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Analyse: Geopolitik, Macht und kirchliche Identität: Der Konflikt um die orthodoxe Kirche in der Ukraine | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Geopolitik, Macht und kirchliche Identität: Der Konflikt um die orthodoxe Kirche in der Ukraine

Nadezhda Beljakova Regina Elsner

/ 10 Minuten zu lesen

Die Abspaltung der ukrainischen Kirche vom Moskauer Patriarchat wird seit Jahren diskutiert. Mit der Gründung einer neuen orthodoxen Kirche ergibt sich jedoch nicht nur die Chance, die religiöse Vielfalt in der Ukraine zu versöhnen. Auch das Verhältnis zu Russland wird auf eine erneute Probe gestellt.

Petro Poroschenko, Präsident der Ukraine zusammen mit Metropolit Epiphanius, dem frisch gewählten Oberhaupt der neu gegründeten orthodoxen Nationalkirche am 15. Dezember 2018 in Kiew. (© picture alliance/ZUMA Press)

Zusammenfassung

Am 6. Januar 2019 ist die neue Orthodoxe Kirche der Ukraine mit dem sogenannten Autokephalie-Tomos anerkannt worden. Damit sollten die anhaltenden Diskussionen um die Unabhängigkeit der orthodoxen Kirche in der Ukraine von Moskau beendet werden. Politische Verstrickungen und kirchliche Machtkämpfe führen jedoch dazu, dass die kirchliche Lage in der Ukraine noch viele Jahre konfliktreich bleiben wird.

Historische Vielfalt als Chance

Die Ukraine ist historisch ein religiös vielfältiges Gebiet. Die Grenzen des Landes und seine nationale Zugehörigkeit wechselten mehrfach, so dass religiöses Bekenntnis oft mit einer bestimmten ethnischen Identität verknüpft ist. Der Islam hat durch die Tataren auf der Halbinsel Krim, das Judentum im Westen des Landes tiefe Wurzeln auf dem Gebiet der heutigen Ukraine. Das Christentum war hier historisch mit verschiedenen Traditionen verbunden und unterlag dem Einfluss mehrerer Machtzentren. 988 kam das Christentum in das Fürstentum der Kiewer Rus' und andere slawische Länder Osteuropas und wurde als Orthodoxe Kirche zur dominierenden Religionsgemeinschaft der Region. Im 17. Jahrhundert schlossen sich einige orthodoxe Bistümer im westlichen Gebiet der römisch-katholischen Kirche an. Als Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche (UGKK), die sich als Bewahrerin des Erbes der ukrainischen Kirche versteht, ist dies heute eine bedeutende Konfession besonders im Westen der Ukraine. Schließlich sind auch lutherische und zahlreiche freikirchliche Gemeinschaften im Land vertreten.

Die in Gemeinschaft mit dem Moskauer Patriarchat stehende Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) war bisher die einzige kanonisch anerkannte orthodoxe Kirche der Ukraine. Sie genießt laut den Statuten der ROK den Status einer "weitreichenden Autonomie", das heißt sie ist in ihrer Verwaltung, Struktur und Personalentscheidungen vom Moskauer Patriarchat unabhängig. In Zahlen ist die UOK die stärkste Konfession in der Ukraine, ca. 12.000 Gemeinden zählen zu ihr. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats (UOK-KP), die sich in den 1990er Jahren vom Moskauer Patriarchat abspaltete und bis 2018 von keiner Kirche anerkannt war, hat ca. 5000 Gemeinden. Da es keine sicheren Mitgliederzahlen gibt, schwanken die entsprechenden offiziellen Angaben. Aktuelle Umfragen sprechen von einer größeren Zahl von Gläubigen, die sich mit dem Kiewer Patriarchat identifizieren, und einer zurückgehenden Zahl von Anhängern der UOK. Allerdings bezeichnet sich auch eine bedeutende Zahl der Bevölkerung als "einfach orthodox". In der Tat muss man davon ausgehen, dass viele Kirchgänger die Zugehörigkeit ihrer Kirchgemeinde zu der einen oder anderen kirchlichen Struktur nicht als entscheidend ansehen, da es auch liturgisch keine Unterschiede gibt.

Die religiöse Vielfalt ist für die Ukraine eine gesellschaftliche Chance, denn sie hat bisher – trotz entsprechender Versuche – die Instrumentalisierung einer Religion als Staatsreligion verhindert. Während die Führung der ROK gerade in dem Konflikt um die Ukraine ihre politische Verstrickung offenbart, konnten alle ukrainischen Glaubensgemeinschaften bisher unabhängig zu politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Land Stellung nehmen. Die Leitung der UOK erhielt auch durch ihre Zugehörigkeit zum Moskauer Patriarchat einen gewissen Freiraum im Dialog mit der ukrainischen politischen Führung. Der Konflikt mit Russland seit 2013/14 hat diese Unabhängigkeit der Kirchen allerdings in Frage gestellt. Eine der entscheidenden Herausforderungen des aktuellen Streits und der Etablierung der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) ist es darum, die bestehende religiöse Vielfalt zu schützen.

