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Fußball als Diskriminierungsagent Die Situation im Bundesligafußball

Martin Winands

/ 24 Minuten zu lesen

Fan-Initiativen haben maßgeblich zu einer gemeinschaftlichen Positionierung gegen Diskriminierung im Fussball beigetragen. Warum bleiben kritische Äußerungen im Stadion immer noch ein Thema und welche Rolle spielt das männlich geprägte Freund-Feind-Schema des Fußballs?

2006: Bayern-Fans zeigen ihr Engagement gegen Diskriminierung mit einem Spruchband: "Eine Rote Karte löst nicht das Problem - in der Gesellschaft muss was geschehen." (© imago/Camera 4)

Die gesellschaftlichen Hintergründe

Bei Diskriminierungen im Fußballstadion handelt es sich keinesfalls um ein reines Fußball- oder Sportphänomen, wenngleich der Fußball Konstellationen aufweist, die solche Verhaltensweisen begünstigen (siehe unten). Vielmehr wird aus einem gesellschaftlichen Vorrat geschöpft, der Diskriminierungs- und Ausgrenzungsmechanismen bereithält, denn Gesellschaft findet sich – wenn auch in abgeänderter Form – im Stadion wieder. Deshalb ist es zunächst sinnvoll, Diskriminierungen gesellschaftlich einzuordnen, um einen Überblick über die Phänomene zu erhalten. Erst dann bietet sich eine Diskussion der Bedeutung von Diskriminierung für den Fußball unter Berücksichtigung historischer Gesichtspunkte an.

Bereits der Blick auf die etymologische Herkunft des Begriffs zeigt, dass Diskriminierungen eine Distinktionsfunktion übernehmen: Diskriminierung stammt vom lateinischen Wort "discriminare“ ab, was so viel wie "absondern“ und "trennen“ bedeutet. Ursprünglich wertneutral verwendet, ist der Begriff heute negativ belegt. Diskriminierungen können entweder einzelne Personen oder Gruppen herabwürdigen und dabei ganz unterschiedliche Formen annehmen. Sie müssen nicht zwangsläufig offen artikuliert werden oder sich gar in feindseliges, gewalttätiges Handeln niederschlagen, wie wir es im Rechtsextremismus erleben, sondern können genauso Teil menschlicher Einstellungen sein. In diesem Beitrag spielen Einstellungen allerdings nur bedingt eine Rolle.

Adressaten diskriminierender Herabsetzungen sind sowohl Personen beziehungsweise Gruppen anderer ethnisch-kultureller Herkunft als auch Angehörige der eigenen ethnisch-kulturellen Gruppe. So tauchen neben sehr bekannten Diskriminierungsmustern wie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus auch solche auf, mit denen zum Beispiel Homosexuelle (Homophobie), Frauen (Sexismus) oder Behinderte (Abwertung von Behinderten) ausgegrenzt werden. Ausgehend von der sozialen Ungleichheit der Menschen im Hinblick auf Status, Herkunft, Aufstiegschancen etc. können gesellschaftliche Verschiebungen (zum Beispiel Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, Zunahme des Konkurrenzkampfes) zu Verschärfungen solcher Ungleichheiten führen. In der Folge kann die Ideologie der Ungleichwertigkeit als Bewertungs- und Hierarchisierungsinstrument „eine Legitimationsfunktion für Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt" gegenüber schwachen Gruppen übernehmen. Menschen werden demnach zum Beispiel im Hinblick auf ihre kulturelle und religiöse Herkunft oder wirtschaftliche Nützlichkeit bewertet.

Die gesellschaftliche Sensibilität für derlei Diskriminierungen hat sich in den vergangenen Jahren erheblich erhöht und wird darüber hinaus durch rechtliche Maßnahmen begleitet. Im Jahr 2006 wurde beispielsweise die Antidiskriminierungsstelle des Bundes eingerichtet und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (umgangssprachlich: Antidiskriminierungsgesetz) verabschiedet. Offene Diskriminierungen sind daher nicht nur gesellschaftlich weitestgehend unerwünscht, sondern werden auch gesetzlich verfolgt. Zudem haben sich in der Gesellschaft wesentlich liberalere Umgangsformen mit Blick auf Minderheiten etabliert, sodass heutzutage beispielsweise homosexuelle Spitzenpolitiker oder solche mit Migrationshintergrund vielfach akzeptiert werden. Ebenso haben Untersuchungen zur institutionellen Diskriminierung (vor allem in Schulen) zu einer Diskussion über die Benachteiligung verschiedener Bevölkerungsgruppen in institutionellen Kontexten geführt.

Studien zeigen allerdings, dass diskriminierende Einstellungen in verschiedenen Bevölkerungsschichten durchaus vorhanden sind – wenngleich in unterschiedlichem Maße. So wies die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine Lüders, im Frühjahr 2012 darauf hin, dass beispielsweise Rassismus nicht zu einem reinen Randphänomen verklärt werden sollte, da er auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft auftaucht.

"Rassismus ist kein Randphänomen"

Studien zeigen hingegen, dass diskriminierende Einstellungen in verschiedenen Bevölkerungsschichten durchaus vorhanden sind – wenngleich in unterschiedlichem Maße. So wies die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine Lüders, im Frühjahr 2012 darauf hin, dass beispielsweise Rassismus nicht zu einem reinen Randphänomen verklärt werden sollte, da er auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft auftaucht.

Quelle: Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2012

So gibt es in verschiedenen Gesellschaftsgruppen – nicht nur in radikalen Szenen – zumindest eine erhebliche Skepsis gegenüber Zuwanderern und Zuwanderinnen sowie damit verbunden eine Diskriminierung. Dies belegen die Proteste des islamkritischen Pegida-Bündnisses in verschiedenen Städten Deutschlands. Aber auch die massiv gestiegene Anzahl der Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte (z. B. Brandanschläge) im Jahr 2015 geben Anlass zur Sorge. Die Flüchtlingsbewegungen aus Kriegs- und Notstandsgebieten stellen nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa eine nicht nur politische, sondern auch gesellschaftliche Herausforderung dar, entlang derer sich erhebliche Konflikte entzünden.

