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"Life on the border" – Filmbesprechung | "Life on the border" | bpb.de

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"Life on the border" – Filmbesprechung

Marguerite Seidel

/ 6 Minuten zu lesen

Der Film "Life on the border“ präsentiert sieben Kurzfilme von Kindern und Jugendlichen, die in den Flüchtlingslagern im Norden Syriens und des Irak Unterschlupf vor Krieg und Gewalt gefunden haben. Das Projekt wurde von dem kurdisch-iranischen Regisseur Bahman Ghobadi umgesetzt.

Ein Filmstill aus "Life on the border" - im letzten der sieben Kurzfilme "Serenade der Berge" soll Zohur überzeugt werden wieder zu singen. (© eksystent distribution filmverleih )

Film als Medium des unmittelbaren Erzählens

Als die Milizionäre des sogenannten Interner Link: "Islamischen Staates“ (IS) im Sommer 2014 begannen, in die vorwiegend kurdisch und Interner Link: jesidisch besiedelten Gebiete Interner Link: Syriens und des Interner Link: Irak vorzudringen, flüchteten Tausende von Menschen in Richtung Interner Link: Türkei. Im Grenzgebiet entstanden Flüchtlingslager, in denen die Geflüchteten seither unter humanitär schwierigen Bedingungen mit ihren traumatischen Erinnerungen leben. Um es Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen, ihre Geschichten direkt zu erzählen, initiierte Bahman Ghobadi Filmprojekte in verschiedenen Lagern nahe der umkämpften Städte Kobanê und Sindschar.

Über mehrere Monate hinweg lernten die 12- bis 14-jährigen Teilnehmenden mit Digitalkameras umzugehen und die Grundlagen filmischen Erzählens kennen. Abschließend entwickelten und drehten sie Kurzfilme in Eigenregie, jeweils begleitet von einem beratenden Erwachsenen. Die Zusammenstellung der einzelnen Werke zum Omnibusfilm – einem Film, der aus aneinandergereihten Kurzfilmen mehrerer Regisseur-/innen besteht – übernahm Externer Link: Ghobadis Produktionsfirma Mij Film, ebenso wie den Schnitt und die musikalische Untermalung der einzelnen Beiträge. Mij Film widmet sich wie Ghobadis eigene Regiearbeiten (etwa der preisgekrönte Film "Schildkröten können fliegen“, 2004) speziell dem kurdischen Filmschaffen. Über das Medium Kino soll das mit schätzungsweise 27 Millionen Menschen weltweit größte Volk ohne eigenes Staatsgebiet eine international hörbare Stimme erhalten.

Einladungen zum Hinschauen

Jeder der sechs sonst inhaltlich unterschiedlichen Kurzfilme in "Life on the border“ beginnt mit einer Einladung des Kinopublikums durch die junge Regisseurin oder den jungen Regisseur: "Was ich mir von dir wünsche ist, dass du kommst und dir mein Leben anschaust.“ Die Kinder und Jugendlichen sprechen in Großaufnahme vor der Kamera und stellen sich und ihre Kriegserlebnisse kurz vor. Durch die direkte Ansprache treten Zuschauende und Filmemacher-/in miteinander in Kontakt. Erst danach begibt sich die Kamera auf den Fersen der Protagonist-/innen ins Flüchtlingslager und folgt ihnen auf den Trampelpfaden zwischen den Zelten hinein in die verschiedenen Geschichten.

(Über-)Leben in Not

Im ersten Beitrag "Sindschars Geliebte” filmt Hazem, wie sich der 13-jährige Birhat um die Großmutter und seine kleine Schwester kümmert, die nach ihrer Gefangenschaft beim "Islamischen Staat“ schwer traumatisiert ist. Die Kamera folgt Birhat aus dem Inneren des Zeltes zu Helfern und Ärzten. Sie beobachtet ihn beim Wäschewaschen und begleitet ihn durch Regen und klebrigen Matsch zum Wasser holen. Zwischendurch ertönt Flugzeuglärm, der Birhats Schwester in Angst versetzt. Zum Spielen bleiben den beiden Kindern bloß Konservendosen. Eine Konservendose ist es schließlich, mit der Birhat die Schatten der unheilvollen Flugzeuge gefangen nimmt. Die dokumentarischen Aufnahmen von Alltagsverrichtungen zeigen, dass Birhat das Nötigste im Camp nur unter großen Mühen schaffen kann. Seine symbolische Geste am Schluss birgt allerdings die Hoffnung, dass er durch seine Nähe der Schwester vielleicht mehr helfen kann als die Ärzte und Medikamente.

