“ erklärten. Ungeachtet aller internationaler Proteste führte beispielsweise Frankreich seinen 1954 begonnenen blutigen Kolonialkrieg in Algerien bis 1962 fort und in Portugal war man sogar erst nach der Nelkenrevolution von 1974 bereit, die Territorien in Afrika (Angola, Mosambik und Guinea-Bissau) aufzugeben, obwohl die seit 1961 ununterbrochen andauernden Kämpfe gegen die lokalen Unabhängigkeitsbewegungen zuletzt fast die Hälfte des portugiesischen Staatshaushaltes verschlungen hatten. Beide Beispiele deuten darauf hin, dass insbesondere Kolonien, in denen eine große Zahl von europäischen Siedlern lebte, wider alle rationalen Erwägungen mit besonderer Zähigkeit und notfalls auch gegen den Druck der Weltöffentlichkeit verteidigt wurden.

Übergreifende Charakteristika

Obwohl es sich bei der großen Dekolonisationswelle des 20. Jahrhunderts also keineswegs um ein homogenes Phänomen handelt, lassen sich, aller historischen und regionalen Spezifika der jeweiligen Fälle zum Trotz, einige überwölbende Charakteristika ausmachen, die zumindest auf die Mehrzahl der Dekolonisationsprozesse zutreffen. Die drei wichtigsten sollen abschließend kurz umrissen werden.

Die erste Beobachtung bezieht sich auf die bereits mehrfach angedeutete und für antikoloniale Bewegungen typische Gleichzeitigkeit von Nationalismus und Internationalismus. Ziel der jeweiligen politischen Kampagnen war in der Regel die Schaffung eines Nationalstaates nach westlichem Vorbild. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden nicht selten breite politische Koalitionen geschmiedet. Diese reichten über Länder-, Sprach- und Kulturgrenzen hinweg und mobilisierten in großem Maßstab auch ideologische Ressourcen aus dem Westen. Die meist an europäischen Universitäten ausgebildeten Emanzipationseliten waren nicht nur in der Lage, sich untereinander und mit westlichen Imperialismuskritikern zu vernetzen, sondern sie griffen auch früh auf westliche Ideologien und Theorieangebote zurück. Das lässt sich unter anderem an der bereits während der Zwischenkriegszeit vorhandenen immensen Zahl von Übersetzungen der Klassiker des Nationalismus und Anti-Imperialismus – von Giuseppe Mazzini über Herbert Spencer und Woodrow Wilson bis Wladimir Lenin – in außereuropäische Sprachen ablesen.

Die Orientierung an in Europa entstandenen politischen Theorien zeigt sich zudem am Engagement vieler Intellektueller und antikolonialer Nationalisten aus Asien und Afrika in der Kommunistischen Internationalen (Komintern), die 1919 von den neuen bolschewistischen Machthabern in Moskau lanciert worden war. Ein weiteres Sammelbecken war die von Vertretern der unorthodoxen Linken in Berlin gegründete Liga gegen Imperialismus (1927-1937). Diese frühen Formen der transnationalen Vernetzung im Kampf gegen Kolonialismus und Imperialismus lebten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Bewegung für afro-asiatische Solidarität fort. Ihren Höhepunkt erreichte sie auf der Konferenz in Bandung (1955), die später in die Bewegung der Blockfreien Staaten (1961) mündete.

Die regionenübergreifende soziale Homogenität der Emanzipationseliten und ihre gemeinsamen ideologischen Referenzpunkte erleichterten fraglos die transnationale horizontale Vernetzung. Sie stellten aber nicht selten ein Hindernis dar, wenn es darum ging, die Nichteliten in ihren jeweiligen Ländern für das nationale Projekt zu begeistern. In vielen Fällen lässt sich bereits während der Phase der Agitation für eine Emanzipation von der Kolonialmacht eine breite soziale, kulturelle und z. T. auch sprachliche Kluft ausmachen zwischen den oftmals in den „entwickelten“ urbanen oder Küstenregionen ansässigen Wortführern antikolonialer Bewegungen und den Volksmassen im ruralen Hinterland, für die sie zu sprechen reklamierten. Dieses Stadt-Land-Gefälle führte dazu, dass der eigenen Bevölkerung nach der Unabhängigkeit nicht selten staatlich gelenkte Modernisierungsprogramme auferlegt wurden, die sich teilweise kaum von spätkolonialen Entwicklungsanstrengungen unterschieden. Auch das koloniale Klischee der vermeintlichen "Unreife" der einfachen Bevölkerung sowie die Überzeugung, der Staat müsse zum Besten seiner Bürger eine paternalistisch-autoritäre Rolle einnehmen, wurden bisweilen geteilt. Das vom indonesischen Präsidenten Sukarno eingeführte System der "gelenkten Demokratie" (1957 -1966) etwa bietet ein anschauliches Beispiel für solche Tendenzen.

