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Analyse: Wirtschaftsexpertise in Russland | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Wirtschaftsexpertise in Russland

Vera Rogova Frankfurt am Main) Vera Rogova (Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

/ 10 Minuten zu lesen

Das "Zentrum für Strategische Studien" (CSR) präsentiert sich als unabhängige Organisation mit Fokus auf Politikberatung und strategische Analysen. Die fehlende Distanz zum russischen System wurde jedoch besonders nach der Präsidentschaftswahl 2018 deutlich.

Maxim Oreschkin (l.) löste Alexej Kudrin nach dessen Rücktritt im September 2018 als neuer Leiter des Zentrums für Strategische Studien (CSR) ab. (© picture alliance/Alexei Nikolsky/TASS/dpa)

Zusammenfassung

ExpertInnen sind eng in die Ausgestaltung von Wirtschaftspolitik in Russland eingebunden und nehmen wichtige beratende Funktionen wahr. Durch ihr spezifisches Fachwissen gelingt es ihnen, inhaltliche Schwerpunkte zu setzen und politische Entscheidungen zu beeinflussen. Wie der Fall des Zentrums für Strategische Studien zeigt, ist ihre Unabhängigkeit dennoch eingeschränkt. Oftmals fungieren sie nicht als unabhängige Akteure, die gesellschaftliche Kontrolle gegenüber der Regierung ausüben, sondern werden mobilisiert, um Legitimation für politische Entscheidungen zu schaffen. Der Einfluss von WirtschaftsexpertInnen bleibt somit zumeist in einem engen, sorgfältig kontrollierten oder sogar vom russischen Regime selbst konstruierten Raum.

Einleitung

In Hunderten von Universitäten, Instituten und Think Tanks in ganz Russland arbeiten WissenschaftlerInnen und ExpertInnen an ökonomischen Fragestellungen. Diese Expertise fließt ein in Lehre, wissenschaftliche Publikationen und Politikberatung und beeinflusst somit politische Entscheidungen und die öffentliche Meinung. Auf den ersten Blick gibt es in Bezug auf die Rolle der Wirtschaftswissenschaften kaum Unterschiede zu ihren Pendants etwa in westlichen Ländern.

Und dennoch befinden sich WirtschaftsexpertInnen in Russland in einer komplizierten Lage. Einerseits geht mit dem autoritären politischen Regime auch eine Einschränkung der Zivilgesellschaft und der Meinungsfreiheit einher. So erreicht Russland laut Bertelsmann Transformationsindex (BTI) seit 2008 lediglich 4 aus 10 Punkten im Bereich Meinungsfreiheit, da verschiedene Gesetze zur Einschränkung von NGOs und politischer Druck auf die Medien die Möglichkeiten einer pluralistischen Meinungsäußerung deutlich reduzieren.

Andererseits braucht die russische Regierung ökonomische Expertise, da wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eine wichtige Legitimitätsquelle des Regimes darstellt. Der in den 2000er unter Putin begründete Gesellschaftsvertrag beruht darauf, dass die russische Regierung in der Lage ist, Stabilität und steigende Lebensstandards zu garantieren – im Gegenzug toleriert ein Großteil der Bevölkerung gewissermaßen die Einschränkung ihrer politischen und bürgerlichen Freiheiten. Somit kann jede Wirtschaftskrise zu politischer Instabilität führen und potenziell sogar das Regime bedrohen. Das zeigte sich zum Beispiel 2005 bei den Demonstrationen gegen die sogenannte Monetarisierung von Sozialleistungen oder bei Protesten in den Monoindustriestädten im Zuge der Wirtschaftskrise von 2009. Wirtschaftspolitische Themen stehen also weit oben auf der politischen Agenda und es ist der russischen Regierung viel daran gelegen, in diesem Bereich Kompetenz und Handlungsfähigkeit zu demonstrieren.

Ökonomische Expertise – Instrumente und Strategien

Trotz Einschränkungen können ExpertInnen gerade im Bereich der Wirtschaftspolitik somit Einfluss auf die russische Regierung nehmen und sich auch explizit kritische Positionen erlauben. Dies nimmt zum Teil auch institutionalisierte Formen an. ExpertInnen arbeiten zum Beispiel innerhalb von Räten beim Präsidenten der Russischen Föderation, die als offizielle Struktur mit beratender Funktion etabliert werden. Mitglieder des 2012 von Wladimir Putin für die Dauer seiner dritten Amtszeit ins Leben gerufenen Wirtschaftsrats beim Präsidenten waren beispielsweise neben Amtsträgern wie Elwira Nabiullina, Arkadij Dworkowitsch und German Gref (mittlerweile Chef der Sberbank) auch WissenschaftlerInnen wie Alexandr Auzan von der Moskauer Staatlichen Universität oder Alexandr Dynkin vom Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen (IMEMO).

