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Analyse: Die Polen über das Europäische Parlament ein Jahr vor den Wahlen | bpb.de

Analyse: Die Polen über das Europäische Parlament ein Jahr vor den Wahlen

Dr. Agnieszka Łada

/ 9 Minuten zu lesen

Eine Mehrheit der polnischen Bevölkerung befürwortet eine Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union. Doch führt Politikverdrossenheit und Unkenntnis über die EU-Institutionen ein Jahr vor den EU-Parlamentswahlen zu einer erneut niedrigen Wahlbeteiligung?

Eine Mehrheit in der polnischen Bevölkerung schätzt die Arbeit der EU-Institutionen. (© picture alliance/Pacific Press Agency)

Zusammenfassung

Die Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019 sind für die EU-Bürger eine Möglichkeit, die politische Machtverteilung in Europa mitzubestimmen. Obwohl die polnische Gesellschaft die Mitgliedschaft Polens in der EU deutlich befürwortet, ist seit dem EU-Beitritt (2004) ein ebenso deutliches Desinteresse zu beobachten, an den Europawahlen teilzunehmen. Gründe dafür sind sowohl eine allgemeine Politikverdrossenheit, die u. a. auf die politischen Konflikte in Polen zurückzuführen ist, als auch Unkenntnis über die Bedeutung und das Funktionieren europäischer Institutionen. Es bedarf einer Informations- und Motivationskampagne, um den polnischen EU-Bürgern ihre Rolle bei der Entscheidung über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments bewusst zu machen.

In wenig mehr als einem halben Jahr, vom 23. bis 26. Mai 2019, werden die Wahlen zum Europäischen Parlament stattfinden. Trotz der großen Unterstützung für die Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union war die Wahlbeteiligung in Polen bei den letzten Wahlen katastrophal niedrig und dabei eine der niedrigsten in der EU (2004: 21 Prozent, 2009: 25 Prozent, 2014: 24 Prozent), wenngleich die Wahlbeteiligung auch in den anderen EU-Staaten recht niedrig ist und weiter sinkt.

Die Gründe für die niedrige Wahlbeteiligung in Polen sind vielfältig. Den Polen ist die Politik verleidet und sie glauben nicht an die Bedeutung ihrer abgegebenen Stimme. Untersuchungen des Meinungsforschungsinstituts CBOS vom August 2018 zeigen, dass aktuell fast zwei Drittel der Befragten (63 Prozent) nicht der Meinung sind, dass Menschen wie sie Einfluss auf die Angelegenheiten des eigenen Landes haben. Dieser Anteil ist seit Jahren hoch. Zwar ist er seit dem Jahr 2004, als er 83 Prozent betragen hatte, gesunken, aber in den letzten drei Jahren hielt er sich auf dem Niveau von 56 bis 63 Prozent. Ein wichtiger Grund für die geringe Wahlbeteiligung bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ist seit dem Beitritt Polens zur EU außerdem das Nichtwissen darüber, wie diese Institution funktioniert und auf welche Art und Weise die Europaabgeordneten gewählt werden. Dies belegen klar die Untersuchungen der öffentlichen Meinung in Polen, die regelmäßig vom Institut für Öffentliche Angelegenheiten (Instytut Spraw Publicznych – ISP) durchgeführt werden. Hinzu kommt, dass traditionell nur eine kleine Gruppe Polen die Wahlen zum Europäischen Parlament für wichtig hält: In einer Befragung von CBOS im Sommer 2018 war es nur ein Viertel der Befragten (24 Prozent). Eine geringe oder sogar verschwindend geringe Bedeutung schrieb ihnen insgesamt die Hälfte der Befragten zu (49 Prozent). Zum Vergleich: Große Bedeutung maßen 35 Prozent der Befragten den Wahlen zum polnischen Parlament (sejm) zu, 38 Prozent den Präsidentenwahlen in Polen und noch mehr, 43 Prozent, den Wahlen auf lokaler Ebene.

