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Analyse: Der lange Weg zu einer neuen europäischen Sicherheitsordnung. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den sicherheitspolitischen Vorstellungen in Polen, Frankreich und Deutschland | bpb.de

Analyse: Der lange Weg zu einer neuen europäischen Sicherheitsordnung. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den sicherheitspolitischen Vorstellungen in Polen, Frankreich und Deutschland

Hans-Henning Schröder

/ 14 Minuten zu lesen

Welche Vorstellungen von Bedrohungsszenarien und Sicherheitspolitik haben Polen, Deutschland und Frankreich? Welche Bedeutung haben die Ukraine-Krise und die Rolle Russlands in der Beurteilung der Situation? Und wie könnte eine Neuformulierung des europäischen Sicherheitskonzepts gelingen?

Die polnische und europäische Flagge miteinander verknotet. Für die Erarbeitung einer neuen Sicherheitsordnung ist die Zusammenarbeit der europäischen Länder gefordert. (© picture alliance / NurPhoto)

Zusammenfassung

Das europäische Sicherheitssystem befindet sich in einer Krise, daher ist es Zeit, über eine neue Sicherheitsordnung nachzudenken. Als Bestandsaufnahme europäischer Befindlichkeiten hat das "FES Regionalbüro für Zusammenarbeit und Frieden in Europa" in sieben Ländern Erhebungen durchgeführt, die nach den Einschätzungen bezüglich der außen- und sicherheitspolitischen Situation in Europa im Sommer 2018 fragten. Die Ergebnisse machen deutlich, dass es nicht einfach sein wird, innerhalb der EU eine gemeinsame Sicherheitskonzeption zu entwickeln. Es gibt zwar eine Reihe übereinstimmender Einschätzungen, insbesondere was die Bedrohung durch Krieg und Terrorismus und das Ziel politischer statt gewaltsamer Lösungen angeht. An solchen Gemeinsamkeiten kann man ansetzen. Es gibt aber auch deutliche Unterschiede, etwa in der Einschätzung Russlands oder in der Einstellung zu militärischen Einsätzen. Eine Neuauflage des "Weimarer Dreiecks", eine außen- und sicherheitspolitische Kooperation von Polen, Frankreich und Deutschland, bedarf angesichts der unterschiedlichen Haltungen in den Gesellschaften noch intensiver Gespräche.

Zeit für eine neue europäische Sicherheitsordnung

Das europäische Sicherheitssystem befindet sich in einer Krise. Das Helsinki-Abkommen von 1975 und die Charta von Paris im November 1990 hatten die Grundlagen für eine friedliche Ordnung in einem Europa ohne Blöcke geschaffen. Die militärische Konfrontation der Jahre des Kalten Krieges gehörte der Vergangenheit an, ein stabiler und friedlicher Weg hin zu einer europäischen Einheit schien vorgezeichnet. Doch 30 Jahre nach der Unterzeichnung der Charta ist klar, dass sich diese Hoffnungen nicht erfüllt haben. Es sind neue Gegensätze aufgebrochen, innerhalb Europas und auch innerhalb der Europäischen Union. Selbst wenn 2019 weniger konventionelle und nukleare Waffensysteme auf europäischem Territorium stationiert sind als in der Phase der Ost-West-Konfrontation, ist der Kontinent heute wieder stärker durch Konflikte bedroht. Das gemeinsame Verständnis von Sicherheit hat sich aufgelöst, und die Regeln, die dazu dienten, gegenseitiges Vertrauen zu schaffen und auf diese Weise Sicherheit zu garantieren, sind mehrfach gebrochen worden. Russland hat Grenzen verletzt und sich Teile des Territoriums eines Nachbarstaates angeeignet, die USA haben den Vertrag von 1987 über die nuklearen Mittelstreckenraketen gekündigt, im postsowjetischen Raum sind militärische Konflikte ausgebrochen. Es ist Zeit, über eine neue Sicherheitsordnung nachzudenken.

