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Die Kiewer Rus: Geteilte Erinnerung in der Ukraine und in Russland

Prof. Dr. Andreas Kappeler

/ 7 Minuten zu lesen

Das mittelalterliche Großreich gilt als Vorläuferstaat Russlands und der Ukraine. Es wurde zu einem Gründungsmythos und wichtigen Bezugspunkt des kulturellen Gedächtnisses beider Staaten.

Im Jahr 2018 wurde in Nowosibirsk eine sechs Meter hohe Statue von Wladimir den Großen errichtet. Wladimir gilt sowohl in Russland wie auch der Ukraine als Gründungsvater und ist Gegenstand geschichtspolitischer Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern. (© picture-alliance, picture alliance/dpa | Kirill Kukhmar)

Historischer Überblick

Die alte Rus, die seit dem 19. Jahrhundert als Kiewer Rus bezeichnet wurde, war einer der großen Herrschaftsverbände des europäischen Hochmittelalters. Sie wurde im 9. Jahrhundert von normannischen Kriegern aufgebaut, die ihr ihren Namen Rus gaben und die Dynastie der Rurikiden begründeten. Die Rurikiden herrschten später im Moskauer Reich bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Der Name Rus wurde auf die ostslawischen Stämme übertragen, die die germanische Führungsschicht bald assimilierten. Vom Namen Rus leiten sich die Ethnonyme der Russen und Weißrussen ab, außerdem die Namen Rusynen, Ruthenen und Kleinrussen, mit denen die Ukrainer mehrere Jahrhunderte lang bezeichnet wurden.

Im Jahr 988 nahm der damalige Fürst der Kiewer Rus Wladimir (ukrainisch Wolodymyr) das Christentum an und heiratete die Schwester des oströmischen Kaisers. Die neu begründete orthodoxe Kirchenprovinz, die Metropolie "von Kiew und der ganzen Rus", unterstand dem Patriarchen von Konstantinopel. Im 11. Jahrhundert, unter der Herrschaft von Fürst Jaroslaw, blühte die orthodox-slawische Kultur in der Kiewer Rus auf. Sie hatte ihre Zentren in den Klöstern, allen voran dem Kiewer Höhlenkloster. Davon zeugen noch heute prachtvolle Kirchen mit ihren Fresken und Ikonen, wie zum Beispiel die Sophienkathedralen in Kiew und Nowgorod.

Die Kiewer Rus lag am Handelsweg zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer. Ihre Städte, vor allem Kiew und Nowgorod, trieben Handel mit dem Byzantinischen Reich, mit Nord- und Mitteleuropa und – über die Wolgabulgaren – mit dem Orient. Die Rurikiden waren durch Heiratsverbindungen mit den Dynastien in Frankreich, Deutschland, Ungarn, Polen, Skandinavien und Byzanz verbunden und gehörten damit zur europäischen "Familie der Könige".

Die Kiewer Rus war eine lockere Föderation von Teilfürstentümern, die von Rurikiden mit dem Kiewer Fürsten an der Spitze regiert wurde. Innerdynastische Auseinandersetzungen und Einfälle der reiternomadischen Polowzer (Kumanen) schwächten ihren Zusammenhalt und führten zur Bildung neuer Machtzentren an den Randgebieten: der Fürstentümer Wladimir-Susdal im Nordosten, Galizien-Wolhynien im Südwesten, Polozk im Westen und der Stadtrepublik Nowgorod im Norden. In den Jahren 1237 bis 1240 eroberten die Mongolen (Tataren) die ganze Rus und zerstörten die meisten ihrer Städte. Sie errichteten eine dauerhafte, zwei Jahrhunderte währende Herrschaft über die nördlichen Fürstentümer, an deren Spitze im 14. Jahrhundert Moskau trat. Zur selben Zeit fielen der Westen und Süden der Rus an das Großfürstentum Litauen und das Königreich Polen. Damit trennten sich die Wege der Russen im Norden und Osten auf der einen und der Ukrainer und Weißrussen auf der anderen Seite für drei bzw. viereinhalb Jahrhunderte.