Drittens, schließlich, hatten und haben viele der neuen postkolonialen Staaten mit dem kolonialen Vermächtnis zu kämpfen. Dies bezieht sich nicht nur auf die Kontinuität von während der Fremdherrschaft etablierten Institutionen (Armee, Polizei, Justiz, Bildungswesen etc.), sondern auch auf die Hinterlassenschaft von abstrakteren Formen "kolonialer Altlasten". Gemeint sind damit Phänomene wie territoriale Grenzen, Konzepte und Definitionen. Die meisten Nationalbewegungen und nachkolonialen Staaten übernahmen notgedrungen identitätsbezogene Kategorien wie "Stamm", "Kaste", "Religionsgemeinschaft" von den alten Machthabern. Diese Kategorien mochten zumindest teilweise koloniale Konstrukte sein — nichtsdestoweniger waren sie aber im Laufe von Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten eine unleugbare soziale Realität geworden. Das Vorhandensein solcher ausgeprägter Sub-Identitäten beförderte verschiedene Formen von ethno-religiösen Spannungen und Separatismus und machte das nachkoloniale nation-building vielfach zu einer problematischen Angelegenheit.

Wie bereits geschildert, führte die Polarisierung von Bevölkerungsgruppen entlang religiöser Kategorien beispielsweise im Falle Britisch-Indiens bereits im Vorfeld der Unabhängigkeit zur Spaltung. In Westafrika ergaben sich indes Spannungen zwischen den westlich orientierten Trägern der Nationalbewegung und den "chiefs", den politischen Eliten des Hinterlandes, die von den Kolonialherren bewusst als "traditionelle Häuptlinge“ umworben und von Modernisierungsmaßnahmen ausgespart worden waren. Auch die Präsenz von im Zuge imperialer Wirtschafts- und Arbeitspolitik zugewanderten ethnischen Minderheiten kann als ein solches koloniales Vermächtnis angesehen werden. In Britisch-Malaya etwa waren zwischen 1870 und 1930 derart viele chinesische und tamilische "Kulis" für die schwere Arbeit im Bergbau und auf Plantagen importiert worden, dass die muslimische malaiische Bevölkerung am Vorabend der Unabhängigkeit eine ethnische und religiöse Minderheit in ihrem eigenen Land darstellte. Spannungen und offene Konflikte waren durch diese demografischen Verschiebungen vorprogrammiert. Diese wenigen Beobachtungen legen einmal mehr nahe, dass man Dekolonisation nicht als eine klare Zäsur oder einen abrupten Neustart begreifen sollte, sondern vielmehr als Teil der weiteren Geschichte des Kolonialismus — und damit als „un passé qui ne passe pas“ (eine Vergangenheit, die nicht vergeht).

Literatur:

  • Duara, Prasenjit, (ed.), Decolonization: Perspectives from now and then, London-New York: Routledge, 2004

  • Jansen, J.C. und Osterhammel, J., Dekolonisation: Das Ende der Imperien, München: C.H. Beck, 2013

  • Kruke, Anja (ed.), Dekolonisation: Verflechtungen und Prozesse, 1945-1990, Bonn: Dietz, 2009

  • Shepard, Tod, Voices of Decolonization: A Brief History with Documents, Boston and New York: Bedford St. Martins, 2015

  • Westad, Odd Arne, The Global Cold War: Third World Interventions and the Making of our Times, Cambridge: Cambridge University Press, 2007

Prof. Harald Fischer-Tiné ist Professor für die Geschichte der modernen Welt an der ETH Zürich.