Von diesen Vorgängen ist auch der Fußball nicht unberührt. Insbesondere die sogenannte HoGeSa-Bewegung (Hooligans gegen Salafisten) ist gegenwärtig darum bemüht, die Konflikte um Zuwanderung (z. B. Schüren von Ängsten vor ''Islamisierung“) mit dem Fußball zu verbinden. Doch auch losgelöst von der extremen HoGeSa-Gruppierung taucht in gesellschaftlichen Debatten immer wieder das Fußballstadion als idealer Nährboden für Beleidigungen, Diskriminierungen und Feindseligkeiten von und gegenüber Minderheiten auf. Insbesondere das fußballspezifische Setting hat einen begünstigenden Einfluss auf Ausgrenzungen und Abwertungen. Es lohnt deshalb, dieses Setting zu betrachten, um die Rolle des Fußballs im Kontext von Diskriminierungen zu verstehen.

Fußball als bipolares Konfliktsystem

Kontrahenten auf dem Platz. (© imago/MIS)

Wie viele Sportarten ist der Fußball durch das Aufeinandertreffen zweier konkurrierender Mannschaften gekennzeichnet, für die es vor allem um eines geht: den Sieg. Schon den Kinder- und Jugendabteilungen vieler Amateurvereine ist dieses System immanent. Siege verschaffen Erfolgserlebnisse und Ehre, Niederlagen hingegen bedeuten Frust und Enttäuschung. Diese Erfahrungen werden unterschiedlich verarbeitet und können sich in Aggressionen, Gewalt und Diskriminierungen niederschlagen.

Verschärft hat sich diese Bipolarität in den vergangenen fast 50 Jahren seit der Gründung der Fußball-Bundesliga im Jahre 1963, in denen der Fußballsport eine beispiellose Professionalisierung und Kommerzialisierung erlebt hat. Waren noch in den Vorkriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahren Sieg oder Niederlage nicht existenziell bedeutsam, hat sich dies erheblich verändert. Heute können im Bundesligafußball Siege große finanzielle Gewinne einbringen und Niederlagen schwere Verluste bescheren, die Vereine an den Rand des Abgrunds führen können. Gerade auch in den europäischen Wettbewerben wie der Champions League werden enorme Summen umgesetzt und Einnahmen getätigt. Kurzum: Im Fußball – vor allem im Profibereich – zählt nur der Sieg. Der Konflikt zwischen zwei Mannschaften ist daher in der Struktur des Spiels verankert. Entsprechend ruppig sind mitunter die Umgangsweisen auf dem Spielfeld. Es wird gekämpft, gefoult, gebrüllt und beleidigt – alles im Dienste des Erfolgs der eigenen Mannschaft und der Niederlage des Gegners. Damit passt sich der Fußball dem vorherrschenenden Wettbewerbs/Konkurrenz-Modell des Marktes im Kapitalismus an, wo Leistungs- und Erfolgsorientierung bedeutsame Eigenschaften sind, um sich im Konkurrenzkampf zu behaupten.

Der Wechsel des Schalker Torwarts Manuel Neuer zum FC Bayern löste bei den Fans beider Vereine starke Kritik aus. (© imago/Kolvenbach)

Die aus der bipolaren Kategorisierung resultierenden Konflikte finden sich nicht nur auf dem Platz, sondern auch auf den Zuschauerrängen. Dort treffen die jeweiligen Anhänger im Rahmen des sportspezifischen Settings aufeinander und unterstützen ihre Mannschaft. Die Bipolarität begünstigt im Besonderen die Ausbildung von Feindbildern, die mancherorts derart tief verankert sind, dass von "Hassgegner" oder "Erzfeind" gesprochen wird. Dass es sich dabei nicht nur um inhaltsleere Worthülsen handelt, zeigen zum einen Zuschauerausschreitungen rivalisierender Vereine. Zum anderen werden Sprechchöre und Gesänge eingesetzt, um den Gegner zu attackieren. Derlei Artikulationen haben einen Vorteil: Sie sind – im Gegensatz zu dem für körperliche Auseinandersetzungen benötigten, unmittelbaren Gegner sowie der erforderlichen Körperkraft – immer verfügbar und schaffen klare Orientierungen. Durch solche Gesänge wird das Freund-Feind-Schema verstärkt, das in ''Wir'' und ''Die'' einteilt. Es entsteht eine klare Interaktionsordnung zwischen den Fans auf den Rängen.

Der sogenannten "Theorie der sozialen Identität" zufolge entwickeln sich Ingroups und Outgroups, wodurch sich Fangruppen eindeutig voneinander abzugrenzen versuchen. Indem sich Menschen einer Gruppe zuordnen und diese Mitgliedschaft verinnerlichen, dokumentieren sie interne Homogenität (Zusammenhalt, Zugehörigkeit) bei externer Heterogenität (Abgrenzung nach außen): Fußballfans bilden aufgrund der Zugehörigkeit zu ihrer Fangruppe eine soziale Identität aus, die über Intergruppen-Vergleiche mit anderen Gruppen eine selbstwertsteigernde, ordnungsstiftende Funktion übernehmen kann. Heftige Beleidigungen und mitunter Diskriminierungen sind probate Instrumente, um gegnerische Fangruppen oder Spieler wirksam abzuwerten und gleichzeitig die eigene Gruppe aufzuwerten. Dabei ist die Intensität, mit der Abwertungen vorgetragen und Feindbilder tradiert werden, nicht immer gleich gewesen. Obwohl es im Fußball eine Abwertungstradition gibt, unterliegen Formen und Inhalte solcher Äußerungen gesellschaftlichen Entwicklungen, denen sich der Fußball nicht entziehen kann.

Das Fußballstadion als Ort devianter (von der Norm abweichender) Gruppen

Mit Hetzparolen, rechtsradikalen Spruchbändern und ausländerfeindlichen Gesängen eröffneten Skinheads aus Braunschweig am 04.08.1985 die Saison der 2. Fußball-Bundesliga in Osnabrück. Braunschweig und Osnabrück trennten sich 3:3 unentschieden. (© picture-alliance/dpa)

Noch bis in die späten 1980er- beziehungsweise Anfänge der 1990er-Jahre hinein waren die Fankurven der Fußballstadien Orte mit eigenen, zumeist proletarisch-männlich geprägten subkulturellen Wert- und Normsystemen. Dies wirkte sich in Kombination mit teils wenig einladenden Stadien auch auf die Attraktivität aus: Zuschauerschnitte zwischen 10.000 und 15.000 waren keine Seltenheit, manche Spiele der Bundesliga wurden nur von wenigen Tausend Zuschauern besucht. Daneben war das Interesse der Medien im Vergleich zu heute geringer: Live-Schaltungen wurden überwiegend im Radio gesendet und durch Spieltagszusammenfassungen im Fernsehen ergänzt. Fürtjes weist in diesem Kontext jedoch darauf hin, dass es – auf das gesamte Stadionpublikum bezogen – zu keiner Zeit eine proletarische Prägung der Fans gab, wenn die Sozialstruktur der Stadionbesucherinnen und -besucher mit der Struktur der Gesamtgesellschaft verglichen wird.