Der Streit der Historiker um das Erbe der Kiewer Rus

Die Kiewer Rus wurde zu einem Gründungsmythos des russischen (russländischen) und des ukrainischen Staates, ebenso wie der orthodoxen Kirchen Russlands und der Ukraine. Russische und ukrainische Historiker streiten deshalb seit mehr als zwei Jahrhunderten um ihr Erbe. Die russische Meistererzählung, wie sie im 19. Jahrhundert von Nikolaj Karamsin und Wasilij Kljutschewskij formuliert wurde, basiert auf der politischen Kontinuität von der Kiewer Rus seit dem 9./10. Jahrhundert über das Moskauer Zartum des 16. und 17. bis zum russländischen Imperium des 18. und 19. Jahrhunderts. Sie wurde dann verlängert zur Sowjetunion und zur heutigen Russländischen Föderation. Die ukrainische Geschichtsschreibung postuliert dagegen eine Kontinuität von der Kiewer Rus über das Fürstentum Galizien-Wolhynien, die polnisch-litauische Epoche, das Hetmanat der Saporoscher Kosaken im 17. und frühen 18. Jahrhundert über die Ukrainische Volksrepublik der Jahre 1917-1920 bis hin zum heutigen ukrainischen Staat.

Während von russischer Seite die Kontinuität der Dynastie und der Kirchenorganisation betont wird, stützen sich die ukrainischen Historiker auf die Kontinuität des Raumes mit seinem Zentrum Kiew und seiner ostslawischen Bevölkerung. Die russische Seite versteht die Ukraine und die Ukrainer als Teile der eigenen Nationalgeschichte. Die ukrainische Historiographie erhebt den Anspruch einer eigenen, von Russland getrennten Geschichte. Ihren klassischen Ausdruck fand dieser Anspruch im Werk von Mychajlo Hruschewskyj, der das Erbe der Kiewer Rus exklusiv für die Ukraine in Anspruch nahm. Die Geschichte Russlands und der (Groß-)Russen ließ er erst später im nordöstlichen Fürstentum Wladimir-Susdal beginnen, dessen Erbe im 14. Jahrhundert der Moskauer Großfürst antrat. Die Historiker im westlichen Ausland übernahmen weitgehend das russische Narrativ, doch zeigt sich in den letzten Jahren eine differenziertere Sichtweise.

Der Streit um das Erbe der Kiewer Rus ist wissenschaftlich unergiebig. Man projiziert nationale Kategorien der heutigen Zeit ins Mittelalter, obwohl man für die damalige Zeit noch nicht von Russen und Ukrainern sprechen kann. In der Sowjetunion prägte man deshalb den Begriff "der gemeinsamen Wiege" der Russen und Ukrainer, wobei den Russen allerdings immer die Rolle des "älteren Bruders" zugeschrieben wurde und der "jüngere ukrainische Bruder" nach dem Ende der Kiewer Rus im 13. Jahrhundert danach strebte, sich mit Russland "wiederzuvereinigen". Der Erbstreit ist nach dem Ende der Sowjetunion erneut belebt worden. Für beide neuen Staaten, Russland wie der Ukraine, ist das "Goldene Zeitalter" der Kiewer Rus ein wichtiger Bezugspunkt des kulturellen Gedächtnisses und des Nationalbewusstseins.

Staatssymbole

Dieser hohe Stellenwert zeigt sich in der Staatssymbolik, die angesichts der mangelnden staatlichen Kontinuität für die Ukraine eine besondere Bedeutung hat. So bezog sich die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine vom 24. August 1991 auf ihre "tausendjährige Staatlichkeit" (seit der Kiewer Rus). Die Währung der Ukraine, die Hrywnja, hat ihren Namen von der Geldeinheit der Kiewer Rus, die 1- und 2-Hrywnja-Noten zieren Porträts der Kiewer Fürsten Wolodymyr (978/80 bis 1015) und Jaroslaw (1019 bis 1054). Der Dreizack auf dem ukrainischen Staatswappen findet sich schon auf Münzen des 11. Jahrhunderts. Die Kirchen und Klöster in Kiew und anderen ukrainischen Städten sind wichtige Erinnerungsorte. Sie sind heute Streitobjekte zwischen den größten orthodoxen Gemeinschaften – der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, die dem Moskauer Patriarchat untersteht, und der 2018 entstandenen Orthodoxen Kirche der Ukraine, die dem Patriarchen von Konstantinopel unterstellt ist.

Obwohl in Russland keine Zweifel daran bestehen, dass der heutige Staat seine Wurzeln in der Kiewer Rus hat, haben die russische Währung Rubel und das heutige Staatswappen des Doppeladlers ihren Ursprung erst im Großfürstentum Moskau des 16. Jahrhunderts. Umfragen bestätigen, dass die Kiewer Rus als Bezugspunkt in der Ukraine wichtiger ist als in Russland. Während in der Ukraine die Fürsten der Kiewer Rus Wolodmyr und Jaroslaw zu den wichtigsten historischen Persönlichkeiten gezählt werden, taucht in russischen Umfragen unter der Bevölkerung lediglich der später heiliggesprochene Fürst Alexander Newskij auf. Dieser wehrte im 13. Jahrhundert erfolgreich die Angriffe Schwedens und des deutschen Ritterordens ab. Nach dem Verteidiger Russlands gegen westliche Invasoren wurde während des Zweiten Weltkriegs in der Sowjetunion und im Jahr 2010 erneut im heutigen Russland ein hoher Orden benannt. In der Ukraine wird dagegen das Andenken an Danylo, den bedeutendsten galizisch-wolhynischen Fürsten, hochgehalten. Er war im 13. Jahrhundert von einem päpstlichen Legaten zum rex Russiae (König Russlands) gekrönt worden und dient als Symbol der Westorientierung der Ukraine.

Denkmäler und Jubiläumsfeiern für Fürst Wladimir/Wolodymyr

Im Zuge der Spannungen zwischen Russland und der Ukraine wurde die Kiewer Rus in den letzten Jahren vermehrt zu einem Thema geschichtspolitischer und erinnerungspolitischer Auseinandersetzungen. Im Vordergrund steht Wladimir/Wolodymyr der Heilige oder Große. Schon im Jahr 1853 errichtete das zarische Russland ein 20 Meter hohes Denkmal über dem Ufer des Dnjepr in Kiew, wo die Taufe der Rus und damit der Beginn ihrer Christianisierung wahrscheinlich stattgefunden hatte. Der Fürst hält in der einen Hand ein Kreuz, in der anderen eine Krone. Im Jahr 2016, als der unerklärte russisch-ukrainische Krieg schon zwei Jahre andauerte, wurde im Zentrum Moskaus nahe der Kremlmauer ein 16 Meter hohes Denkmal für Wladimir errichtet. Der Fürst hält in der einen Hand das Kreuz, in der anderen aber nicht die Krone, sondern ein Schwert. Das Denkmal wurde am 3. November, dem russischen Nationalfeiertag, eingeweiht. Dabei erklärte Präsident Wladimir Putin, dass Fürst Wladimir den Anfang für eine geeinte russische Nation gelegt hätte und den Weg hin zu einem starken zentralisierten russischen Staat geöffnet habe. Er ließ dieses Denkmal in Moskau errichten, obwohl die Stadt erst im 12. Jahrhundert begründet wurde – sich Wladimir also nie hier aufhalten konnte. Außerdem bezeichnete er Fürst Wladimir als den Schöpfer der russischen Nation und des russischen Staates. Damit forderte er die Ukraine direkt heraus, die ihrerseits Wladimir als Gründungsvater verehrt.

Der Streit der Erinnerungen entzündete sich auch an Jubiläen. Als im Sommer 2013 in Kiew das 1025. Jubiläum der Taufe der Rus gefeiert wurde, beschwor Präsident Putin in Anwesenheit des Moskauer Patriarchen Kirill und des (russlandfreundlichen) ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowytsch die spirituelle und historische Einheit der Russen und Ukrainer. In seiner Rede, die er nach der Annexion der Krim am 18. März 2014 hielt, betonte er die Herkunft der Russen und Ukrainer von der alten Rus. Außerdem fügte er hinzu, dass sie deshalb nicht nur Nachbarn, sondern ein Volk seien und nicht ohne den anderen leben könnten.

Zum im Jahr 2016 anstehenden tausendjährigen Jubiläum von Wladimirs Tod fanden in Moskau und Kiew getrennte Feiern statt. Putin wiederholte die Bedeutung Wladimirs als Schöpfer des russischen Staates, während der ukrainische Präsident Petro Poroschenko erklärte, dass Fürst Wolodymyr vor 1.000 Jahren die Grundlagen der freien und unabhängigen Ukraine gelegt und deren europäische Ausrichtung begründet habe. Die Erklärungen der beiden Präsidenten bestätigten die Bedeutung, die der Kiewer Rus und besonders Fürst Wladimir/Wolodymyr nicht nur für Historiker, sondern auch für Politik und Öffentlichkeit heute beigemessen wird. Die geteilte Erinnerung an die Kiewer Rus wurde und wird geschichtspolitisch instrumentalisiert und als Waffe im russisch-ukrainischen Krieg eingesetzt.

Literaturhinweis:

Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 2017.

ist emiritierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkt sind u.a. das Russland der Neuzeit und die Geschichte der Ukraine.