Auch die Jungen Sami, Diar und Delovan verdeutlichen in ihren Filmen mit einer Mischung aus dokumentarischen und nachgestellten Szenen, dass sie im Camp zwar körperlich in Sicherheit sind, aber unter harten Bedingungen. In "Brot und Joghurt“ müssen der 14-jährige jesidische Kurde Sami und seine Eltern mit der schrecklichen Gewissheit leben, dass die große Schwester vom IS verschleppt wurde. Fernsehnachrichten und der Bericht einer aus der Gefangenschaft geflüchteten Frau legen es nahe: Die Schwester ist entweder Missbrauch und Gewalt ausgesetzt oder längst tot.

Auf der Suche nach Milderung

In "Papas Augen“ verarbeitet der 13-jährige Diar die Erlebnisse seiner Familie bei einem Hausbrand während der Schlacht um die nordsyrische Stadt Kobanê. Um das Leid seines von Kopf bis Fuß bandagierten Vaters zu mildern, sucht er im Camp erfolglos nach einer passenden Brille, bis sich eine ältere Frau mit dem bezeichnenden Namen Fatima erbarmt und ihm ihre Brille gibt. Mohameds Tochter Fatima wird im Islam als sündenfreies Vorbild verehrt. Die oft auf Bildern, Amuletten oder Schmuck abgebildete "Hand der Fatima“ schützt vor dem "bösen Blick“. Die Brille im Film stellt eine Geste der Menschlichkeit dar, in einer Lage, in der die Dinge des täglichen (Über-)Lebens äußerst knapp sind und es kaum etwas anderes zu teilen gibt, als gegenseitige Unterstützung und Solidarität.

In "Himmel und Medikation“ erzählt Delovan von einer ähnlich aussichtslosen Suche nach Tabletten für seinen kranken Vater. Während das Leben im Flüchtlingslager weitergeht, die Kinder Fußball spielen und auch Feste gefeiert werden, unterbrechen die Menschen immer wieder ihre Verrichtungen, um nach Flugzeugen mit Medikamenten Ausschau zu halten.

Fiktionalisierung zur Darstellung der Realität

Dass sich in "Life on the border“ Dokumentarisches häufig mit nachgestellten Szenen und Fiktionalisierungen paart, um sich dem Erlebten zu nähern, wird in den Filmen von Besameh, Mahmod und Zohur besonders deutlich. So wählt Besameh, Jesidin aus Sindschar, für ihren Film "Auf der Suche nach der Wahrheit“ zunächst eine journalistische Herangehensweise. Ihre Familie hat Besameh bei Angriffen des IS verloren. Auf der Flucht erlitt sie Verletzungen durch eine Landmine. Seither fehlt ihr die linke Hand. Im Camp bittet sie nun andere Frauen und Mädchen, ihrerseits von ihren Erlebnissen erzählen. Diese winken stumm ab oder schreien fast frontal in die Kamera. Am Ende kulminieren die Aussagen in einem Klagelied und kollektivem Weinen. Die Realität entgleist in die Poesie und berührt umso mehr, indem der Gesang Trauer, Wut und Schmerz pointiert.