Doch gerade in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren haftete den deutschen Fußballfans allerdings ein negatives, abweichendes Image an, was unter anderem an den damals dominanten Fankulturen lag. Nicht zuletzt trugen die Kuttenfans, die auch als Fußballproletarier galten und Gewalt gegenüber je nach Anlass nicht abgeneigt waren, sowie die erlebnisorientierten Hooligans maßgeblich dazu bei, das Stadion als Ort für abweichende Verhaltensweisen zu etablieren. Die Sicherheitskontrollen in den Stadien bewegten sich zudem auf einem wesentlich niedrigeren Niveau als heute. Ausschreitungen zwischen Zuschauenden waren zu dieser Zeit keine Seltenheit und fanden bereits im Stadion beziehungsweise in dessen direktem Umfeld statt, was in der heutigen Zeit aufgrund der ausgeprägten Überwachung, bei der Kameras sogar einzelne Personen im Fanblock identifizieren können, kaum mehr möglich ist.

Insbesondere in den 1980er-Jahren gab es darüber hinaus erhebliche rechtsextremistische Organisationsversuche in der Hooliganszene, die jedoch nicht dauerhaft und nur vereinzelt von Erfolg gekrönt waren Einige der Hooligangruppen aus dieser Zeit existieren auch heute noch und sind teilweise im Zusammenhang mit den HoGeSa-Demonstrationen aufgetreten.

Allerdings zeigten sich zahlreiche Fußballfans in dieser Zeit anfällig für Diskriminierungen und Feindseligkeiten. Rechte Symbolik, rassistische und andere menschenfeindliche Beleidigungen sowie ein martialisch-aggressives Männlichkeitsgebaren gehörten zum festen Bild des Fanblocks. Demokratischen, liberalen Fangruppen gelang es damals kaum, Einfluss auf die Fankurven zu nehmen. Nicht übersehen werden darf außerdem der Zeitgeist: Offene Diskriminierungen waren auch gesellschaftlich nicht in dem Maße geächtet und tabuisiert, wie das heute vermehrt der Fall ist. Da sich auch die Sportverbände in diesen Jahren verhältnismäßig wenig um das Thema kümmerten, war es denn nicht weiter verwunderlich, dass sich menschenfeindliche Abwertungen in den Stadien etablieren konnten. Schließlich nahm die Öffentlichkeit nur begrenzt Kenntnis von den Geschehnissen in den Fußballstadien, da das Interesse am Fußball sowie an seinen Fans noch nicht die heutigen Dimensionen erreicht hatte. Denn die Berichterstattung in den Medien damaliger Zeiten kann im Vergleich zur Berichterstattung im fortgeschrittenen 21. Jahrhundert als überschaubar und entschleunigt eingestuft werden.

Gegen Ende der 1980er-Jahre und zu Beginn der 1990er-Jahre rückte jedoch die Diskussion über den diskriminierenden und rechtsextremen Charakter des Fußballs u.a. sowohl durch den in Deutschland um sich greifenden Hooliganismus als auch durch die Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte in verschiedenen Städten der Bundesrepublik verbreitet auf die Tagesordnung der Sportart.

Der Wandel seit den 1990er-Jahren

1993: Fußballkinder der Eintracht aus Frankfurt unterstützen die Kampagne 'Mein Freund ist Ausländer'. (© imago/Claus Bergmann)

1992 reagierte der Deutsche Fußball-Bund e. V. (DFB) auf die rechtsextremen Pogrome in dieser Zeit und startete die Kampagne Externer Link: Friedlich miteinander – Mein Freund ist Ausländer. Am dritten Spieltag der Saison 2012/13 liefen in Gedenken an die Anschlagsserie zu Beginn der 1990er-Jahre erstmals seit 1992 alle Mannschaften der Bundesliga mit einem gemeinsamen Trikotdruck auf. Sie stellten damit den Bezug zur Aktion "Friedlich miteinander – Mein Freund ist Ausländer" her. Dieses Mal lautete die Aufschrift: "Geh Deinen Weg".

In diesen Zeitraum fiel ebenfalls die Erarbeitung des Nationalen Konzepts Sport und Sicherheit (NKSS) durch verschiedene Ministerien (z. B. Inneres, Frauen und Jugend) und Institutionen (z. B. DFB, Deutscher Sportbund) sowie die damit in Verbindung stehende Einrichtung von sozialpädagogischen Fanprojekten, die unter anderem mit dem Abbau extremistischer Orientierungen beauftragt wurden. Die Verabschiedung des NKSS geschah auch unter dem Eindruck der zuvor genannten rechtsextremistischen Mobilisierungsversuche in der Hooliganszene gepaart mit der Katastrophe im Brüsseler Heysel-Stadion 1985. Politik und Sport wurden sich übergreifend ihrer gesellschaftlichen Verantwortung für den Fußball bewusst. Schon in den 1980er-Jahren wurden erste sozialwissenschaftlich begleitete sozialpädagogisch-professionelle Fanprojekte (zum Beispiel in Bremen, Bielefeld) gegründet, die wichtige Grundsteine für die Soziale Arbeit mit Fußballfans legten. Allerdings gelangen eine Institutionalisierung und breite Anerkennung von Fanprojekten erst mithilfe des NKSS.

QuellentextZiele der Arbeit von Fanprojekten

  • Eindämmung von Gewalt; Arbeit im Präventivbereich, z.B. Hinführung zu gewaltfreier Konfliktlösung im Rahmen von Selbstregulierungsmechanismen mit der Perspektive Gewaltverhinderung;

  • Abbau extremistischer Orientierungen (Vorurteile; Feindbilder, Ausländerfeindlichkeit) sowie delinquenter oder Delinquenz begünstigender Verhaltensweisen;

  • Steigerung von Selbstwertgefühl und Verhaltenssicherheit bei jugendlichen Fußballanhängern; Stabilisierung von Gleichaltrigengruppen;

  • Schaffung eines Klimas, in dem gesellschaftliche Institutionen zu mehr Engagement für Jugendliche bewegt werden können;

  • Rückbindung jugendlicher Fußballanhänger an ihre Vereine.