"Sicherheitsradar 2019" – ein Umfrageprojekt in sieben europäischen Staaten

Zu diesem Zweck muss man sich zunächst ein Bild von den sicherheitspolitischen Befindlichkeiten in Europa machen. Dieser Aufgabe hat sich das "FES Regionalbüro für Zusammenarbeit und Frieden in Europa" mit Sitz in Wien unterzogen. Im Sommer 2018 hat es in Kooperation mit dem Meinungsforschungsinstitut Ipsos repräsentative Umfragen durchgeführt und die Ergebnisse als "Sicherheitsradar 2019: Weckruf für Europa!" (Security Radar 2019. Wake-up call for Europe!) veröffentlicht. Einbezogen wurden Bürger in sieben europäischen Ländern (Deutschland, Frankreich, Lettland, Polen, Russland, Serbien, Ukraine). Erfragt wurden die Einschätzungen bezüglich der außen- und sicherheitspolitischen Situation in Europa im Sommer 2018.

Die Entscheidung für die Auswahl der teilnehmenden Länder wurde aufgrund ihrer Bedeutung für die europäische Sicherheit getroffen: Frankreich und Deutschland sind zurzeit die beiden wirtschaftsstärksten Mitgliedsstaaten der EU, deren Unterstützung für jede außenpolitische Initiative notwendig ist; Polen ist der wichtigste ostmitteleuropäische EU-Mitgliedsstaat; Lettland repräsentiert die baltischen Republiken mit ihrer geographisch und historisch besonderen Situation; Serbien ist ein relevanter Akteur im Südosten Europas, seit 2013 ein EU-Beitrittskandidat mit vielen Verbindungen zur EU und zugleich mit engen historischen und kulturellen Beziehungen zu Russland; die Ukraine ist das größte Land des Programms der Östlichen Partnerschaft, sie hat ein Assoziierungsabkommen und ein umfassendes Freihandelsabkommen mit der EU unterzeichnet. Sie wurde im Osten des Landes in einen militärischen Konflikt verwickelt, den sie gegen von Russland unterstützte Separatisten im Donbass führt. Zu guter Letzt schließt die Umfrage Russland mit ein, denn ohne Russland ist jede Diskussion über Sicherheit in Europa sinnlos.

Die folgende Analyse greift die polnischen, französischen und deutschen Positionen heraus. Konzepte für europäische Sicherheit müssen innerhalb der EU von diesen drei Staaten gemeinsam entwickelt werden, und es ist zu prüfen, ob in den Gesellschaften dieser Länder ähnliche Bedrohungsvorstellungen und Sicherheitskonzepte vorherrschen bzw. wie sehr diese differieren. Informationen über die Umfrageergebnisse in den anderen untersuchten Ländern (Lettland, Russland, Serbien, Ukraine) können der Gesamtstudie entnommen werden, die auf der Website des Wiener Regionalbüros der FES zugänglich ist Externer Link: https://www.fes-vienna.org/e/new-publication-security-radar-2019-wake-up-call-for-europe/. Konzentriert man sich auf die Daten, die in Polen, Frankreich und Deutschland erhoben wurden, kann man sich ein realistisches Bild davon machen, ob die EU in der Lage sein wird, in naher Zukunft eine gemeinsame Sicherheitspolitik zu entwickeln.

Das Problem der inneren Stabilität

Der erste Blick muss jedoch den inneren Verhältnissen gelten. Der Zusammenhalt der Europäischen Union und die Glaubwürdigkeit ihrer Außen- und Sicherheitspolitik basieren darauf, dass die staatlichen Institutionen, die Parlamente und Regierungen, die Parteien, die Justiz, die Sicherheitsorgane und das Militär in den Gesellschaften der Mitgliedsstaaten Vertrauen genießen. Dies ist die Voraussetzung für erfolgreiche zwischenstaatliche Absprachen im Rahmen der Union. Die Entwicklungen in Deutschland mit der Zunahme der AfD, einer rechten Partei, in der auch Rechtsradikale aktiv sind, in Frankreich mit der "Gelbwesten"-Bewegung und der starken Position der Rassemblement National sowie in Polen, dessen PiS-Regierung nach Auffassung der EU und eines erheblichen Teils der polnischen Gesellschaft rechtsstaatliche Prinzipien verletzt, signalisieren, dass in allen drei Ländern die Akzeptanz für das politische System und die Einhaltung demokratischer Normen geschwächt ist. Die Ergebnisse der Umfrage bestätigen dies [siehe Grafik 6 auf S. 9]. In allen drei Ländern ist das Vertrauen in Regierung und Staatsoberhaupt gering, Parteien werden nur noch von einer Minderheit der Befragten akzeptiert. Auch die Massenmedien schneiden schlecht ab. Immerhin hält eine Mehrheit die Gerichte und die Polizei für vertrauenswürdig. In Polen sind die Zustimmungsraten etwas geringer als in Frankreich und Deutschland, das mag an der Gerichtsreform liegen, die nach Ansicht der EU nicht den rechtsstaatlichen Prinzipien genügt. Hoher Vertrauensraten erfreut sich auch das Militär – die Ausnahme bildet hier Deutschland, was nach den diversen Skandalen und den Meldungen über Ausrüstungsmängel, aber auch aus historischen und politisch-kulturellen Gründen nicht verwundert. Insgesamt scheint es, dass die Institutionen, die Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit garantieren (Militär, Polizei und Gerichte – in Frankreich auch die Geheimdienste), in den Gesellschaften Vertrauen genießen, während die politischen Institutionen ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt haben. Das zeigt, dass sich das europäische System in einer Krise befindet, dass die staatliche Ordnung aber gegenwärtig nicht akut gefährdet ist.

Weltlage, Wirtschaftslage. Globale Probleme und persönliche Erwartungen

Die globalen Probleme werden in den drei Ländern durchaus unterschiedlich wahrgenommen [siehe Grafik 1 auf S. 7]. Der Klimawandel und die Zunahme der Weltbevölkerung erscheinen den Befragten in Polen weniger wichtig als denen in Deutschland und in Frankreich. Dagegen machen sich mehr Polen Sorgen über unkontrollierte Einwanderung. In Frankreich wiederum war die Furcht vor einer Wirtschaftskrise deutlich größer als in Polen oder Deutschland. Die Furcht vor Kriegen, Konflikten und internationalem Terrorismus ist in allen drei Ländern gleich ausgeprägt. Die Formulierung einer gemeinsamen Klima- und Flüchtlingspolitik der EU dürfte also auf Schwierigkeiten stoßen. In Fragen der inneren und äußeren Sicherheit könnte es immerhin eine gemeinsame Basis geben.

Im Gegensatz zu den allgemeinen Einschätzungen stehen die Bewertungen der künftigen Entwicklungen in der weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Lage [siehe Grafik 2 auf S. 7 und Grafik 3 auf S. 8]. Hier sind die Befragten in Deutschland durchweg pessimistischer und die in Polen optimistischer eingestellt als in den anderen Ländern. Das mag damit zusammenhängen, dass sich die polnische Wirtschaft ausgehend von einem niedrigeren Niveau in den letzten Jahren positiv entwickelt hat, während in Deutschland Zweifel aufkommen, ob das hohe Niveau gehalten werden kann.

Wird nach der persönlichen Perspektive gefragt[siehe Grafik 4 auf S. 8], sieht die Welt freundlicher aus: Um die 90 % der Respondenten in Frankreich, Polen und Deutschland fühlen sich persönlich sicher, nur eine Minderheit von 37 % (Deutschland) bzw. 44 % (Frankreich) sorgt sich um die persönliche Zukunft. Bei der letzten Frage sticht Polen allerdings heraus: Fast zwei Drittel der Befragten machen sich Sorgen (64 %). Vermutlich schlägt hier das Wohlstandsgefälle zwischen Frankreich und Deutschland einerseits und Polen andererseits zu Buche. Wenn es um die eigene wirtschaftliche Zukunft oder die der Familie geht, zeigen sich die Respondenten in Deutschland relativ zuversichtlich – nur 25 % machen sich Sorgen. Hier besteht allerdings ein deutlicher Unterschied zu Frankreich und Polen, wo 40 % (Polen) oder gar 53 % (Frankreich) eine Verschlechterung erwarten.

Sicherheitspolitik und internationale Beziehungen

In allen drei Ländern ist die Sorge über Bedrohungen durch Cyber-Angriffe und fake news ähnlich hoch. 70–80 % der Befragten halten dies in allen drei Ländern für eine akute Bedrohung [siehe Grafik 5 auf. S. 9]. Auch Nationalismus wird in gleicher Weise als Problem gesehen. Was die Befragten in den verschiedenen Ländern unter Nationalismus als Bedrohung verstehen, ist allerdings nicht erfragt worden. Das könnte der in Russland propagierte "Patriotismus" sein, aber auch (z. B. in Deutschland) Trumps "Make America Great again" oder die nationalistischen Tendenzen in den eigenen Ländern. In jedem Fall ist Nationalismus bei den Respondenten aller drei Länder negativ konnotiert.

Erkennbare Unterschiede gibt es aber im Niveau der Angst vor Krieg. Während 79 % der Befragten in Polen davon ausgehen, dass auch das eigene Land von Kriegen und Konflikten betroffen sein wird, sind es in Frankreich nur 59 % und in Deutschland liegt der Anteil unter 50 %. Auch bei der Konkretisierung der Frage – Spannungen zwischen "dem Westen" und Russland als Auslöser von Kriegen in Europa, ist die Sorge in Polen deutlich größer als in Frankreich und Deutschland.

Allerdings stimmen die Befragten in Polen und Deutschland weitgehend überein, wenn es um die Rolle der internationalen Organisationen geht [siehe Grafik 7 und Grafik 8 auf S. 10]. Die NATO und die EU werden in etwa gleicher Weise als wichtig wahrgenommen (36–44 %), die UN rangieren bei 30–34 %, die Bedeutung der OSZE wird mit 13–17 % deutlich geringer eingestuft. Alle Befragten wünschen sich für die Zukunft eine größere Rolle der UN, NATO, OSZE und EU. Dabei fällt auf, dass die polnischen Befragten deutlich stärker auf die NATO setzen als Deutsche und Franzosen und dass man in Frankreich weniger von der OSZE erwartet als in den anderen Ländern.

Die Organisationen, die im postsowjetischen Raum aktiv sind (die von Russland dominierte Eurasische Wirtschaftsunion und die Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit (OVKS), das von Russland initiierte Sicherheitsbündnis im postsowjetischen Raum), spielen für die Respondenten in Polen, Frankreich und Deutschland keine maßgebliche Rolle. Es fällt aber ins Auge, dass in Polen erwartet wird, dass die OVKS in Zukunft eine größere Bedeutung haben wird. Es mag sein, dass hier Erinnerungen an den Warschauer Pakt mitspielen und die Sorge, dass die russisch bestimmte Militärorganisation zu einer echten Bedrohung heranwachsen wird.

Die Befragten in Frankreich scheinen insgesamt internationale Organisationen weniger hoch zu bewerten und unterscheiden sich insofern von den Befragten in Deutschland und Polen. Das mag auch damit zusammenhängen, dass Frankreich lange Zeit außerhalb der militärischen Integration der NATO stand und über eigene Atomwaffen verfügt.

Betrachtet man die starken Unterschiede in der Bedrohungswahrnehmung, erscheint die Formulierung einer gemeinsamen Sicherheitspolitik schwierig. Immerhin sind sicher alle Seiten für eine Politik zu gewinnen, die auf eine Stärkung der Rolle internationaler Organisationen setzt. Dies kann aber nur der Rahmen für eine Sicherheits- und Militärpolitik sein, die inhaltlich ausformuliert werden muss und bei der die unterschiedlichen Perzeptionen, wer der Gegner sei, eine Rolle spielen werden.

Der Platz an der Sonne und die Bedrohungen von außen

Die Mehrheit der Befragten in den drei Ländern optiert in gleicher Weise für politische Lösungen von Konflikten. In Polen erreichte der Anteil sogar 91 %. Das heißt, praktisch alle sprechen sich für ein diplomatisches und friedliches Vorgehen in Konfliktsituationen aus. Allerdings befürwortet in Frankreich und Polen etwa die Hälfte der Befragten militärische Auslandseinsätze. In Deutschland hält das nur ein Drittel (34 %) für zulässig – eine Zahl, die demonstriert, dass sich die deutsche Gesellschaft nach den historischen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus schwer mit einer internationalen Rolle tut, die auch den Einsatz von Gewalt erfordert. Hier bestehen erkennbare Unterschiede zu Polen und Frankreich.

Vergleichsweise einig ist man sich auch darin, dass Außenpolitik Interessen und Werte vertreten sollte und der eigene Staat international mehr Verantwortung übernehmen sollte [siehe Grafik 9 auf S. 11]. Konkrete Territorialansprüche werden in Deutschland und Frankreich nicht formuliert – die Oder-Neiße-Frage ist in Deutschland offensichtlich kein Thema mehr –, während in Polen immerhin 38 % die Meinung vertreten, dass Nachbarländer Teile des eigenen Territoriums besetzt halten (dies könnte sich gegen Belarus, die Ukraine und Litauen richten, wird in der Umfrage aber nicht spezifiziert).

Die überwiegende Mehrheit in allen drei Ländern befürwortet eine aktive Außenpolitik, die auf Entspannung und diplomatische Konfliktlösung setzt, wobei sich in Polen stets etwas mehr Befragte für Aktivität in der Außenpolitik, für klare Positionierung und eventuell auch militärisches Eingreifen aussprechen [siehe Grafik 10 auf S. 12]. Gerade der Punkt militärischen Eingreifens wurde in Deutschland nur von 33 % unterstützt (Frankreich 43 %, Polen 60 %). Folgerichtig sprach man sich in Polen auch für eine starke Wirtschaft als Basis für ein starkes Militär und die Erhöhung der Militärausgaben aus (68 %). Bei diesem Thema war in Deutschland und Frankreich die Zustimmung mit 43 % und 44 % deutlich niedriger.

Mit der internationalen Position des eigenen Landes ist die polnische Gesellschaft nicht zufrieden. In der Umfrage geht eine Mehrheit der Befragten davon aus, dass Polen nicht den angemessenen Platz in der Welt einnimmt und dass es Mächte gibt, die seine internationale Rolle aktiv behindern. Doch eine erdrückende Mehrheit nimmt auch wahr, dass Polen auf internationale Kooperation angewiesen ist. Polen sehen sich als Europäer. Selbst wenn Konflikte mit der EU bestehen, wünschen sie sich eine engere Kooperation. Auch wenn es Ansätze zu einer revisionistischen Außenpolitik gibt, überwiegt doch die Vorstellung, dass Polen die Einbindung in den "Westen" braucht [siehe Grafik 11 auf S. 13]. Obwohl 66 % der Befragten in Polen das eigene Land in Konflikt mit der EU sehen, definieren sie sich noch stärker als Deutsche und Franzosen über Europa und setzen auch auf einen Ausbau der EU. Die Franzosen sind in diesen Punkten etwas weniger enthusiastisch, doch mit den Deutschen haben die Polen hier Berührungspunkte. Im Übrigen sprechen sich in allen drei Ländern mehr als die Hälfte der Respondenten für eine bessere Zusammenarbeit mit Russland aus [siehe Grafik 12 auf S. 13].

Allerdings ist man sich in Polen – und hier bestehen wieder Unterschiede zu den westlichen Nachbarländern – sicher, dass Russland die eigentliche Bedrohung darstellt und dass die Interessen der EU im Gegensatz zu denen Russlands stehen. Für 77 % der Befragten in Polen geht die Hauptgefahr von Russland aus. Die Einstellung zu Russland speist sich nicht nur aus dem aktuellen Verhalten der russischen Führung, sie wird wohl auch durch die Erinnerung an die langjährige Unterdrückung durch dieses Land genährt. Das Feindbild USA, das in Deutschland 50 % der Befragten pflegen (Russland gilt demgegenüber nur 33 % als Feind), wird in Polen nur von 34 % geteilt. Diese vergleichsweise hohen Werte (auch in Frankreich 44 %) haben wohl vor allem mit der konfusen Politik des derzeitigen US-Präsidenten zu tun, die in Deutschland und Frankreich den latenten Antiamerikanismus verstärkt.

Insgesamt ergibt sich also ein widersprüchliches Bild. Zweifellos sind Aspekte zu erkennen, an die bei der Entwicklung einer europäischen Sicherheitspolitik angeknüpft werden können, etwa der Wunsch nach politischer Konfliktlösung und nach einer stärkeren Rolle der internationalen Organisationen. Doch in anderen Fragen, z. B. dem Einsatz militärischer Gewalt und dem Umgang mit Russland, sind die Gegensätze offensichtlich und es wird intensiver Gespräche bedürfen, um hier plausible Kompromisse zu erreichen. Ein Problem ist sicher ein antirussischer Affekt in Polen, eine Nachwirkung von Jahrhunderten russischer Herrschaft, ein zweites die "postheroische" Haltung der deutschen Gesellschaft, die nach den Erfahrungen der Jahre 1933–1945 den Einsatz militärischer Gewalt instinktiv ablehnt.

Der Russland-Ukraine-Konflikt, das Verhältnis zu Russland und die Sanktionen

Bei der Beurteilung der Lage in der Ukraine stimmen die Befragten in Polen, Frankreich und Deutschland weitgehend überein. Die Hauptschuld wird Russland und den Separatisten zugewiesen. Kleine Unterschiede gibt es bei der Verantwortung der EU und der USA, die die polnischen Respondenten geringer bemessen als die in Deutschland und Frankreich. Das bestätigt die Ergebnisse der Feindbildumfrage, ist aber im Falle der Ukraine nicht von Belang, da es hier in allen Ländern um Minderheitenmeinungen geht [siehe Grafik 13 auf S. 14]. Auch die Schuld bei der Annexion der Krim wird in allen drei Ländern in gleicher Weise Russland zugewiesen [siehe Grafik 14 auf S. 14]. Hier gibt es in der öffentlichen Meinung die Basis für eine gemeinsame Politik.

Da die Lösung des Russland-Ukraine-Konflikts aber die Zusammenarbeit mit der russischen Regierung erfordert, ist es von Bedeutung, wie das Verhältnis zu Russland wahrgenommen wird [siehe Grafik 15 auf S. 15]. Auch in diesem Kontext zeigt sich wieder, dass in Polen Russland stärker als feindlich wahrgenommen wird als in den anderen Ländern. Doch die Unterschiede halten sich in Grenzen und bei einer Reihe von Fragen liegen die Anteile in Deutschland nahe an denen der polnischen Umfrage, z. B. wenn es um den mangelnden russischen Willen zur Zusammenarbeit und die innenpolitische Entwicklung Russlands als Konfliktursachen geht. Die französische Umfrage liegt in den meisten Punkten unter den polnischen und deutschen Werten. Das könnte darauf hindeuten, dass das Interesse an Osteuropapolitik in Frankreich insgesamt weniger stark ausgeprägt ist als in den stärker betroffenen Ländern Deutschland und Polen.

Einigkeit herrscht in allen Ländern, dass eine Lösung für die Ukraine-Krise gesucht werden sollte, bei der alle Konfliktparteien einbezogen werden. Es besteht auch eine vergleichbar hohe Tendenz in allen drei Ländern, dass man neutral bleiben und sich nicht in den Konflikt hineinziehen lassen sollte. Allerdings stimmen die polnischen Befragten bei allen anderen Optionen deutlich häufiger für Lösungen, die der russischen Regierungslinie widersprechen, wie die Ausweitung der Sanktionen oder die Aufnahme der Ukraine in die EU und die NATO [siehe Grafik 16 auf S. 15]. Dabei werden Sanktionen grundsätzlich in Deutschland und Polen eher als Lösung akzeptiert als in Frankreich [siehe Grafik 17 auf S. 16], wo die Bereitschaft, kraftvoll auf Russland einzuwirken, nur von 38 % der Befragten getragen wird (Polen 61 %, Deutschland 52 %).

Deutlich wird, dass in allen drei Ländern Russland als das eigentliche Problem gesehen wird, dass in Polen aber die Bereitschaft, auf Russland Druck auszuüben, am größten ist.

Fazit

Die Ergebnisse des Security Radar 2019 machen deutlich, dass es nicht einfach sein wird, in der EU eine gemeinsame Sicherheitskonzeption zu entwickeln. Es existiert eine Reihe von übereinstimmenden Einschätzungen, insbesondere was die Bedrohung durch Krieg und Terrorismus und das Ziel politischer statt gewaltsamer Lösungen angeht. An solchen Gemeinsamkeiten lässt sich ansetzen. Es gibt aber deutliche Unterschiede in der Einschätzung Russlands oder in der Einstellung zu militärischen Einsätzen. Hier sticht insbesondere die "postheroische" Einstellung in Deutschland heraus, die es der Bundesregierung erschwert, eine Führung in der europäischen Sicherheitspolitik zu übernehmen. Ein weiteres Hindernis ist die Einstellung zu Russland, die in Deutschland deutlich positiver ist als in Polen. Hier schlagen sich die historischen Erfahrungen nieder, die in Deutschland zu einer Demilitarisierung des politischen Denkens geführt haben und in Polen zur Bereitschaft, die nationale Unabhängigkeit entschieden zu verteidigen. In Frankreich wiederum ist die Sensibilität für die Lage in Osteuropa geringer ausgeprägt, für die französische Politik ist die Entwicklung in Nordafrika von größerer Bedeutung als die Situation im postsowjetischen Raum. Eine Neuauflage des "Weimarer Dreiecks", eine außen- und sicherheitspolitische Kooperation von Polen, Frankreich und Deutschland, bedarf angesichts der unterschiedlichen Haltungen in den Gesellschaften intensiver Gespräche. Die deutsche Gesellschaft muss überdenken, welche Rolle sie in einem europäischen Sicherheitssystem übernehmen will, und in Polen wird es notwendig sein, sich darüber zu verständigen, welche Sicherheitsgarantien von der russischen Seite eingefordert werden sollten.

Lesetipp

Friedrich-Ebert Stiftung. FES Regional Office for Cooperation and Peace in Europe: Wake-up Call for Europe. Security Radar 2019, Wien: FES 2019, 72 S. [Krumm, Reinhard; Dienes, Alexandra; Weiß, Simon; Starystach, Sebastian; Schröder, Hans-Henning; Bär, Stefan]. Externer Link: https://www.fes-vienna.org/e/new-publication-security-radar-2019-wake-up-call-for-europe/, 4. April 2019.

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Fussnoten

Fußnoten

  1. Eine Randbemerkung: Dass zwischen Migration und dem Ansteigen der Weltbevölkerung möglicherweise ein Zusammenhang besteht, registriert die Mehrheitsmeinung der Respondenten nicht. Solche Unstimmigkeiten sind bei Umfragen nicht selten – die Vorstellung, dass ein Individuum oder gar ein Kollektiv ein geschlossenes, in sich stimmiges Weltbild hat, ist eher unrealistisch. Wir leben mit Widersprüchen.

Hans-Henning Schröder lehrte am Osteuropa-Institut der FU Berlin als apl. Professor "Regionale Politikanalyse mit Schwerpunkt Osteuropa". Er war bis April 2017 Herausgeber der Russland-Analysen, die er 2003 gemeinsam mit Prof. Dr. Heiko Pleines gegründet hat.