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Blow Up | Der Filmkanon | bpb.de

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Blow Up

Rainer Rother

/ 6 Minuten zu lesen

Die Swinging 60s aus Sicht eines Photographen: Das Portrait einer Generation und eine philosophische Reflexion über das Verhältnis von Realität und ihrer Reproduktion in Bildern.

"Blow Up", 1966 (© Bertz + Fischer Verlag / original copyright holders)

"Blow Up" (R: Michelangelo Antonioni, 1966) wirkte bei seinem Erscheinen vor allem durch seinen Blick auf das Swinging London der 60er Jahre aufregend. Antonioni, zunächst einer der Hauptvertreter des Neorealismus, danach aufmerksamer und zugleich kühler Beobachter psychischer Dispositionen in der modernen Welt, wandte sich 1966 einer ganz neuen Kultur zu, dem Pop, der in London seine definitive Hauptstadt besaß.

Für diesen ersten Film, den er nicht in Italien realisierte, bot der Regisseur zudem bekannte Stars der Zeit auf: Veruschka von Lehndorff, das erste deutsche Supermodel, herb und kühl und schön, die Ikone der damaligen Modezeitschriften, sorgt als Verkörperung der zugleich intelligenten und selbstbewussten Frau für eine aufregende Szene, in der sich ihr Posieren für den Fotografen zum veritablen Flirt zu entwickeln scheint. Die Yardbirds haben zum Ende des Films ebenfalls einen ausführlichen Cameo-Auftritt, den sie spektakulär gestalten. In einem Club spielen sie ihre Fans fast in Trance, und Jeff Beck zertrümmert zum Höhepunkt der Show mitleidlos seine Gitarre, deren Einzelteile er dann ins schier ausflippende Publikum schmeißt. Models, Popmusiker, vergnügungssüchtige Teens und Twens, der spezifische Schick der Mode und der Einrichtung, all das ist in "Blow Up" vorhanden. Man kann den Film deswegen vor allem als Ausdruck des Zeitgeistes verstehen, als eine Sammlung von Beobachtungen aus der Hauptstadt des Pop zu seiner Blütezeit, gesehen von einem kühl analysierenden italienischen Autorenfilmer.

Doch ist Antonionis Film zugleich auch eine Reflexion über die Wahrnehmung von Film, über die Realität von Bildern, hier zunächst der Fotos, die von der Hauptfigur, dem professionellen Fotografen Thomas (David Hemmings), bei allen möglichen Gelegenheiten geschossen werden. Der Film folgt Thomas 24 Stunden auf seinem Weg durch London. Sein erstes Auftreten lässt seine Profession noch nicht erkennen: Mit einer Gruppe Obdachloser verlässt er das Nachtasyl, in ebenso zerrissener Kleidung wie sie, scheinbar dazugehörig. Doch der Fotograf gehört nirgends dazu, ist überall Beobachter, lauert auf das Bild des Augenblicks, um es zu fixieren. Als Thomas seinen schicken Sportwagen besteigt, offenbart er seine wirkliche Rolle. Er hat in dem Asyl Fotos geschossen, für ein sozialkritisches Buch, wie man später erfährt. Doch Unbeteiligtsein ist etwas anderes als Engagement – Thomas fotografiert ebenso professionell das Supermodel, wie er jede andere Gelegenheit, zum Beispiel einen Spaziergang im Park, für Aufnahmen nutzt.

Die Erzählung in "Blow Up" beginnt episodisch, reiht gewissermaßen aneinander, was die Hauptfigur binnen eines Tages erlebt. Insofern greift Antonioni auf Muster des neorealistischen Films zurück. Zugleich verschärft er die Fremdheit der einzelnen Episoden. Sie gehen nicht eigentlich auseinander hervor, denn sie verbindet nichts als die Hauptfigur selbst.

Thomas re-agiert hier gewissermaßen immer nur, wird daher von der Situation dominiert. Der Fotograf reagiert spontan – nicht nur beim Blick durch den Sucher. Er stößt in einem Antiquitätengeschäft zufällig auf einen hölzernen Propeller und will ihn unter allen Umständen haben, noch am gleichen Tag. Als der massige Propeller ihm dann geliefert wird, hat er ihn schon längst wieder vergessen. Ähnlich agiert er in der Clubszene, stürzt sich mit den anderen Fans auf die Reste von Jeff Becks Gitarre, erobert den Gitarrenhals und bringt sich damit in Sicherheit, ins Freie – wo er jedes Interesse am Objekt verliert, es achtlos wegwirft. Weil dieser Fotograf sozusagen ganz auf den Augen-Blick hin orientiert ist, in ihm findet, was er braucht, wirken die Episoden aufgereiht. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen ihnen, weil sie auch für die Hauptfigur nie die Folge aus dem Vorherigen sind, sondern nur eine neue Situation, der entsprechend er sich verhält.

Unmerklich schält sich aus diesen Episoden eine Handlung heraus, die sehr strikt und konsequent geordnet wirkt. Ausgangspunkt ist die heimliche Beobachtung eines vermeintlichen Liebespaares im Park. Die dort geschossenen Fotos scheinen Thomas, wie er seinem Agenten erläutert, geeignet für den Umschlag des geplanten Buches mit Reportage-Aufnahmen, denn die von ihnen ausgehende friedliche Stimmung könnte die Härte der anderen Fotos mildern. Doch in diesen harmlos wirkenden Aufnahmen steckt mehr, als der erste Blick freigibt. Thomas wird dessen gewahr, als die Frau aus dem Park (Vanessa Redgrave) zu ihm ins Haus kommt, um das Negativ für sich zu fordern. Offenbar fühlt sie sich ertappt. Thomas gibt ihr einen Kleinbildfilm – mit der Hoffnung auf ein sexuelles Abenteuer. Die Frau verschwindet.