Quelle: Arbeitsgruppe Nationales Konzept Sport und Sicherheit

Neben diesen institutionellen Bemühungen waren es vor allem die Fans selbst, die das Thema Diskriminierung problematisierten. Durch die Gründung von Bündnissen, wie zum Beispiel: Externer Link: Bündnis aktiver Fußballfans (BAFF); Externer Link: Football Against Racism in Europe (FARE) sowie Fandachverbänden gelang es den Fans, sich als eine Stimme zu präsentieren und eigene Vorstellungen in die Debatte einzubringen. Die Beschäftigung mit Diskriminierungen stand ganz oben auf der Agenda. In einigen Stadien formierten sich beispielsweise "Fans gegen rechts" oder "Fans gegen Rassismus" und bezogen auf diesem Wege Stellung.

Am 22.10.05 wurde in Hannover zum Spiel gegen Werder Bremen die bis dahin in einem Bundesligastadion einmalige Bande mit der Aussage: "96-Fans gegen Rassismus" eingeweiht. (© imago/Eisenhuth)

Hinzu gesellten sich Verschiebungen in der Zusammensetzung des Stadionpublikums und damit einhergehend der Sozialstruktur, wodurch neue Norm- und Wertesysteme in die Stadien transportiert wurden. Fürtjes erklärt dies unter Rückgriff auf Ulrich Beck mit Veränderungen in der gesamten gesellschaftlichen Sozialstruktur. Die bis heute anhaltende gesellschaftliche Bildungsexpansion macht vor den Stadientoren nicht Halt, sondern schlägt sich auch in den Kurven und auf den Tribünen der Arenen nieder.

QuellentextVerbürgerlichung des Fußballpublikums

Beck (1986) spricht in diesem Zusammenhang auch vom „Fahrstuhleffekt“. Aus struktursoziologischer Perspektive können vor allem die Prozesse der Tertiärisierung – ein Prozess, der die Veränderung der Produktionsstruktur von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft beschreibt und sowohl in England als auch in Deutschland bereits in den 1970er Jahren zu einer bürgerlich dominierten Berufsstruktur führte.

(Geißler, 2002; Lash & Urry, 1987) – die bis heute andauernde Bildungsexpansion und die kollektive Wohlstandssteigerung genannt werden. Als Wirkungsmechanismus zur Erklärung des sozialen Aufstiegs des Fußballpublikums fungiert daher die inter- und intragenerationelle soziale Aufstiegsmobilität in postmodernen Gesellschaften.

Das Mehr an statushöheren Fußballfans und das Weniger an unterklassigen Fußballfans erklärt sich folglich dadurch, dass zusätzlich zu den in mittleren und oberen Schichten sozialisierten Fußballfans viele derer, die heute im hochprofessionellen Dienstleistungssektor tätig sind und entsprechend über einen höheren Bildungsabschluss verfügen, noch in großen Teilen in Arbeiterhaushalten zum Fußball sozialisiert wurden und die Profiteure der voranschreitenden Bildungsexpansion waren. In der Verbürgerlichung des Fußballpublikums spiegelt sich sozusagen abbildhaft die Verbürgerlichung der Gesellschaft im Zuge des Wandels von der Industrie- zur postmodernen Gesellschaft wider.

Quelle: Oliver Fürtjes (2013, S. 35), Externer Link: Sport und Gesellschaft

In der Folge dieser Entwicklungen verloren sowohl die Hooligans als auch die Kutten ihre Vormachtstellung in den Fankurven. In dieses entstehende Vakuum stieß etwa Mitte/Ende der 1990er Jahre die Ultra-Bewegung und schickte sich an, die Kurven nachhaltig zu verändern.

Die Medien erkannten das Potenzial des Fußballs und leisteten mit einer Ausweitung ihrer Berichterstattungen in den 1990er-Jahren einen bemerkenswerten Beitrag zur Popularitätssteigerung sowie Verbreitung und Kommerzialisierung der Sportart. Nicht von ungefähr sind Fußball-Großereignisse wie die Welt- oder Europameisterschaften auch Medien-Großereignisse und werden entsprechend durch Medien vermarktet. Veranstaltungen wie das Public Viewing oder sogenanntes „Rudel-Gucken“ sind nicht zuletzt durch den bewusst konstruierten Event-Charakter auch für solche Menschen eine Attraktion, die mit Fußball sonst vielleicht keine Berührungspunkte besitzen. Wenngleich etwa Fürtjes zurecht darauf hinweist, dass die Medien in den 1990er Jahren das Expansionspotenzial genutzt haben, tragen sie umgekehrt gleichwohl auch zur Attraktivitätssteigerung und Aufwertung des Sports bei.

QuellentextErlebnisorientierung in der Gesellschaft

Die Medienunternehmen haben die TV-Rechte nicht erworben, um den Fußballsport in allen Schichten gesellschaftsfähig zu machen, sondern weil sie davon ausgehen konnten, dass der Fußball bereits auf eine breite gesellschaftliche Akzeptanz stieß und insofern mit entsprechend hohen Einschaltquoten zu rechnen war. Vor allem die Pay-TV-Sender in England und Deutschland betraten zu Beginn der 1990er Jahre den Fußballmarkt im Wissen um ein bereits vorhandenes zahlungskräftiges Klientel.

Allein diese skizzenhaften Anmerkungen machen deutlich, dass von einem umgekehrten Kausalitätszusammenhang ausgegangen werden muss. Da der Fußball schon immer auch in den wohlhabenden Schichten auf großes Interesse stieß, konnte sich die Vermarktungsdynamik und Mediatisierung des Fußballs überhaupt erst vollziehen.

Quelle: Oliver Fürtjes (2013, S. 48), Externer Link: Sport und Gesellschaft

Fussballpublikum in den 1990er Jahren (© imago/Norbert Schmidt)

Parallel dazu bekam der deutsche Fußball durch große internationale Erfolge der Vereinsmannschaften und der Nationalelf sowie den Erhalt der Fußballweltmeisterschaft 2006 einen sportlichen Schub. Die Zuschauerzahlen stiegen an und explodierten zu Beginn des 21. Jahrhunderts regelrecht.

