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Kubanische Metamorphosen

Henky Hentschel

/ 6 Minuten zu lesen

Für einen US-Dollar musste man 1995 in Havanna 150 kubanische Pesos bezahlen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dem wichtigsten Wirtschaftsmarkt, zweifelte kaum jemand daran, dass Fidel Castros Utopie endgültig gescheitert war. Nur wenige setzten sich eine "rosarote Brille" auf und glaubten an das Gegenteil, so wie mancher Schriftsteller.

Taxifahrer vor seinem historischen Fahrzeug in der Altstadt von Havanna, Kuba im Juni 2001. (© AP)

"Alle wollen weg aus Cuba, einer zog hin", titelte "Die Woche 1995. Der eine war ich. Der vor kurzem als Zahlungsmittel wieder zugelassene Dollar kostete auf der Straße 150 kubanische Pesos. Die Stromausfälle wurden zur Geißel der Insel. Manche gaben Castro noch zehn Tage, andere, unverbesserliche Optimisten aus der linken Szene, gönnten ihm einen weiteren Monat. Kaum einer zweifelte nach Auflösung der Sowjetunion und dem weltweiten Verlust der Import- und Exportmärkte Kubas daran, dass nun auch diese Utopie gescheitert war. Nur wenige setzten sich wie ich eine rosarote Brille auf. Nur wenige hofften noch, dass die Insel mit ihrem manchmal bizarren, aber immer tropikalen Sozialismus der Rache des Kapitals trotzen könne. Ich nistete mich in Havanna ein, als gäbe es überhaupt nichts zu befürchten. Ich ließ mich als Journalist akkreditieren und schrieb über alles, was die große Presse gründlich übersah. Zum Beispiel über die Nächte in Havanna.

Der "periodo especial", die besondere Zeit mit ihrer Kriegswirtschaft in Friedenszeiten brachte ja nicht nur Hunger, leere Läden und lichtlose nächtliche Straßen mit sich. Der Wille vor allem junger Frauen, das Leben zu leben, koste es, was es wolle, brach sich seine Bahn. Die Dollar-Bars in der Altstadt Havannas blieben bis in den frühen Morgen hinein geöffnet. Die Touristen, die Vorhut des erhofften und ein paar Jahre später Wirklichkeit gewordenen Booms, tanzten mit den Mädchen zur mitreißenden Salsamusik der Band in der Ecke. Die nächtliche Fröhlichkeit breitete sich aus wie ein Pilz, wie eine besondere Hefe, die außer der Lust des Augenblicks nichts gelten ließ. Wer Glück hatte, bekam einen dollarschweren Ausländer ab, der alle Sorgen aus der Welt schaffte. Selten wurden in Cuba so viele kranke Großmütter geheilt, wie in diesen Jahren auf dem Tiefpunkt der Krise, denn die Touristen brachten nicht nur ihre Dollars unter die Leute, sie hatten auch Medikamente im Gepäck und so vieles andere, was auf der Insel einfach nicht mehr aufzutreiben war. Aber außerhalb der Dollar-Bars und weg von den Stränden fragten sich die mager gewordenen Kubaner weiterhin, wie lange das alles noch so weitergehen könne.

Neugier hatte mich hergetragen. Auch ich fragte mich, wie lange noch, was wird Castro einfallen, um mit seiner Revolution die Kurve zu kriegen, jetzt, da ihm keiner mehr hilft. Ich forschte in den Gesichtern der Menschen, starken, ausdrucksvollen Gesichtern aller Hautfarben unter Turbans, Baseballkappen, Hüten, Kopftüchern, Spiegelbilder ihrer Gesellschaft, aber gezeichnet vom Hunger, von der Hydra der Probleme im Alltag, von der Abwesenheit auch nur des Gedankens an irgendeine Zukunft. "Patria o Muerte", sagte der Chef, "Socialismo o Muerte", sagte der Chef, "Venceremos!" ("Wir werden siegen!").

Und dann machte sich Kuba auf den langen, mühsamen Marsch aus der totalen Krise. Alles begann mit einer Zahl. Das Bruttosozialprodukt war 1994 zum ersten Mal wieder gewachsen, um sage und schreibe 0,2 Prozent. Aber 0,2 Prozent von was? Alles war geschrumpft in diesen Jahren. 0,2 Prozent Wirtschaftswachstum bedeutete 0,2 Prozent von nichts. Aber trotzdem: Es ging nicht mehr nach unten mit Kuba, zumindest konnte man sich das einbilden, wenn man wie ich der Insel die Daumen drückte. Zumindest fand ein klitzekleines Pflänzchen Hoffnung, ein Eckchen mit Humus, auf dem es wachsen konnte.

Die Regierung ergriff Maßnahmen und erklärte ihre Maßnahmen dem Volk. Das Volk billigte die Maßnahmen seiner Regierung. Schließlich lebte man in einem sozialistischen System. Dass der Dollar endlich wieder ein legales Zahlungsmittel war, hat in vielen Kubanern einen lange nicht gekannten Optimismus geweckt. Denn ein Großteil von ihnen lebte von dem Geld, das die ausgewanderten Verwandten schickten. Und wer über dieses Geld verfügte, stand jetzt nicht mehr mit einem Fuß im Gefängnis. Jetzt stand dafür wieder die Klassengesellschaft vor der Tür. Wer Dollars hatte, war fein raus, die anderen blickten in die Röhre. Aber in den Dollar-Läden begannen sich die Regale wieder zu füllen. Im Dollar-Diplomaten-Großmarkt schoben sie Einkaufswagen voller Schätze hinaus zu ihren Autos. Die anderen bewachten die Parkplätze und sammelten Groschen.

Die Regierung ergriff weitere Maßnahmen, denen der Ruch des Kapitalismus anhaftete. Joint Ventures entstanden, und die beteiligten Ausländer durften ihre Gewinne abzugsfrei nach Hause verfrachten. Der Staat stampfte Freihandelszonen aus dem Boden, Mercedes, aus Furcht vor dem US-Helms-Burton-Act als Zweigstelle der Niederlassung in Kairo angetreten, verkaufte die ersten Limousinen. Selbst für die Mittelschicht fiel etwas ab. Plötzlich war es Privatpersonen erlaubt, mit dem staatlichen Ernährungsmonopol zu konkurrieren. Die Paladare, Kleinrestaurants mit weniger als 13 Sitzplätzen, betrieben ausschließlich von Familienmitgliedern, wurden zu Eckpfeilern der Hoffnung auf ein Leben, in dem man mit ehrlicher Arbeit ehrliches Geld verdienen konnte.

Am deutlichsten zeigte sich die Trendwende in der Altstadt Havannas. Die hatte die Revolution gründlich vernachlässigt, um die schon viel länger darbenden Provinzen zu unterstützen. Eusebio Leal, der Stadthistoriker, nahm die Sache in seine energischen Hände. Haus für Haus, Kolonialpalast für Kolonialpalast, Straßenzug für Straßenzug begann Leal mit der Wiederherstellung dieses Kulturguts der Menschheit, eine Sisyphusarbeit angesichts der Tatsache, dass diese verkommene, hochgradig baufällige Altstadt von mehr als 100.000 Menschen bewohnt wird.

Viele der Maßnahmen der Regierung griffen, aber häufig nahmen "die da oben" mit der Linken zurück, was sie mit der Rechten eher unfreiwillig hergegeben hatten. Am schlimmsten kam es für die Besitzer der Paladare. Der Staat schickte unablässig seine Kontrolleure und verhängte gigantische Bußgelder, oft ohne jeden Grund. Viele hielten trotzdem durch, da erhöhte der Staat drastisch die Steuern und die Abgaben für die Betriebsgenehmigungen. Nur wenige überlebten, weil die Touristen dem Märchen aufsaßen, in einem Paladar esse man besonders billig. Das Gegenteil war der Fall. Nur noch eine Handvoll dieser Restaurants retteten sich in Havanna.

Auch im Straßenverkehr bestätigte sich die Trendwende. Bis Mitte der Neunzigerjahre bestimmten ihn Ladas und alte Ami-Schlitten. Die waren zwar in jämmerlichem Zustand, aber als Taxis eingesetzt, ernährten sie auch nach Abzug der hohen Kosten für die Lizenz ihren Mann. Und langsam, erst hie und da, dann immer häufiger, wurden sie wieder zu richtigen Autos. Die Chevy-Motoren wichen Lada-Ersatzteilen (der Fantasie des Kubaners sind keine Grenzen gesetzt), Lack fand erneut einen Markt, und inzwischen gibt es auch wieder Luxusausführungen, für die reiche Kubaner bis zu 15.000 US-Dollar hinblättern. Nur die immer noch überfüllten Kamele, Riesenbusse für mehr als 200 Fahrgäste weisen noch darauf hin, dass Kubas Verkehrsprobleme keinesfalls gelöst sind.

Francisco Repilado, bekannt als Compay Segundo (* 18. November 1907 in Siboney bei Santiago de Cuba; † 14. Juli 2003 in Havanna), hier auf einem Bild aus dem Jahr 2001, war Mitglied des Buena Vista Social Clubs. (Bild: ap)

Dass da auf diese und jene vertrackte Art ein neues Lebensgefühl entsteht, zeigt sich auch auf dem Musikmarkt, Buena Vista Social Club und die Salsa sind bei den jungen Kubanern ins Glied zurückgetreten. Ihre Plätze nehmen jetzt Hiphop, Rap und Reggaeton ein, eine Revolution innerhalb der Revolution, die vielen Älteren die Haare zu Berge stehen lässt.

Und die Zukunft? Die ewige kubanische Frage findet weiterhin keine Antwort. Immerhin steht der Dollar jetzt auf 24 Pesos der Landeswährung, und als Zahlungsmittel hat er bereits wieder ausgedient. Castro hat ihn einfach abgewertet. Jetzt suchen die Kubaner Euros.

Sodom und Gomorrah dagegen haben keine Ähnlichkeit mehr mit dem nächtlichen Havanna. Sich mit einem Ausländer zu zeigen, ist für junge Frauen zu einer erneuten Art russischen Rouletts geworden. Die Polizei greift sie und arbeitet dabei ziemlich effektiv, wenn auch nicht immer auf der Basis der Legalität. Und jetzt ist in Havanna nach neun Uhr abends wieder Schluss mit lustig.

Schade drum. Meine Neugier hat sich trotzdem gehalten, wenn sie auch ein vernünftiges Maß geschrumpft ist. Ganz nebenbei: Inzwischen hat die Regierung mir Betriebsverbot erteilt.

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Henky Hentschel, Jahrgang 1940, Studium der Soziologie und Ethnologie, lebt seit 1990 in der Karibik. Er hat zahlreiche Beiträge als Filmemacher für ZDF, WDR und SDR produziert. Weitere Artikel erschienen unter anderem in: Süddeutsche Zeitung, Die Woche und GEO. Darüber hinaus ist er Autor mehrerer Kinder- und Jugendbücher sowie von drei Romanen.