Eskalation 2018

Im Jahr 2018 haben sich die Ereignisse um die ukrainische kirchliche Unabhängigkeit – die Autokephalie – überstürzt. Im ersten Halbjahr hatte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko gemeinsam mit dem Parlament den Patriarchen von Konstantinopel, Bartholomäus I, um die Gewährung der Autokephalie für die ukrainische Orthodoxie gebeten. Dies war eine deutliche Geste gegen Moskau im Sinne der weiteren Ablösung von jeglichen russischen Einflüssen. Nach dem bisher üblichen Verfahren wäre das Moskauer Patriarchat als Mutterkirche für die Frage der kirchlichen Unabhängigkeit zuständig.

Allerdings gibt es in der Weltorthodoxie kein anerkanntes einheitliches Verfahren zur Verleihung der Autokephalie. Diesen Interpretationsspielraum nutzte der ökumenische Patriarch Bartholomäus, indem er nach langer Anerkennung der Moskauer Zuständigkeit im Sommer 2018 seine historische Rolle als Ehrenvorsitzender der orthodoxen Kirchen einsetzte, um sich der ukrainischen Frage anzunehmen. Für das Moskauer Patriarchat, das sich als größte orthodoxe Kirche seit vielen Jahren in einem Machtkampf mit Konstantinopel befindet, ist diese Einmischung eine grobe Verletzung der Grenzen seiner Zuständigkeit. Auf die Entsendung von zwei Vertretern des Patriarchats von Konstantinopel in die Ukraine im September 2018 und die Anerkennung der bisher als Schismatiker geltenden Bischöfe und Gläubigen als Rechtgläubige im Oktober 2018 reagierte das Moskauer Patriarchat darum mit einem einseitigen Abbruch der Kirchengemeinschaft. Die Stellungnahmen des Synods des Moskauer Patriarchats vom 15. Oktober 2018 und der UOK vom 13. November 2018 werfen Konstantinopel vor, eine Vertiefung der kirchlichen und gesellschaftlichen Spannung in der Ukraine zu betreiben, und unterstreichen, dass die bisher einzige anerkannte Kirche in der Ukraine keine Autokephalie gefordert hätte.

Am 15. Dezember 2018 wurde in der Sophienkathedrale in Kiew ein Konzil durchgeführt, welches als "Vereinigungs-Konzil" die drei orthodoxen Kirchen der Ukraine vereinen und eine neue Kirche begründen sollte. Im Präsidium des Konzils saßen der ukrainische Präsident, ein Vertreter des Ökumenischen Patriarchats und Vertreter der ukrainischen Kirchen. Allerdings war die UOK nur durch zwei Bischöfe (von insgesamt 90 Bischöfen in der Ukraine) vertreten, so dass nicht von einer tatsächlichen Vereinigung gesprochen werden kann. Die neu gegründete Orthodoxe Kirche der Ukraine wählte ihren Vorsitzenden, Metropolit Epiphanius; dieser hat am 6. Januar 2019 in Istanbul den Tomos über die Autokephalie erhalten. Die OKU ist damit offiziell eine der 15 anerkannten unabhängigen orthodoxen Kirchen in der Welt. Die ROK und die UOK weigern sich, sie als solche anzuerkennen. Ob sich der Konflikt in den kommenden Monaten verschärfen und eine tatsächliche Kirchenspaltung entstehen wird, hängt maßgeblich von der Anerkennung oder Ablehnung der neuen Kirche durch die anderen orthodoxen Kirchen ab. Dieser Prozess kann jedoch mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte dauern.

Kein neuer Konflikt

Bereits im 16. Jahrhundert wurde die orthodoxe Kirche auf dem Gebiet der Ukraine für verschiedene konfessionelle Konstruktionen genutzt, die Fragmentierung ihrer Geschichte erlaubt es kirchlichen Ideologen bis heute, bestimmte historische Momente als Argumente für den nationalen oder kanonischen Charakter ihrer Kirche einzusetzen. In der religiösen Geschichte der Ukraine waren nicht nur der Einfluss (und die Konflikte) Roms und Konstantinopels prägend, sondern auch das Entstehen eines dritten Zentrums mit Machtanspruch: Moskau. Die Grenzkonflikte zwischen diesen drei religiösen Machtzentren und die wechselnde, erzwungene oder selbst gewählte Zugehörigkeit der Menschen zu der einen oder anderen Kirche waren entscheidend für das religiöse Selbstverständnis auf dem Gebiet der Ukraine.

