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Tschernobyl ist die Zukunft

Peter Unfried

/ 3 Minuten zu lesen

Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch sieht die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl als Beginn einer neuen Geschichte der Menschheit.

Unbewohnbar: Die Häuser Pripyats stehen seit der Atomkatastrophe von 1986 leer - der Ort gleicht einer Geisterstadt. (© picture-alliance/dpa)

Am 26. April 1986 explodiert Block 4 des sowjetrussischen Atomkraftwerks nahe der ukrainischen Stadt Prypjat. Der radioaktive Staub verbreitet sich in kurzer Zeit in ganz Europa. Tschernobyl steht für den größten Unfall in der Geschichte der zivilen Atomenergienutzung.

Tschernobyl sei das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts, schreibt die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in ihrem Buch Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. Wichtiger als alles andere, als die Weltkriege und auch als der Vernichtungsirrsinn des Totalitarismus? Tschernobyl ist in ihrer Logik nicht etwas, das im April 1986 passierte und das die Menschheit glücklich überstanden hat, sodass man in diesem Frühjahr ein paar gemütliche Gedenktage einlegen kann. Tschernobyl hat gerade erst angefangen. Tschernobyl ist die Zukunft.

Die Menschheit ist durch Tschernobyl aus dem Zeitalter der Kriege in das Zeitalter der Katastrophen hineinkatapultiert worden. Die Explosion im Atomkraftwerk hat auch die Vorstellung von Raum und Zeit zerstört. Die freigesetzten radioaktiven Teilchen sind von Landesgrenzen nicht zu stoppen; nicht mit festgelegten Obergrenzen und nicht mit Waffengewalt. Auch die Zeit kann ihnen nichts anhaben, jedenfalls nicht in den Zeiträumen eines menschlichen Lebens. Alexijewitsch hat viele Jahre an ihrem Buch gearbeitet. Bei manchen Zeitzeugen, mit denen sie sprach, lief die Uhr. "Der Preis ihrer Zeugenschaft war ihr Leben", schreibt sie. Diese Menschen sind heute längst tot.

Prybjat, vier Kilometer nördlich von Tschernobyl, ist heute eine Geisterstadt. Null Einwohner. Vor manchen Plattenbauten hängt noch Wäsche und stehen Kinderwagen herum. An manchen Häusern prangen die Parolen des Kommunismus. "Ihnen kann die Strahlung nichts anhaben", schreibt Alexijewitsch. Was für ein Satz. Aber hier geht es nicht darum, mit einem wohligen Schauer zu feiern, dass die Anti-AKW-Bewegung recht hat und recht behält.

Es geht darum, zu verstehen, dass die Menschheit sich in einer neuen Geschichte befindet. Alexijewitsch nennt das eben nicht die "Welt nach Tschernobyl", sondern die "Welt von Tschernobyl". In der alten Geschichte war Krieg der Gradmesser des Schrecklichen. Im Inneren wie bei Stalin. Von außen kommend wie Hitler. Das Schreckliche in der alten Geschichte war immer zu sehen, zu hören, zu fühlen, wenn es passierte. Tschernobyl ist der Beginn einer neuen Geschichte, in der das Schreckliche zeitversetzt kommt. Die Frauen von Tschernobyl küssen ihre Männer im Krankenhaus und halten sich nicht von den "verseuchten Objekten" fern, wie die Ärzte ihnen raten. Als sie sehen, was die Radioaktivität Schreckliches anrichtet, ist es auch für einige von ihnen zu spät. Das gilt auch für CO2, für den Klimawandel, seine Begleiterscheinungen wie Taifune, Überschwemmungen, Dürren. Auch seine Folgen sind zeitversetzt: verwüstete Landstriche, Zerstörung des alltäglichen Lebens, wie wir es kennen, Tote, Menschen auf der Flucht, Städte ohne Menschen. Krieg ist in der neuen Welt die Folge der Katastrophe, nicht mehr umgekehrt, wie früher. Und wie Radioaktivität kennt auch der Klimawandel weder Grenzen noch Rassen, noch Völker. Man kann beiden nicht nationalstaatlich begegnen, nicht mit Religion und nicht mit Ideologie. Doch der Mensch weigert sich, diese Veränderung wahrzunehmen, nachzuvollziehen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Geistig und emotional lebt er immer noch in der alten Welt vor Tschernobyl, sagt Alexijewitsch. Denkt in den alten Kategorien, was sich in diesen Tagen auch anhand der globalen Flüchtlingsdynamik beweist. In den Antagonismen nah und fern, Heimat und Fremde. In den alten Vorstellungen von Raum und Zeit. Flüchtet in die Schutzräume Ideologie und Religion, Nationalismus und Grenzen, wodurch man die neue Geschichte zwar leugnen kann – aber nicht widerlegen.

Die Helden von Tschernobyl haben ein Ehrenmal, schreibt Alexijewitsch: den rissigen Sarkophag über Reaktor 4, in dem sie das Kernfeuer begraben haben. Vorübergehend begraben. Die Feuerwehrleute und Liquidatoren, die noch Schlimmeres verhinderten, sind aber keine Helden eines Vaterlandes, wie in der alten Geschichte, die das Innen gegen das Außen gerettet hätten. Sie haben nicht ihr Volk gerettet, sondern Europa. Die Welt. Die Welt von Tschernobyl.

Aber wir raffen es nicht. "Alles hat sich verändert, bis auf uns", schreibt Alexijewitsch. Das ist der trostloseste Satz, den man über uns Menschen sagen kann. Das kann nicht das letzte Wort sein.

Literatur

:

Swetlana Alexandrowa Alexijewitsch, Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft, Piper 2015.

Der Text ist zuerst in der zeozwei, dem taz-Magazin für Klima, Kultur, Köpfe erschienen, Externer Link: www.zeozwei.de

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