Nun erst beschäftigt sich Thomas wirklich mit dem Film. Der unverhofften Besucherin hatte er einen falschen ausgehändigt. In kleinen Schritten entwickelt er aus den Einzelbildern ein neues Verständnis der zuvor beobachteten und als idyllisch eingeschätzten Situation. Seine Mittel sind die Vergrößerung und die sequenzielle Anordnung der Aufnahmen – er liest die Abzüge wie Einzelbilder eines Films und verändert dabei die Einstellungsgröße, um das jeweils Wichtige im Ausschnitt zu haben. Die Montage hebt dieses "Filmlesen" hervor, an entscheidenden Punkten seiner Re-Interpretation des Gesehenen und Fixierten folgen die Bilder aufeinander wie die eines von mehreren Kamerapositionen und mit verschiedenen Objektiven aufgenommenen Films. Der schweifende Blick des Fotografen wandelt sich in den gebannten des Zuschauers – und aus der Idylle schält sich langsam eine Kriminalgeschichte heraus.

In einem ersten Schritt entdeckt Thomas eine neue Figur: Im Gebüsch versteckt erscheint in einer Vergrößerung ein Mann, der wie Thomas das Geschehen beobachtet. Noch stärkere Vergrößerung bringt schließlich eine Pistole an den Tag – und Thomas versteht, was er vorher sah, nun völlig anders. Es scheint ihm, er habe unwissentlich, durch seinen Besuch im Park, einen Mord verhindert.

An diesem Punkt unterbricht erneut eine Episode die in Gang gesetzte Erzählmaschinerie – zwei Teenager besuchen Thomas, um sich fotografieren zu lassen, vermutlich in der Hoffnung auf eine Karriere. Thomas balgt mit den Mädchen, schläft mit ihnen – und vergisst sie plötzlich, als sein Blick erneut auf die Vergrößerungen fällt. Wieder unterzieht er sein Material einer Analyse, verändert es, bringt es in eine neue Ordnung. Am Ende steht eine andere Geschichte: Thomas glaubt nun sicher, dass er keinen Mord verhindert hat, sondern vielmehr unwillentlich Zeuge eines Verbrechens geworden ist.

Ein zweiter Besuch im Park bringt Gewissheit. Thomas findet eine Leiche. Es ist der ältere Mann, der am Vormittag scheinbar so friedlich und glücklich mit der Frau im Park war. Aufgeschreckt verlässt Thomas den Ort, gerät in das Konzert der Yardbirds, beendet die Nacht auf einer mondänen Party, auf der er auch Veruschka wiedertrifft. Am Morgen zieht es ihn erneut in den Park, inzwischen ist aber von der Leiche keine Spur mehr vorhanden, ja es scheint zweifelhaft, ob sie überhaupt jemals existiert hat.

"Blow Up" hat bis hierhin aus einer episodischen Reihung eine spannungsvoll aufgebaute, linear geführte Kriminalgeschichte entwickelt, den schweifenden Blick des Fotografen in den gebannten des Detektivs verwandelt. Der Film bezieht sich nun auf sich selbst als Spiel mit Blicken und Erzählweisen. Er endet mit einer "Vorführung" und damit einer letzten Wendung zum Thema der Wahrnehmung. Die Studenten, denen Thomas schon tags zuvor nach dem Verlassen des Asyls begegnet war, treffen sich auf einem Tennisplatz im Park. Dort führen sie die Pantomime eines Tennismatchs auf, ohne Schläger und Ball – zwei als "Spieler", die anderen als "Zuschauer". Thomas stößt hinzu, betrachtet zunächst ratlos, dann amüsiert das Geschehen und reagiert allmählich darauf. Das hilflose Achselzucken eines "Spielers" nach einer missglückten Aktion entlockt ihm ein Lächeln. Dann wird ein schlechter Schlag gespielt, der imaginäre Ball, von der Kamera verfolgt, scheint weit außerhalb des Feldes auf dem Rasen gelandet zu sein. Thomas folgt der Aufforderung, ihn zurückzuwerfen, und wird nun selbst Akteur im Spiel; er lässt sich auf dessen Regeln ein. Die Kamera folgt – wie nun auch Thomas – den weiteren Aktionen wie einem wirklichen Match, sogar die Geräusche vom Auftreffen des Balles auf Schläger und Boden sind zu hören. Die Imagination, anerkannt vom einzigen Zuschauer, der nicht Teil des Imaginierten war, wird für ihn wirklich.

Schließlich wird in der Schlusseinstellung – einer Totalen, die Thomas in Aufsicht allein auf dem Rasen zeigt – die Figur quasi ausgelöscht, in einer langsamen Überblendung auf den Rasen. Der Film löst seine Figur auf, verabschiedet sich von ihr. Die Konstruktion ist an ihr Ende getrieben, der Schlusstitel erscheint. Die Konstruktion, die "Blow Up" selbst ist, macht sich durchsichtig, auf eine elegante, fast spielerisch zu nennende Weise.

Interner Link: Filmkanon kompakt: Blow Up

Fussnoten

Weitere Inhalte

Nach der Promotion 1988 wurde er Leiter der Kinemathek des Deutschen Historischen Museums und Ausstellungskurator. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Filmgeschichte, u.a. "Leni Riefenstahl. Die Verführung des Talents" und "Der Weltkrieg 1914-1918. Ereignis und Erinnerung". Seit 2001 ist er Mitglied der Auswahlkommission für den Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele Berlin und seit 2006 künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek und Leiter der Retrospektive der Berlinale.