Die Frage der Unabhängigkeit einer orthodoxen Kirche in der Ukraine stand bereits auf der Agenda des Landeskonzils der Russischen Orthodoxen Kirche 1917/18. Anschließend gab es Versuche von ukrainischen Nationalisten, eigenständig während des Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs die Autokephalie auszurufen. Schließlich erwachte der Wunsch nach kirchlicher Eigenständigkeit wieder am Beginn der 1990er Jahre mit der staatlichen Unabhängigkeit der Ukraine.

Der Konflikt zwischen dem damaligen Metropoliten Filaret (Denisenko) und der Moskauer Kirchenleitung in den 1990er Jahren führte zur Abspaltung der sogenannten Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats. Keine andere Kirche erkannte diese an, Millionen Gläubige waren seitdem von der Kirchengemeinschaft ausgeschlossen, obwohl es keinen Dissens in der Glaubenslehre gab. Und dennoch, selbst 25 Jahre nach diesem Konflikt haben weder die Kirchenrechtler noch die kirchlichen Diplomaten der russischen Kirche Wege gefunden, die ukrainische Frage umfassend zu diskutieren und einen Konsens zur Zukunft der Kirche in der Ukraine zu erreichen. Dabei wäre es durchaus denkbar gewesen, mit Zustimmung Moskaus ein Modell zu entwickeln, welches der Ukraine eine autokephale Kirche gegeben und eine eigene Strategie zur Gestaltung der Orthodoxie in der Ukraine zugelassen hätte.

Die Tatenlosigkeit Moskaus stand im Kontrast zur Entwicklung in der Ukraine selbst. Die Orthodoxe Kirche in der Ukraine war gespalten, Skandale und Streitigkeiten schwächten ihre Glaubwürdigkeit als soziale Institution, Familien zerbrachen aufgrund der Konflikte zwischen den gewählten Kirchen. Die Nichtanerkennung von Taufen hat nicht nur zu unmenschlichen Situationen in Kirchgemeinden geführt, sondern auch das kirchliche Bewusstsein der Gläubigen nachhaltig untergraben. Anfeindungen prägten die Beziehung zu "den Anderen" und wurden durch die kirchliche Presse und Leitung angeheizt, so dass sie auch das gesellschaftliche Miteinander negativ beeinflussten.

Viele Gläubige in der Ukraine hatten dabei keine klare Meinung für oder gegen die Autokephalie. Für sie ist vielmehr entscheidend, wie sich ihre konkrete Gemeinde und der Ortspriester verhalten. Allerdings haben die "Revolution der Würde" 2013/14, der seit 2014 anhaltende Krieg in der Ostukraine sowie die Annexion der Halbinsel Krim nachhaltig das ukrainische Selbstbewusstsein der Mehrheit der Bevölkerung gestärkt. Während sich die Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer vorher konfliktfrei mit der UOK identifizieren konnten, ist die Zugehörigkeit zu einer Kirche, die mit Moskau assoziiert wird, eine zunehmende Herausforderung für die Gläubigen geworden. Das Moskauer Patriarchat, aber auch die UOK ignorieren allerdings dieses ukrainische Selbstbewusstsein unter den Gläubigen konsequent und verlieren damit ihre Glaubwürdigkeit.

Entgrenzung von Politik und Kirche?

Schließlich ist auch für die ukrainische Politik die Frage nach einer einigen und unabhängigen ukrainischen Kirche nicht neu. Die Kirchenfrage erscheint als Möglichkeit, die ukrainische Gesellschaft in all ihren verschiedenen Erinnerungs- und nationalen Konzepten zu vereinen. Die scheinbare Spaltung zwischen Ost und West sowie zwischen einer "russischen" und einer "ukrainischen" Kirche werden als Gefahr für die nationale Einheit und Faktor potentieller Destabilisierung wahrgenommen. Auch die nationalen Sicherheitsstrategien charakterisieren die kirchliche Spaltung als Gefahr für die Existenz des Landes; entsprechend wird die Überwindung dieser Situation als wichtige Aufgabe der staatlichen Macht beschrieben. Alle Präsidenten der Ukraine nach 1991 sprachen darum von der Notwendigkeit einer Vereinigung der gespaltenen Kirche, und von verschiedenen Kommissionen wurden verschiedene Modelle besprochen.