Mahmod hingegen kehrt für seinen Film "Richtung Heimat“ zurück in seine Stadt Kobanê, die nach der Befreiung vom IS völlig zerstört ist. Er inszeniert, wie seine Schwester und er den toten Vater in den Trümmern ihres Hauses finden und auf dem Friedhof zwischen den anderen Gefallenen begraben. Die filmisch nacherzählten Erlebnisse der Kinder erfahren vor der Kulisse des tatsächlichen Schauplatzes eine bedrückende Gegenwärtigkeit

"Serenade der Berge“, der Film von Zohur, schließt "Life on the border“ ab. Es geht um eine Gruppe Musiker, die ein Lied über die verzweifelte Lage der Geflüchteten rund um Sindschar komponieren. Sie suchen im Camp nach einer Sängerin und finden Zohur. Doch das Mädchen singt nicht mehr, seitdem ihre Eltern im Kampf gegen den IS umgekommen sind. Während sie ihr Verstummen erklärt, setzen die Filmbilder der Enge und dem Elend in den Zelten die Weite der Felder und Berge außerhalb des Camps entgegen. Die Schönheit der Landschaftsaufnahmen rund um das Flüchtlingslager wirkt wie ein Echo der verlorenen Heimat und Freiheit.

Filmisches Kaleidoskop über die Folgen von Krieg

Anders als in einem Spiel- oder Dokumentarfilm aus der Hand eines/r Regisseurs/in erlaubt die Bündelung unterschiedlicher filmischer Handlungen und Handschriften zu einem Omnibusfilm eine systematisch multiperspektivische Annäherung – in diesem Fall an die Verfolgung der Kurden und Jesiden durch den IS und die Folgen für die betroffenen Menschen. Individuelle Schicksale werden sichtbar und fügen sich kaleidoskopartig zu einem Puzzle zusammen, das die Unmenschlichkeit von Krieg und kriegerischen Konflikten facettenreich offenlegt.

Wie für das Genre üblich, stehen die einzelnen Beiträge von "Life on the border“ für sich allein, aber sie sind dennoch inhaltlich verbunden. Über die thematische Gemeinsamkeit der Flucht- und Kriegserfahrung hinaus, spiegelt sich der Zusammenhang der Filme auch stilistisch in ähnlichen Schauplätzen, Figuren und Motiven. Trauernde Frauen, abwesende oder verwundete Männer und verwaiste Kinder, die Erwachsenentätigkeiten übernehmen, sind die zentralen Protagonistinnen und Protagonisten. Sie zeugen von der Zerstörung der Familie. Auch die beengten Zeltinnenräume und die hohen Zäune um die Flüchtlingslager sind in nahezu allen Filmen zu sehen. Sie symbolisieren den Schutz und zugleich die Gefangenschaft der Menschen in den Camps. Im Kontrast dazu steht das wiederkehrende Motiv des Sonnenuntergangs als einzig feste Größe im Leben, als Hoffnungsstreif und Sehnsuchtsbild.

Die Geschichten der Kinder sind erschütternd. Zum Teil verstehen sie selbst noch nicht das Ausmaß der Verbrechen, die um sie herum geschehen – beispielsweise Birhat, der nichts Genaues über die Krankheit seiner Schwester weiß. Auch die anderen Filme in "Life on the border“ bleiben stets auf der Wahrnehmungs- und Reflexionsebene der Kinder. Fakten werden nicht umfassend vermittelt, dafür aber finden die jungen Regisseurinnen und Regisseure eindrückliche und aussagekräftige Bilder für ihre Gefühle und Gedanken und bieten sich einem gleichaltrigen Kinopublikum als Identifikationsfiguren an. Für die Dauer ihrer Filme lassen sie so die Zuschauendenden tatsächlich an ihrem Leben teilhaben.

Fussnoten

Die freie Autorin und Redakteurin Marguerite Seidel hat Filmwissenschaften in Berlin, Paris und Montpellier studiert und war anschließend als Volontärin im Filmbereich der Bundeszentrale für politische Bildung, bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin für den Jugendfilm-Wettbewerb "Generation" und im Deutsch-Mosambikanischen Kulturzentrum/Goethe-Zentrum in Maputo tätig. Als Autorin und Redakteurin arbeitet sie im Bereich Film, Filmvermittlung und Fremdsprachen. Seit 2016 unterrichtet sie zudem Deutsch als Fremdsprache in einem Hamburger Gymnasium.