Die Europawahlen im Jahr 2019 werden in Polen in einer besonderen Zeit stattfinden – ein halbes Jahr nach den Selbstverwaltungswahlen und ein halbes Jahr vor den Parlamentswahlen, was zur Folge hat, dass sie als Test für die Unterstützung für die polnischen Parteien betrachtet werden. Die polarisierte politische Szene in Polen und die tiefgehende Spaltung der polnischen Gesellschaft können zusätzlich die Einstellung zu den Europawahlen beeinflussen, die gewöhnlich als weniger wichtig angesehen werden.

Deutliche Unterstützung für die Mitgliedschaft Polens in der EU

Die Untersuchungen zeigen, dass die Polen die Mitgliedschaft ihres Landes in der Europäischen Union weiterhin wollen. Diese Antwort wählt die deutliche Mehrheit der Befragten (79 Prozent). Gleichzeitig wünscht sich die größte Gruppe, dass der gegenwärtige Stand der Integration aufrechterhalten bleibt (44 Prozent). Für die Reformierung der EU spricht sich gut ein Drittel der Polen aus (35 Prozent). Nur vier Prozent sind für den Austritt aus der Union. Relativ groß ist die Gruppe derer, die keine Antwort geben konnten (17 Prozent).

Für den Verbleib in der EU und die Beibehaltung des aktuellen Status sprechen sich im Vergleich zu den anderen Altersgruppen häufig die jüngsten Befragten aus (58 Prozent). Gleichzeitig hat jeder Fünfte dieser Gruppe keine Meinung zu dem Thema (20 Prozent).

Die EU-Institutionen werden mehr wertgeschätzt als die nationalen

Die Tätigkeiten der EU-Institutionen bewerten die Polen positiv. Über die Hälfte der Befragten äußern sich positiv über die Europäische Kommission (53 Prozent) und das Europäische Parlament (56 Prozent). Diese Anteile sind mehr als zweimal so hoch wie die negativen Bewertungen. Jeder Fünfte Befragte hat allerdings Schwierigkeiten, die Frage zu beantworten.

Werden diese Antworten mit der Wahrnehmung der nationalen Institutionen, der Regierung und dem Sejm, konfrontiert, lassen sich deutliche Unterschiede feststellen. Die Hälfte der befragten Polen bewertet die nationalen Institutionen schlecht (49 bzw. 50 Prozent). Dies stimmt mit den Meinungen überein, die die Polen in den jährlichen Umfragen von "Eurobarometer" kundtun.

Die Befragten, die die Arbeit des Europäischen Parlaments positiv bewerten, bewerten die Tätigkeit der Europäischen Kommission gewöhnlich ebenso. Die Nebeneinanderstellung der Beurteilungen der nationalen und der EU-Institutionen lassen keine augenfälligen Verbindungen erkennen.

Der Anteil der positiven Meinungen über die EU-Institutionen ist in den letzten Jahren gewachsen, gegenüber dem Europäischen Parlament um acht Prozentpunkte und um sechs Prozentpunkte gegenüber der Europäischen Kommission.

Die befragten Polen, die die Arbeit beider EU-Institutionen positiv bewerten ("eindeutig gut" und "eher gut"), sind häufiger für einen Verbleib in der EU in ihrem jetzigen Zustand. Dagegen wollen diejenigen, die die Antwort "eher schlecht" oder "eindeutig schlecht" bei der Frage nach dem Funktionieren des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission wählen, relativ häufiger in der EU bleiben, aber sie gleichzeitig reformieren. Diejenigen, die die beiden Institutionen sehr negativ bewerten, unterscheiden sich von diesen durch den Wunsch, Polen möge die EU verlassen.

Das fehlende Wissen über die Wahl der Abgeordneten ins Europäische Parlament

Ein Jahr vor den Wahlen zum Europäischen Parlament wusste über die Hälfte der Polen nicht, wie dessen Mitglieder gewählt werden – 34 Prozent gaben eine falsche Antwort an und 24 Prozent entzogen sich einer Antwort. Die korrekte Antwort, dass die Abgeordneten von allen Bürgern im Rahmen von Wahlen gewählt werden, gaben 43 Prozent der Befragten. Das Alter spielt in diesem Fall keine Rolle. Es gibt auch keine Korrelation zwischen der Bewertung der Tätigkeit des Europäischen Parlaments und dem Wissen, dass die Bürger die EU-Parlamentarier wählen.

Dieses Ergebnis unterscheidet sich nicht signifikant von dem vor vier Jahren. Damals, ebenfalls ein knappes Jahr vor den Wahlen, gaben 40 Prozent der befragten Polen die richtige Antwort. Die Differenz liegt also im Rahmen der statistischen Abweichung. Dieses Ergebnis ist allerdings schlechter als das vor den Wahlen im Jahr 2009 mit 52 Prozent. Damals wurde die Frage zwei Mal gestellt – einmal vor den Wahlen, im April, und einmal anschließend, im August. Der Wahlkampf und die Wahlen haben zwar das Wissen über das Wahlrecht der Bürger beeinflusst, aber das Ergebnis von 57 Prozent der Befragten, die damals sagten, dass die Europaabgeordneten in allgemeinen Wahlen gewählt werden, kann nicht als zufriedenstellend bezeichnet werden.

Die Unsicherheit, wen der Europaabgeordnete repräsentiert

Nach dem EU-Vertrag (Art. 14, Absatz 2) setzt sich das Europäische Parlament aus den "Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger" zusammen und nicht aus den "Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten", wie es in dem Artikel des nicht mehr geltenden EG-Vertrags (EG-Vertrag, Art. 189) heißt. Danach gefragt, gab die Hälfte der Polen (50,5 Prozent) an, dass der Europaabgeordnete alle Bürger Polens repräsentiert. Die andere Hälfte der Befragten teilte sich ungefähr gleich auf die Antworten auf, dass er alle Europäer repräsentiert (16,5 Prozent) bzw. dass er die Wähler seines Wahlkreises repräsentiert (14 Prozent), oder hatte keine Meinung zu dem Thema (19 Prozent). Das Alter hat keinen Einfluss auf die Antwort.

Fehlende Unterstützung für die Idee des Spitzenkandidaten

Nach Ansicht eines Teils der Experten in Brüssel würde es die Wähler zur Stimmabgabe animieren, wenn die Parteifamilien Spitzenkandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission aufstellen würden. Angenommen wird, dass eine solche Personalisierung des Wahlkampfes die Bürger stärker interessieren würde. Dann würden nicht Gruppen von Kandidaten, die in Parteifamilien eingebettet wären, miteinander konkurrieren, sondern konkrete Personen.

Die letzten Wahlen zum Europäischen Parlament, bei denen zum ersten Mal dieses Instrument angewendet worden war, zeigten, dass diese Annahme auf die Länder zutraf, aus denen die Kandidaten kamen bzw. auf die Länder, die dieselbe Sprache wie die Kandidaten sprachen. Dort waren die Kandidaten populärer, sie konnten effektiver ihren Wahlkampf führen und die Emotionen der Wähler wecken. In Polen zogen die Spitzenkandidaten weder die Wähler an die Urnen noch waren sie überhaupt bekannt. Bei den kommenden Europawahlen wird es vermutlich ähnlich sein.

Es zählen die Spaltungen der polnischen Parteien

Abstrakt bleibt für die Polen auch die Frage, welchen parlamentarischen Fraktionen die von ihnen gewählten Europaabgeordneten angehören. Theoretisch hängt davon das Gewicht ihrer Stimme ab, denn die großen Fraktionen haben größere Chancen, ihre Ziele zu erreichen. Allerdings ist die Dynamik im Europäischen Parlament für den durchschnittlichen Bürger so unbekannt und undurchschaubar, dass der Aspekt der Einteilung der Parteien in Parteifamilien nur für eine Handvoll Wähler interessant ist. Für die Mehrheit der Wähler kann allerdings die binnenpolitische Teilung der politischen Bühne in Polen in zwei sich bekämpfende Blocks von Bedeutung sein.