Allerdings ist all diesen Bestrebungen gemeinsam, die Kirche lediglich als Mittel zur Lösung politischer Probleme und Erhöhung der eigenen Wählerunterstützung zu instrumentalisieren. Auch das im Dezember 2018 stattgefundene Konzil zeigte überdeutlich, dass die politische Führung der Ukraine der Kirche den Platz einer integrativen Ideologie zuweist: Als "Kirche ohne Putin (…) ohne Gift aus Moskau (…) ohne Gebet für die russische Armee" (Petro Poroschenko bei der öffentlichen Bekanntgabe des neuen Kirchenoberhaupts in Kiew am 15.12.2018). In diesem Kontext ist auch das am 20.12.2018 erlassene Gesetz zur Umbenennung religiöser Organisationen zu verstehen, das von der UOK eine klare Benennung der Zugehörigkeit zu Moskau fordert. Die Definition der Kirche über politische und nationale Abgrenzungen oder Zugehörigkeiten wird allerdings weder den Gläubigen der UOK, noch den Gläubigen der neuen OKU gerecht. Besonders diese politische Verstrickung und die Ignoranz der ukrainischen Identität der Gläubigen durch Moskau und Kiew verfestigt voraussichtlich für lange Zeit die Existenz von zwei orthodoxen Kirchen im Land, mit der einzigen Änderung, dass nun beide die Anerkennung durch das ökumenische Patriarchat genießen. Da sie sich jedoch gegenseitig nicht anerkennen und nicht ohne Grund der politischen Instrumentalisierung beschuldigen, wird es die Einheit der ukrainischen Gesellschaft kurzfristig eher gefährden als befördern.

So legt die enge Verknüpfung der aktuellen Bestrebungen nach einer unabhängigen ukrainischen Kirche mit der politischen Wahlkampfagenda Petro Poroschenkos der neuen Kirche ein problematisches Erbe in die Wiege. In der Orthodoxie selbst wird das Prinzip "eine Nation – eine nationale autokephale Kirche" zunehmend in Frage gestellt, da es offensichtlich nicht dem Wesen der Kirche entspricht, gleichzeitig jedoch nationalistische Stimmungen schürt. Der Wunsch der ukrainischen Gesellschaft nach Selbstbestimmung und einer mehr als symbolischen Abnabelung vom imperialen Anspruch Russlands ist nachvollziehbar, birgt aber immer auch die Gefahr nationalistischer Extreme. Für die neue Kirche wird es darum eine bleibende Herausforderung sein, sich von jeglicher politischen Instrumentalisierung glaubwürdig zu distanzieren, gerade weil sie im Zuge politischer Abgrenzungsprozesse entstanden ist.

Für die weitere innerukrainische Entwicklung wird entscheidend sein, wie viele Gläubige, Priester und Bischöfe der UOK sich der neuen Kirche anschließen. Die Entstehung von zwei etwa gleich großen kirchlichen Strukturen in einem Land wäre nicht einmalig, bleibt jedoch eine Anomalie im orthodoxen Kirchenverständnis. Neben kirchenrechtlichen und pastoralen Fragen ist gerade im Fall der Ukraine auch das Thema des symbolischen Kapitals zentral. Die legendäre Annahme des orthodoxen Christentums durch Fürst Valdimir im Jahr 988 im Dnjepr ist als "Taufe der Rus'" Gründungsmythos des russischen – orthodoxen – Imperiums. Die Idee der "Russischen Welt", mit der Russlands Präsident Putin den Einfluss Russlands jenseits der eigenen Grenzen legitimiert, basiert auf dem kirchlichen Konzept der "Heiligen Rus'". Die Tatsache, dass mit einer unabhängigen ukrainischen orthodoxen Kirche diese Erzählung nicht mehr so einfach politisch instrumentalisierbar ist, erklärt sicher auch die radikale Reaktion des Moskauer Patriarchats: Die russische Kirche verliert mit dieser Entwicklung eine wichtige Verankerung in der aktuellen gesellschaftspolitischen Landschaft Russlands.

Für die ukrainischen Gläubigen besteht die Chance, die Identität der "Kiewer Rus'" nun selbst neu zu gestalten und sich als eigene Tradition theologisch, kulturell und gesellschaftlich anzueignen. Konstruktive Bestrebungen dafür lassen sich etwa im Umfeld der Offenen Orthodoxen Universität in Kiew beobachten. Die ukrainische Geschichte religiöser Pluralität bietet die Chance, neue Wege der gesellschaftlichen Versöhnung zu finden. In diesem Kontext ist auch eine Verstärkung des kulturellen und sozialen Einflusses der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche möglich, die sich konsequent als authentischste und ungebrochene Trägerin der ukrainischen orthodoxen Tradition positioniert. Mit der Entstehung von drei kirchlichen Strukturen im gleichen Land, die diesen historischen Schlüsselmoment unterschiedlich interpretieren und in Anspruch nehmen, kann neuer Konfliktstoff entstehen.

Lesetipps

Fussnoten

Dr. Nadezhda Beljakova (geb. 1980) ist russische Kirchenhistorikerin. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Religions- und Kirchengeschichte am Institut für Weltgeschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften (Moskau) sowie als Assistenzprofessorin am Lehrstuhl für Theologie der Nationalen Nuklear-Universität MEPhI.

Dr. Regina Elsner (geb. 1979) ist katholische Theologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin.