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Verstädterung, Migrationssysteme in Bangladesch und translokale soziale Räume | Bangladesch | bpb.de

Verstädterung, Migrationssysteme in Bangladesch und translokale soziale Räume

Benjamin Etzold

/ 4 Minuten zu lesen

Mobilität prägt den Alltag vieler Menschen in Bangladesch. Sie ist eine der Strategien zur Sicherung des eigenen Lebensunterhalts. Jährlich gehen hunderttausende Bangladescher zum Arbeiten ins Ausland, aber auch die Binnenmigration hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Dazu hat vor allem das Wachstum der Bekleidungsindustrie beigetragen.

Dhaka, die Hauptstadt von Bangladesch, ist eine Megastadt der Gegensätze. So liegt der größte Slum der Stadt (Karail) direkt gegenüber des Geschäfts- und Diplomatenviertels Gulshan. (© Benjamin Etzold)

2015 leben 161 Millionen Menschen in Bangladesch. Zweidrittel der Bevölkerung leben in ländlichen Regionen; ein Drittel in städtischen Gebieten (siehe Tabelle 6). Aufgrund anhaltender Armut und Ernährungsunsicherheit in einigen Teilen des Landes, regelmäßiger, existenzbedrohender Naturkatastrophen wie Wirbelstürmen und Überschwemmungen, besserer wirtschaftlicher Möglichkeiten in den Städten, zentralistischer Bildungsstrukturen und verbesserter Transportnetzwerke ist eine zunehmende Zahl von Bangladeschern innerhalb des Landes mobil. Die Volkszählung aus dem Jahr 2011 ergab, dass 13,5 Millionen Menschen nicht mehr in dem Verwaltungsbezirk lebten, in dem sie geboren worden waren, was zehn Prozent der Bevölkerung entspricht. Die weitaus meisten dieser Bewegungen finden innerhalb des Landes statt. 44 Prozent dieser 13,5 Millionen Binnenmigranten sind vom Land in die Stadt gezogen, weitere 43 Prozent aus einer ländlichen Region in eine andere ländliche Region, neun Prozent von einer Stadt in eine andere Stadt und nur vier Prozent aus der Stadt aufs Land. Binnenmigration prägt den Alltag in Bangladesch. Dennoch waren immerhin neun von zehn Menschen in Bangladesch bislang (noch) nicht mobil.

Über 4.200 Textilfabriken gibt es in Bangladesch. Die meisten befinden sich in der Hauptstadt Dhaka. (© Benjamin Etzold)

Das Wachstum der Bekleidungsindustrie hat zum Anstieg der Binnenmigration in Bangladesch beigetragen. Die Produktion und der Export von Textilien begannen in den 1980er Jahren und haben seitdem die Rolle Bangladeschs in der globalen Wirtschaft fundamental verändert. Während 1985 etwa 120.000 Menschen in 380 Textilfabriken beschäftigt waren, waren es im Jahr 2000 bereits 1,6 Millionen Arbeitskräfte in 3.200 Fabriken und 2014 sogar vier Millionen Arbeitskräfte, die in 4.200 Textilfabriken angestellt waren. Der Boom dieses Industriezweiges führte auch zu sozialen Veränderungen, da junge Frauen aus ländlichen Regionen, die bis dahin nicht in großer Zahl migriert waren, nun durch die Arbeit in Fabriken in Bangladeschs Städten ihren eigenen Lebensunterhalt sichern konnten. Die Bekleidungsfabriken befinden sich hauptsächlich in und in direkter Nachbarschaft der Landeshauptstadt, was erheblich zum Wachstum sowohl der Wirtschaft als auch der Einwohnerzahl der Megastadt Dhaka beigetragen hat (siehe Tabelle 6). Andere große Städte konnten mit dem massiven Bevölkerungswachstum Dhakas nicht mithalten. Chittagong beispielsweise, einst die wichtigste Hafenstadt Bangladeschs, hat nicht nur an wirtschaftlicher Bedeutung verloren; ihr Anteil an der städtischen Bevölkerung des Landes ist ebenfalls erheblich geschrumpft.

Tabelle 6: Bevölkerungs- und Stadtentwicklung in Bangladesch (in tausend)

1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020
Bangladesch (Gesamtbevölkerung)37.895 49.537 66.309 82.498 107.386 132.383 151.152 169.566
Städtische Bevölkerung1.6232.5445.03512.25221.27531.23046.03564.480
% der Gesamtbevölkerung4%5%8%15%20%24%31%38%
Dhaka 336 508 1.374 3.266 6.621 10.285 14.731 20.989
% der Gesamtbevölkerung1%1%2%4%6%8%10%12%
% der städtischen Bevölkerung21%20%27%27%31%33%32%33%
Chittagong 289 360 723 1.340 2.023 3.308 4.106 5.155
% der städtischen Bevölkerung18%14%14%11%10%11%9%8%
Khulna 61 123 310 627 985 1.247 1.098 1.039
% der städtischen Bevölkerung4%5%6%5%5%4%2%2%
Rajshahi 39 56 105 238 521 678 786 943
% der städtischen Bevölkerung2%2%2%2%2%2%2%2%

Quelle: UN (2014): World Urbanization Prospects, the 2014 Revision. New York: United Nations Department of Economic and Social Affairs, Population Division,
Externer Link: http://esa.un.org/unpd/wup/ (Zugriff: 4.2.2015).

Die Gründe für einen Anstieg der Binnenwanderungen innerhalb von Bangladesch sind vielfältig: Menschen sind mobil, um zusätzliches Geld zu verdienen, das sie für die Deckung des Tagesbedarfs ihrer Familien benötigen. Sie versuchen durch die Aufnahme einer Arbeit an anderen Orten existenzbedrohende Krisen wie Hunger in der Zeit vor der Reisernte ("Monga") zu überwinden, Risiken besser zu streuen und Schocks wie Ernteausfälle abzufedern. Und durch eine bessere Bildung oder einen besseren Arbeitsplatz in der Stadt investieren Menschen in ihre eigene Zukunft. Verschiedene Migrationssysteme existieren daher nebeneinander: dauerhafte Land-Stadt- und Stadt-Stadt-Migration, zeitlich begrenzte Migration in die Städte des Landes und saisonale Arbeitswanderungen in landwirtschaftlich geprägte Regionen. Der Zugang zu Migrationsmöglichkeiten und die Zielortwahl spiegeln dabei Muster gesellschaftlicher Ungleichheit wider: Mitglieder aus wohlhabenden Haushalten ziehen wegen sicherer Arbeitsstellen in formellen Wirtschaftssektoren oder einem Hochschulstudium in städtische Gebiete. Die ländliche "Mittelschicht" und "Unterschicht" zieht entweder nach Dhaka, um dort in der Bekleidungsindustrie, im Baugewerbe oder informellen Wirtschaftssektoren zu arbeiten, oder zieht temporär in andere ländliche Regionen, um dort als Erntehelfer tätig zu werden. Die ärmsten Menschen in Bangladesch können sich oftmals die anfänglichen Investitionen, die für die Migration erforderlich sind, nicht leisten. Zudem haben sie keinen Zugang zu den entsprechenden Netzwerken und in manchen Fällen sind sie sogar nicht einmal in der körperlichen Verfassung für einen Umzug innerhalb des Landes. Sie bleiben aufgrund dieser regionalen Gebundenheit in der Armut "gefangen".

In Bangladesch produzierte Kleidung wird mit Containern (im Hintergrund) in die ganze Welt verschifft, dennoch leben 20 Prozent der Einwohner Dhakas in großer Armut. Obdachlose schlafen auch auf dem Dach des Hauptbahnhofes der Stadt. (© Benjamin Etzold)

Bangladeschische Familien, die Migranten unter ihren Mitgliedern haben, organisieren ihre Existenzen heutzutage dynamisch über verschiedene Orte hinweg. Ihr Leben ist charakterisiert durch ihre Migrationserfahrung, ihre sozialen Netzwerke, die sich zwischen verschiedenen Orten aufspannen, und ihr "gleichzeitiges Eingebundensein" in diese verschiedenen Orte. Sie leben in "translokalen sozialen Räumen". Diejenigen, die in andere Länder migriert sind, haben sich sogar ein transnationales Leben aufgebaut. Die translokalen oder transnationalen Beziehungen zwischen Migranten und denjenigen, die sie zu Hause zurückgelassen haben, werden durch Geldüberweisungen, regelmäßige Telefonate oder Skype-Anrufe sowie Facebook und andere soziale Medien sorgsam gepflegt. Das Heimatdorf wird regelmäßig besucht, insbesondere zu traditionellen Festen, die eine wichtige kulturelle Rolle im Gemeinschafts- und Familienleben spielen, wie Hochzeiten, Beerdigungen oder das Fest des Fastenbrechens (Eid-ul-Fitr) am Ende des Ramadan.

Dieser Text ist Teil des Interner Link: Länderprofils Bangladesch.

Fussnoten

Fußnoten

  1. BBS (2012), S. 322.

  2. Nach Daten der Gesellschaft der Bekleidungshersteller und -exporteure Bangladesch (Bangladesch Garment Manufacturers and Exporters Association), http://www.bgmea.com.bd/home/pages/TradeInformation#.Uo2-I-Ly-no (Zugriff: 21.3.2015).

  3. Afsar (2005), World Bank [Weltbank] (2007), Siddiqui et al. (2010).

  4. Siehe Afsar (2005), Etzold et al. (2014) und Peth/Birtel (2015) für Einblicke in die Zusammenhänge zwischen sozialer Ungleichheit und (saisonaler) Arbeitsmigration.

  5. Beim Ansatz der "translokalen sozialen Räume" stehen die sozialen Verbindungen sowie Waren-, Kapital- und Informationsflüsse in Netzwerken zwischen Akteuren an unterschiedlichen Orten sowie das "gleichzeitige Eingebettetsein" der Akteure in unterschiedlichen Lebenswelten im Vordergrund. Im Vergleich zum Konzept der "transnationalen sozialen Räume" stehen nun nicht zwangsläufig grenzüberschreitende Verflechtungen im Fokus. Siehe zum Beispiel Steinbrink (2009), Brickel/Datta (2011) oder Greiner/Sakdapolrak (2013) für eine Einführung in die wissenschaftliche Literatur über Transnationalismus, Translokalität und translokale Lebensführung und Existenzsicherung (translocal livelihoods).

  6. Siehe Gardner (1995), Danneker (2005) und Zeitlyn (2012) für anschauliche Beschreibungen internationaler Migranten aus Bangladesch und die transnationale Lebensführung der bangladeschischen Diaspora. Siehe Etzold (2014), Peth/Birtel (2015) und Sterly (2015) für Untersuchungen translokaler Lebensführung von Binnenmigranten und Saisonarbeitskräften in Bangladesch.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Benjamin Etzold für bpb.de

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Dr. Benjamin Etzold ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geographischen Institut der Universität Bonn. Er hat über den Straßenhandel in der Megastadt Dhaka promoviert und war an einem Forschungsprojekt zu Klimawandel, Hunger und Migration in Bangladesch beteiligt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die geographische Migrations- und Entwicklungsforschung mit Fokus auf soziale Verwundbarkeit und Arbeitsverhältnisse. E-Mail: E-Mail Link: etzold@giub.uni-bonn.de