Die aktuellen Polarisierungen auf der politischen Bühne in Polen demotivieren einerseits einen Teil der Bürger, sich irgendwie zu engagieren und an den Wahlen teilzunehmen. Sie haben deutlich das Interesse an den Politikern verloren und sehen keine Alternative unter ihnen, was zur Folge hat, dass sie zu Hause bleiben. Andererseits ist die Polarisierung eine Chance, denn sie kann auch Wähler motivieren, ihre Stimme abzugeben. Die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) wird wohl dazu aufrufen, ihr die Stimme zu geben, und damit überzeugen wollen, dass nur ihre starke Vertretung im Europäischen Parlament erlauben wird, die polnischen Interessen in der EU zu verteidigen. Die Opposition wird sicherlich auf die von der PiS ausgehende Gefahr eines langsam herbeigeführten EU-Austritts hinweisen, der man sich entgegenstellen müsse, indem man bei den Wahlen für proeuropäische Kräfte stimme. Die Befragungen von CBOS vom Mai 2018 bestätigen, dass die Gesellschaft bei der Bewertung der aktuellen Europapolitik Polens sehr gespalten ist. Die Hälfte der Befragten (51 Prozent) beurteilt sie positiv, ein Drittel (33 Prozent) negativ und einige Prozent haben keine Meinung. Die jüngsten Ergebnisse des ISP in der Reihe des "Deutsch-Polnischen Barometer" ("Barometr Polska-Niemcy") vom Juni 2018 zeigen, dass ähnlich große Gruppen von Polen der Meinung sind, dass Polen lieber zu einer besseren Zusammenarbeit in Europa beitragen sollte (45 Prozent) als zur Verschärfung der Konflikte (40 Prozent). Allerdings werden sicherlich die Ereignisse und Themen der polnischen Innenpolitik den Wahlkampf dominieren (wie übrigens auch bei den vorangegangenen Europawahlen), umso mehr als ihr Ergebnis der letzte Stimmungstest vor den Sejmwahlen im Herbst 2019 sein wird.

Fazit

Trotz der großen Unterstützung der Polen für die Idee der europäischen Integration und der Zufriedenheit mit der Mitgliedschaft Polens in der EU kennen die Polen die europäischen Institutionen nicht und sind sich ihrer Rolle bei der Mitgestaltung der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments in Form der Stimmabgabe für einen Abgeordnetenkandidaten nicht bewusst.

Die Ergebnisse der angeführten Untersuchungen sowie weiterer Studien über das Wissen der Polen über die Europäische Union und insbesondere das Europäische Parlament zeigen deutlich die Notwendigkeit, zwei einander ergänzende Maßnahmen durchzuführen. Erstens muss aktiv informiert werden, um die allgemeine Wissenslücke in Sachen EU und Europäisches Parlament zu schließen. Dazu muss gehören, die Rolle des Europäischen Parlaments und die Bedeutung seiner Entscheidungen für den Alltag der Europäer zu vermitteln. Zweitens muss für die Teilnahme an Wahlen geworben werden – und nicht nur an den Europawahlen. Die Polen zu informieren und zu motivieren, ist die gemeinsame Aufgabe der Kandidaten und Parteien, der staatlichen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen, der Medien und der europäischen Institutionen.

Es ist allerdings schwer vorherzusehen, ob solche oder andere Aktivitäten bzw. welche Faktoren entscheidende Bedeutung für die Wahlbeteiligung haben werden. Die Wahlen werden eine Geisel der innenpolitischen Lage in Polen sein. Letztlich wird diese die Wahlbeteiligung beeinflussen.

Die Daten zu den Einstellungen der Polen gegenüber der europäischen Integration und dem Europäischen Parlament wurden in Umfragen auf der Grundlage persönlicher Interviews (CAPI-Methode) generiert, die vom 12. bis 17. April 2018 von IPSOS im Auftrag des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten (Instytut Spraw Publicznych – ISP) durchgeführt wurden.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Fussnoten

Dr. Agnieszka Łada ist Direktorin des Europäischen Programms am Institut für Öffentliche Angelegenheiten, Warschau (Instytut Spraw Publicznych – ISP, Warszawa). Sie ist Expertin für deutsch-polnische und europäische Themen.