Die Öffentlichkeit begann sich vermehrt für Fußball zu interessieren bzw. begann, ihrem schon vorhandenen Interesse Ausdruck zu verleihen, indem sie die Spiele im Stadion verfolgten. Vielerorts wurden trist anmutende Betonschüsseln durch moderne, multifunktionale und vermarktungsgerechte Arenen ersetzt, aus denen ein nicht unerheblicher Teil der Stehplätze verschwand (z.B. indem die damals beliebten und günstigen „Stehplätze Gegengerade“ in lukrative Sitzplätze auf der Gegentribüne umgewandelt wurden) und die stattdessen Familienblöcke sowie umfangreiche Serviceangebote bereithielten.

Das Fußballstadion war damit nicht länger Ort jugendkultureller Begegnungen und abweichender Verhaltensweisen, sondern sprach fortan vielfältige Bevölkerungsschichten und gesellschaftliche Gruppen an. Der Fußball war nicht nur in der Mitte der Gesellschaft angekommen, der Stadionbesuch war zu einer attraktiven Freizeitgestaltung avanciert. Gleichfalls änderte sich das "Gesicht" vieler Mannschaften: Spieler mit Migrationshintergrund sind seit Jahren keine Seltenheit mehr, was auch die Zusammensetzung der deutschen Frauen-Nationalmannschaft und der deutschen Nationalmannschaft dokumentiert.

Vor diesem Hintergrund setzte sich bei Vereinen und Verbänden die Erkenntnis durch, dass Diskriminierungen und ein feindseliges Klima dieser Bedeutungsexpansion eher im Wege standen. Die ursprünglich von den Fans vorangetriebene Anti-Diskriminierungsarbeit wurde ein zentrales Ziel der verbandlichen Arbeit. Fanclubs, die sich z. B. für Belange homosexueller Fans stark machen, gibt es heute in vielen Städten, wenngleich sie nicht überall gleichermaßen anerkannt bzw. erfolgreich sind. Ebenso gibt es eine Professionalisierung in der Betreuung behinderter Fans, die mittlerweile in den Vereinen des Profifußballs eine ernstzunehmende Aufgabe darstellt (z. B. kümmern sich eigene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder Ehrenamtliche als Behindertenbeauftragte der Vereine um die Belange gehandicapter Fans).

Fußball heute: Ein ambivalentes Bild

Mit Gründung der Anti-Diskriminierungs-AG versuchen Ultragruppen des SV Werder, ein breiteres Öffentlichkeitsbild zu schaffen und die Menschen für dieses schwierige Thema zu sensibilisieren. Dem vorangegangen war u.a. ein schwerer Überfall von rechten Hooligans auf Bremer Ultras 2007. (© imago/Schmidbauer)

Diese Darstellungen deuten darauf hin, dass sich die gesellschaftliche Bildungsexpansion (Erhöhung des Bildungsniveaus) ebenfalls im Fußballstadion vollzogen hat. Die aktiven Fankulturen des 21. Jahrhunderts unterscheiden sich in erheblichem Ausmaß von den oben skizzierten Fans der 1980er- und 1990er-Jahre.

Vor allen Dingen sind die Ultras zu nennen, die maßgeblich zu einer gemeinschaftlichen Politisierung und Aktivierung der Fußballfans beigetragen haben. (Sport-)Politische Positionen, die Verteidigung von Fanrechten und ein breites soziales Engagement sind Merkmale dieser Fankultur. Viele Gruppen wenden sich aktiv gegen Diskriminierungen und haben teilweise eigene Aktionsbündnisse gebildet. Nicht nur die Ultras, sondern auch Supporter-Klubs, Fandachverbände und Andere leisten einen wichtigen Beitrag auf diesem Feld. Ebenso sind Regulierungsmechanismen bei den Fans im Hinblick auf Diskriminierungen zu beobachten.

An verschiedenen Standorten wurden bereits mehrfach Personen, die diskriminierende Haltungen im Fanblock kundtaten oder der rechtsextremen Szene zuzuordnen waren, von anderen Fans des Stadions verwiesen. Dahinter verbirgt sich eine sehr aktuelle Botschaft: Derartige Regelverletzungen werden von vielen Zuschauern nicht mehr gewünscht. Stattdessen werden abweichende Vorgänge sowohl von den Fans als auch von der Öffentlichkeit aufgegriffen, thematisiert und gegebenenfalls skandalisiert.

Im Zuge der aktuellen Flüchtlingsdiskussion und des aufgeheizten Klimas haben sich Fangruppen verschiedener Vereine der Thematik angenommen und Stellung für ein offenes, demokratisches Klima gegenüber Zuwanderern bezogen. Neben Choreographien wurden Gelder gesammelt oder Fußballturniere gemeinsam mit Flüchtlingen durchgeführt (Externer Link: z. B. haben Fans von Borussia Dortmund ein Turnier organisiert). Die feindselige Rhetorik von HoGeSa ist offenbar vielfach nicht auf fruchtbaren Boden gefallen bzw. ist in der Fan-Öffentlichkeit kaum sichtbar (beispielsweise gibt es kaum Fahnen oder Solidaritätsbekundungen). Große Teile aktiver Fangruppen (zum Beispiel Ultras) distanzieren sich von Hogesa. Das ist ein gutes Signal, wenngleich die Gefahren einer verdeckten Agitation nicht unterschätzt werden dürfen, zumal auch junge Fans an den HoGeSa-Demonstrationen teilgenommen haben. Fußball und Gesellschaft sind gefordert, sich mit dem Phänomen zu befassen. Auch einige Vereine haben Externer Link: Flüchtlinge in ihr Stadion eingeladen, um ihnen den Besuch eines Fußballspiels und damit ein freudiges, alternatives Erlebnis in einer für sie krisenhaften Lebenslage zu ermöglichen.

Solidarität innerhalb von Fankurven kann zum Abbau von Diskriminierungen im Stadion beitragen: Zum Jubiläum des schwul-lesbischen Fanklubs "Meenzelmänner" verwandelten die Fans des FSV Mainz die Ränge des Fußballstadions in eine riesengroße Regenbogenfahne. (© imago/Eibner)

Dass Migranten, Frauen oder Homosexuelle heute vielerorts nicht mehr mit offenen, kollektiven Anfeindungen zu rechnen haben, ist nicht zuletzt auf die Bemühungen der aktiven Fans zurückzuführen. Kritisch begleitet wurde und wird diese Entwicklung durch die zuvor skizzierten sozialpädagogischen Fanprojekte, "weil sie seit Jahren die positiven Kräfte der Fankultur betonen und insbesondere die jüngeren Fans durch vielfältige kreative Aktivitäten im Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung sensibilisieren".

Inspiriert durch diese Bemühungen intensivierten die Verbände und Vereine die Auseinandersetzung mit der Diskriminierungsproblematik – dafür ist ihnen trotz aller Kritik Respekt entgegen zu bringen. Gerade Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und jüngst Homophobie sind drei Phänomene, die sehr oft Bestandteil von Aufklärungskampagnen der Verbände und Vereine waren und sind. Ebenso wurden an vielen Standorten Stadionordnungen verabschiedet, die Diskriminierungen untersagen. Wobei fraglich ist, inwiefern Stadionordnungen einerseits bekannt sind und andererseits von Fans, die Feindseligkeiten offen vortragen, überhaupt geachtet werden .

Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass sich in den deutschen Bundesligastadien sehr viel zum Positiven gewendet hat und zumindest offene, kollektive Artikulationen von Diskriminierungen – dies zeigen auch eigene Daten zur Interaktion von Fußballfans an – weitestgehend nicht zum Standardrepertoire gehören. Wenn Diskriminierungen formuliert werden, handelt es sich überwiegend um individuelle Äußerungen von Einzelpersonen und Minderheiten.

Allerdings – und dies ist ein wesentlicher Unterschied – sagt all das wenig über die Existenz feindseliger Einstellungsmuster aus, die aus Gründen sozialer Erwünschtheit nicht in der Öffentlichkeit kundgetan werden. Aber schon dieser Umstand ist ein Fortschritt, denn er deutet die dürftige Akzeptanz von Diskriminierungen an. Zu diskriminierenden Einstellungen im Fußball gibt es kaum gesicherte empirische Daten, sodass Aussagen über die Ausprägung etc. spekulativ sind.

Die Liberalisierung der Stadionatmosphäre ist nur die eine Seite der Medaille. Dem entgegen steht das eingangs dargestellte bipolare Schema des Fußballspiels. Dieses den Fußball strukturierende Muster wird weiterhin eine prägende Bedeutung einnehmen. Die Differenzierung in eine Eigen- und eine Fremdgruppe ist grundlegend und funktional, denn je nach Spielsituation und -konstellation gehören Schmähungen des Gegners zu wirksamen und identitätsstiftenden Kommunikationsformen.

Die Spielsituation ist deshalb so bedeutsam, weil durch sie die Interaktion zwischen Spielfeld auf der einen und den Fans auf der anderen Seite beeinflusst wird. Zumeist in brisanten Momenten, zum Beispiel durch eine Schiedsrichterentscheidung oder ein Foulspiel ausgelöst, kommt diese Interaktion in Gang.

Hinzu gesellt sich die Spielkonstellation: Tradierte Rivalitäten zwischen Vereinen, die mitunter mythisch überhöht werden, vereinfachen die Herausschälung von Eigen- und Fremdgruppe. Zudem zeigt die Gewaltforschung, dass gerade einförmige, homogene Gruppen, die in den Fankurven zu finden sind, sich in hohem Maße abgrenzen. Gruppennormen können handlungsleitend werden und gesellschaftliche Normsysteme überlagern. Sind dann noch Mobilisierungsexperten mit anerkannter Autorität wie zum Beispiel die Vorsänger der Ultras vor Ort, kann die Stimmung eine negative Dynamik annehmen und heftigen Beleidigungen den Weg ebnen.

Fluchen, stampfen, trinken: Fußball als Ort, an dem der alltägliche, "ganze kleine Hass abgelassen werden kann".

(© picture alliance/fStop )

Das Klima kann als rau und feindselig eingestuft werden, wenn Akteure auf dem Feld oder die gegnerischen Fans in Form aggressiver Ausdrucksform kollektiv als "Hurensöhne" und "Arschlöcher" tituliert sowie geschlossen die Mittelfinger gezeigt werden oder das "Blut des Gegners" gefordert wird.

Pilz und seine Mitautoren sprechen von einer "Beschimpfungs- und Provokationskultur". Solche teils bedenklichen Ausfälle mit Hetzcharakter sind fester Bestandteil der Fankommunikation. und besitzen einen offenkundig sexistischen Unterton. Ob nun die Mütter der Adressaten der Beleidigung (meist gegnerische Fans oder ein Spieler) oder die Adressaten selbst herabgesetzt werden sollen, ist vor diesem Hintergrund zweitrangig.

Das Stadion stellt demnach immer noch – wenn auch nicht mehr in dem Maße wie vor 15 oder 20 Jahren – einen spezifischen Raum dar, in dem Beleidigungen bis zu einem bestimmten Grade unsanktioniert vorgebracht werden können. Im Übrigen sind diese Wogendynamiken und Kategorisierungen keinesfalls nur in den Fankurven zu finden: Wer den Blick über die Geraden schweifen lässt, wird auch dort empört aufspringende und aggressiv schimpfende Menschen finden. Der Unterschied ist die Gruppenkonstellation in den Fankurven, die Zuspitzungen und Radikalisierungsprozesse beschleunigen kann.

Außerdem lassen sich gegenwärtig in vereinzelten Fanszenen der oberen Ligen – nicht nur in der Bundesliga – Verflechtungen mit rechten Gruppen beziehungsweise zumindest unklare Haltungen gegenüber diesen beobachten. Ein derartiges Umfeld bietet Diskriminierungen natürlich einen Resonanzboden. In diesem Zusammenhang kommt es an einigen Fußball-Standorten seit Jahren zu Konflikten zwischen rechten und linken Fangruppen, teilweise unter Einbezug alter Hooligangruppen. Ein Teil der Konflikte, bei denen es um die politische Deutungshoheit im Stadion bzw. in der Fankurve geht, ist von gewalthaltigen Auseinandersetzungen der verfeindeten Gruppen begleitet worden. Diese Verbindungen werden vom Fußballumfeld aber nicht unkommentiert hingenommen, sondern sind Bestandteile öffentlicher Diskussionen.

Problematisch gestaltet sich in diesem Kontext ferner die "männerdominierte […] Milieukultur inklusive überhöhter Männlichkeitsideale" , die sich ebenfalls überliefert hat und auch bei den modernen Fanszenen wie den Ultras deutlich zutage tritt. So mutet der dunkle Klamottenchic gepaart mit der Erstürmung der Zäune oder dem auch bei Minusgraden vorgenommenen Entblößen der Oberkörper martialisch und animalisch an. In diesen mehr oder weniger exklusiv maskulinen Handlungen werden Gleichsetzungen von Kraft, Aggressivität und Männlichkeit sichtbar.

In solchen Ausdrucksformen wird zusätzlich eine Geschlechterhierarchie in der Interaktion evident, in der das weibliche Geschlecht eher eine untergeordnete Rolle spielt. Dies schlägt sich auch in der Interaktionsstruktur nieder. Die Gesänge werden i. d. R. von Männern „gemacht“. Die Vorsänger der Ultras sind nach eigenem Kenntnisstand durchweg Männer und sie geben vor, welche Artikulationen akzeptabel sind und welche nicht. Die Interaktionsdominanz in den Fankurven ist somit eine männliche Dominanz.

Solche Muster dienen – wenngleich Frauen im Ergebnis der Forschungserkenntnisse des Autorsvon den genannten Huren-/Hurensohn-Gesängen absehend, selten kollektiven Feindseligkeiten ausgesetzt sind – eher einer Abgrenzung denn einer Integration von Menschen anderen Geschlechts, anderer geschlechtlicher Orientierung oder anderen Männlichkeitsentwürfen. Diese Überbetonung einer martialisch-aggressiven Männlichkeit kann daher zu latenten Diskriminierungen homosexueller Fans und Frauen führen, indem von diesem Typus abweichende Fanidentitäten mehr oder weniger bewusst marginalisiert werden. Darüber hinaus zeigen eigene Daten, dass manche Gruppen, auch Ultragruppen, exklusiv männlich sind bzw. sich schwer tun, dem weiblichen Geschlecht Zugang zur Gruppe zu gewähren. Denn auch die Homogenität des eigenen Geschlechts und der eigenen geschlechtlichen Orientierung verbinden – gegebenenfalls durch Ausgrenzung Anderer.

Die Problematik in den unteren Ligen

Die zunehmende Vermarktung sowie gesellschaftliche Integration des Fußballs hat neben anderen Entwicklungen für die Etablierung einer Kontrollkultur in den Stadien der Bundesligen gesorgt. Abweichendes Verhalten wird dort kaum noch geduldet und häufig von Gerichten oder den Vereinen mit teils drastischen Strafen wie Stadionverboten oder Zuschauerausschlüssen geahndet.

Daneben wird mittlerweile verstärkt auf Diskriminierungen geachtet, die in vielen Stadien nicht mehr ohne Sanktionsgefahr seitens anderer Fans oder der Sicherheitskräfte vorgetragen werden können. In den Ligen unterhalb der Bundesliga, hauptsächlich unterhalb der Profiligen, verhält sich die Situation anders. Die Sicherheitsvorkehrungen sind ebenso wie das gesellschaftliche Interesse geringer, sodass sich an einigen Standorten problematische Fanszenen etablieren konnten. An diesen Orten ist nicht zuletzt die soziale Kontrolle durch Mitfans schwächer ausgeprägt, was abweichende Verhaltensweisen begünstigt.

Die unteren Ligen, besonders die Amateurklassen, stellen daher im Vergleich zur Bundesliga ein ideales Rekrutierungsfeld für rechtsextreme Gruppierungen dar. Je tiefer die Liga, desto handfester wird das Konflikt- und Diskriminierungspotenzial. In den niedrigklassigen Amateurligen wie beispielsweise Kreis- oder Bezirksligen lässt sich sogar die in den Profiligen nur noch selten offen zutage tretende Ethnisierung von Rivalitäten und Konflikten beobachten: Betroffen sind keineswegs nur die Zuschauer, sondern auch die Spieler und Schiedsrichter, wie wir in Studien zu Sportgerichtsurteilen empirisch feststellen konnten.

Auch Thaya Vester berichtet im Rahmen einer jüngeren Studie über Gewaltvorkommnisse und Diskriminierungen im Amateurfußball. Dabei stellen die Schiedsrichter eine zentrale Opfergruppe dar. Zudem sind Konflikte häufig von fremdenfeindlichen oder rassistischen Beleidigungen begleitet, die eine Eskalation der Auseinandersetzung beschleunigen.

Kritische Distanz und notwendige Analysen

Eine männlich geprägte Milieukultur und das "Wir-und-Die Anderen" - Schema des Fussballs können Andockpunkte für menschenfeindliche Einstellungen bilden. (© imago/Action Pictures)

Wenngleich Diskriminierungen in Bundesligastadien heutzutage verhältnismäßig selten kollektiv geäußert werden, sich Fangruppen und Aktionsbündnisse dagegen engagieren, sind die vorgestellten Kommunikations- und Umgangsformen diskussionswürdig. Durch den rasanten gesellschaftlichen Aufstieg des Fußballs gepaart mit einer umfassenden medialen Berichterstattung sowie einer modernen Sicherheitsarchitektur ist das Stadion nicht mehr einfach ein Paralleluniversum mit subkulturellem Normen- und Wertesystem in den Fankurven. Im 21. Jahrhundert strömen wöchentlich Hunderttausende Fans in die deutschen Profistadien, der Stadionbesuch ist enorm attraktiv – gerade auch für junge Menschen.

Die Fanszenen, vor allem die Ultras, betreiben entsprechend gezielt Nachwuchsarbeit und übernehmen durch ihre hohe Attraktivität für junge Menschen eine wichtige Sozialisationsfunktion im Sinne einer Peer Group-Sozialisation. Dabei verlaufen Sozialisationsprozesse in Peer Groups nicht immer gesellschaftskonform, da es sich nicht um professionelle Sozialisationsinstanzen mit einem Erziehungsauftrag handelt. Risiken liegen etwa in der Überbetonung von Gruppennormen, wenn diese höher gewertet werden als gesellschaftlich anerkannte Regeln, und der De-Individualisierung, d. h. der Unterordnung des Einzelnen unter die Gruppe. Problematisch ist das immer dann, wenn sich eine Kultur der Abwertung in Fangruppen etabliert; Abwertungen und Beleidigungen also als etwas Selbstverständliches und dem Fußball zugehörig aufgefasst werden. Deshalb sind solche Gruppenlogiken und -dynamiken stets zu berücksichtigen, wenn über Diskriminierungen im Fußballfankontext gesprochen wird. .

Gesellschaftliche Normen und Werte werden auch im Fußballstadion ausgehandelt. Fußball lernt nicht nur von der Gesellschaft, er kann vielmehr selbst ein Vorbild für Gesellschaft sein. Insofern erscheint es legitim, grundlegende Fragen nach der Angemessenheit von Fankommunikation zu stellen: Welche Äußerungen sind noch akzeptabel, welche befeuern Ausgrenzungen und Feindseligkeit? Sind heftige Beleidigungen und Bedrohungen von Spielern, anderen Fans usw. hinnehmbar und mit der Struktur des Fußballs begründbar? Der Blick ist ebenfalls auf die Empfängerinnen und Empfänger zu richten: Wie gehen sie (z. B. Schiedsrichter) mit solchen Anfeindungen um?

Aufgrund seiner enormen Popularität ist der Fußball darüber hinaus anfällig für Unterwanderungsversuche rechtsextremer, gewaltbereiter Gruppen. Die HoGeSa-Bewegung knüpft unmittelbar an den Fußball an, Teile der Gruppe rekrutieren sich aus dem Fanumfeld. In Zeiten erheblicher gesellschaftlicher Konflikte etwa um Zuwanderungen oder islamistische Terroranschläge ist erhöhte Sensibilität von allen Akteurinnen und Akteuren für politische Mobilisierungsversuche gefragt.

Parallel dazu ist es ratsam, die eindimensionalen Schemata des Fußballs zu überdenken (zum Beispiel indem der Austausch zwischen Fangruppen sowie die Entwicklung einer bunten Fankultur gefördert werden), die nicht nur Abwertungen erleichtern, sondern Radikalisierungsprozesse beschleunigen können. Dies setzt den Fußball einer ständigen latenten Gefahr aus, "umzukippen". Starke Fanszenen und Fanprojekte sowie motivierte Vereine und Verbände sind deshalb wichtig – nicht zuletzt mit dem Fokus auf junge Fußballfans.

Im Hinblick auf Jugendliche zeigt die Forschung, dass abweichendes Verhalten normaler Bestandteil jugendlichen Aufwachsens ist; nur selten resultieren daraus tatsächlich stabile kriminelle Karrieren im Erwachsenenalter. Junge Menschen suchen Räume, in denen sie sich auch abseits gesellschaftlicher Vorgaben ausprobieren können. Jugendliches Aufwachsen vollständig zu regulieren und zu normieren, unterbindet letztlich eine autonome Entwicklung des Individuums. Notwendig sind deshalb in diesem Kontext eine gute Begleitung und Beratung, die Jugendliche aber auch eigene Erfahrungen sammeln lassen.

Besondere Aufmerksamkeit sollte ferner den Vorgängen im Amateurfußball geschenkt werden. Dort fehlen häufig die notwendigen Strukturen, um der Diskriminierungsproblematik beizukommen. Aufgrund der geringen medialen und gesellschaftlichen Beachtung besteht das Risiko, dass sich engagierte liberale, demokratische Fans beziehungsweise Fangruppen und Vereine alleingelassen fühlen. Es liegt auch an den Verbänden, den Unterbau des deutschen Fußballs nicht abdriften zu lassen. Die sogenannte „Zukunftsstrategie Amateurfußball“ des Deutschen Fußball-Bundes ist deshalb ein wichtiges Signal.

Um solche Fragen und Themen angemessen zu behandeln, ist überdies eine sozialwissenschaftliche Forschung notwendig, die empirisch und theoretisch gehaltvolle Untersuchungen zum Gegenstand "Fußball" vorlegt. An diesen Studien – vor allem im Hinblick auf Diskriminierung – mangelt es jedoch, sodass nur wenige schlüssige und fundierte Konzepte zur Beantwortung obiger und weiterer Fragen existieren.

Abschließend lässt sich festhalten, dass Ausgrenzung im Allgemeinen und Diskriminierungen im Speziellen im Bundesligafußball ein Thema waren, sind und bleiben. Allerdings haben sich Veränderungen ergeben und Gewichtungen verschoben. Es ist wichtig – nicht nur im Fußball –, ein aufmerksamer Beobachter von Interaktionsprozessen zu sein, auf Probleme hinzuweisen und diese klar zu benennen. Wenig hilfreich hingegen sind die stete Aktualisierung alter Forschungsergebnisse und überholter Zustände sowie die Generalisierung von Einzelfällen, um damit die Diskriminierungsanfälligkeit des Fußballs zu untermauern und Vorwürfe an Fußballfans zu legitimieren.

Wenn in manchen Medien zu lesen und zu hören ist, welche Diskriminierungen im Stadion zum Standardrepertoire gehören, dann wird dem Eindruck Vorschub geleistet, dass abweichendes Verhalten eine unveränderliche Konstante im Fußball ist. Dabei muss zur Kenntnis genommen werden, dass sich viel bewegt hat, angestoßen sowohl von den Fans selbst als auch von den Institutionen des Fußballs. Fruchtbare Debatten werden sonst ideologisch überlagert. Stattdessen laufen wir Gefahr, Mythen zu produzieren und zu nähren, deren empirischer Gehalt zweifelhaft ist. Der deutsche Fußball weist sicherlich in vielerlei Hinsicht traditionelle, teils antiquierte und vor allem überaus fragwürdige Strukturen und Umgangsformen auf. Zu begrüßen ist deshalb eine reflektierte, differenzierte Thematisierung, die von seriösen wissenschaftlichen Analysen begleitet wird.

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Dr. Martin Winands ist Sozialwissenschaftler und arbeitet am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Devianz, Gewalt und Sozialisation (v. a. im Jugendalter). Winands studierte Erziehungswissenschaften, Psychologie und Bildungswissenschaft in Bielefeld und Wien. Er hat in Devianzpädagogik an der Universität Lüneburg promoviert.