Eine weitere Eigenschaft der russischen Wirtschaftspolitik unter Putin ist die Arbeit mit mittel- und langfristigen Strategien, die bestimmte Ziele definieren und Szenarien zu ihrer Erreichung festlegen. An der Ausarbeitung dieser Pläne beteiligen sich üblicherweise einige Hundert bis hin zu über Tausend ExpertInnen, zum Teil auch aus dem Ausland. Anschließend werden sie der russischen Regierung vorgelegt und formell als Regierungsdokumente beschlossen oder fließen zumindest in politische Entscheidungen mit ein.



Zu den bekanntesten zählt zum einen die "Strategie 2010" (ru.: Strategija 2010), die zu Beginn von Putins erster Amtszeit unter der Federführung von German Gref ausgearbeitet und im Juni 2000 von der Regierung angenommen wurde. Es folgten die "Strategie 2020" (ru.: Strategija 2020) vom November 2008 und ihre überarbeitete Fassung vom März 2012. Auf Grundlage des letzteren Dokuments formulierte Putin im Mai 2012 seine ersten elf Mai-Erlässe, die auch die zentralen Ziele im Bereich sozio-ökonomischer Entwicklung bis 2020 definierten. Bereits seit Juni 2014 läuft die Erarbeitung einer "Strategie 2035", die jedoch bis heute nicht abgeschlossen ist. Unterhalb der föderalen Ebene existieren zudem unzählige Strategien mit regionalem oder sektoralem Schwerpunkt. Eine Gemeinsamkeit dieser Dokumente ist indes ihre fehlende Umsetzung. So befand etwa eine Untersuchung der Ergebnisse der "Strategie 2010", eigentlich eines der erfolgreichsten Programme, dass auch ihre Umsetzung zu lediglich 36 Prozent gelungen sei. Diese Erfahrung lässt die russische Bevölkerung und selbst die beteiligten ExpertInnenkreise mit einiger Skepsis auf die Ausarbeitung des jeweils nächsten Programms blicken.

Die Einbindung von ExpertInnen in wirtschaftspolitischen Fragen erfüllt dennoch zwei wichtige Funktionen. Zum einen geht es tatsächlich darum, Maßnahmen zu planen und verfügbare Instrumente richtig einzusetzen. So lässt sich zum Beispiel zeigen, dass liberale WirtschaftsexpertInnen auch unter Putin relative Handlungsfreiheit genossen und aus ihrer Sicht richtige Maßnahmen zum Teil gegen starke politische Widerstände durchsetzen konnten. Die Schaffung eines Stabilisierungsfonds aus überschüssigen Erlösen aus den Energieexporten im Jahr 2004 war beispielsweise politisch höchst umstritten, da diese als Alternative für kurzfristige sozialpolitische Maßnahmen genutzt werden sollten. Vor allem der damalige Minister für wirtschaftliche Entwicklung German Gref und der damalige Finanzminister Alexej Kudrin setzten die Idee eines solchen Fonds jedoch durch, was Russland letztlich half, die Wirtschaftskrise 2009 einigermaßen unbeschadet zu überstehen.

Andererseits dient die Zusammenarbeit mit ExpertInnen der Demonstration partizipativer Elemente, einer breiten Einbeziehung von Fachmeinungen und der Fähigkeit zur strategischen Planung gegenüber der russischen Bevölkerung. Beispielhaft ist in diesem Zusammenhang die Rolle des Zentrums für Strategische Studien (ru.: Zentr strategitscheskich rasrabotok, eng.: Center for Strategic Research, CSR), das zuletzt im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2018 eine wichtige Rolle im wirtschaftspolitischen Diskurs in Russland spielte.

Das Zentrum für Strategische Studien (CSR)

Das Zentrum für Strategische Studien mit Sitz in Moskau entstand 1999 auf Initiative Wladimir Putins, damals noch Premierminister unter Boris Jelzin. Mitbegründer dieser "nichtkommerziellen Organisation" (NKO) waren unter anderem die Nationale Forschungsuniversität "Higher School of Economics" (HSE), das Institut für Wirtschaftsprognosen der Russischen Akademie der Wissenschaften sowie das Zentrum für Wirtschaftsreformen bei der Regierung der Russischen Föderation, also sowohl Forschungseinrichtungen als auch staatliche Strukturen.

Unter der Leitung von German Gref, Dmitri Kosak und Dmitrij Mesenzew arbeitete das CSR bis Mai 2000 eine wirtschaftspolitische Strategie für die ersten Jahre der neuen russischen Regierung aus, bekannt als die "Strategie 2010". Anschließend konzentrierte sich der Think Tank während der 2000er Jahre auf spezifische Politikbereiche und regionale Entwicklung, zum Beispiel unter der Leitung der späteren Zentralbankchefin Elwira Nabiullina 2003–2005. Arbeitsbereiche umfassen makroökonomische Themen wie Management von Staatseigentum, Zölle und Exporte oder die Förderung von unternehmerischer Tätigkeit; urbane Planung, Transport und Infrastruktur und Tourismus; sowie Innovationen und Forschung und Entwicklung. Wie die Besetzung der Leitungsebene bereits andeutet, gilt das CSR als wirtschaftlich liberal und reformorientiert.

Trotz der engen Zusammenarbeit mit der russischen Regierung agiert das CSR zumindest auf dem Papier finanziell unabhängig. So zeigte ein Finanzbericht der Organisation vom Oktober 2017, dass im Jahr 2016 lediglich 33 Millionen als Fördermittel aus dem Staatshaushalt stammten, während ca. 90 Prozent des Budgets oder 310 aus 340 Millionen Rubel "von russischen Organisationen und Privatpersonen" getragen wurden. Diese Zahlen wurden von internationalen Beobachterorganisationen wie Transparency International allerdings in Frage gestellt, da dies ein zu kleiner Haushalt für eine Institution dieser Größenordnung sei.

Das CSR und die Präsidentschaftswahl 2018

Ökonomische Themen spielten im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2018 eine große Rolle. Mit westlichen Sanktionen und dem Ölpreisverfall auf den globalen Märkten in Kombination mit den strukturellen Schwächen der russischen Wirtschaft hatte die russische Bevölkerung mit den Auswirkungen einer Rezession und leerer Staatskassen zu kämpfen. Dies wirkte sich allmählich auch auf die gesellschaftliche Stimmung und die Umfragewerte der russischen Regierung aus. Vor diesem Hintergrund wurde Alexej Kudrin im April 2016 damit beauftragt, ein Wirtschaftsprogramm für den Zeitraum 2018–2024 zu entwerfen. Dazu sollte er die Leitung des CSR übernehmen, wie Putin persönlich während der Sendung "Direkter Draht" andeutete.

Dieser persönliche Rückhalt und die Wahl Kudrins erscheint insofern interessant, dass der ehemalige Finanzminister als Wirtschaftsliberaler bekannt ist. Sein Amt als Finanzminister verlor er 2011 nach einer Auseinandersetzung und öffentlicher Kritik am damaligen Präsidenten Dmitrij Medwedew, bei der Kudrin sich gegen eine Erhöhung der Militärausgaben aussprach. Anschließend kündigte er an, eine eigene Partei gründen zu wollen und beteiligte sich an den Protesten gegen Wahlmanipulationen bei den Duma- und Präsidentschaftswahlen 2011/2012.

Das CSR arbeitete entsprechend ein liberales Wirtschaftsprogramm aus, das auf Themen wie Verbesserung des Investitionsklimas, Deregulierung und Diversifizierung setzte. Das Dokument wurde Putin 2017 im Rahmen mehrerer persönlicher Treffen vorgestellt, ohne dass es für die breite Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wurde. Kudrin veröffentlichte jedoch zusammen mit einem Koautor einen Artikel in der russischen wirtschaftswissenschaftlichen Zeitschrift Russian Journal of Economics, aus dem einige Inhalte hervorgingen. Ebenso veröffentlichte das CSR auf seiner Homepage einen Überblick über das Programm, der jedoch reichlich unpräzise gehalten war. Darin wurden sieben "Strategische Prioritäten" präsentiert: 1) soziale Entwicklung, 2) Förderung unternehmerischer Initiative, 3) technologische Entwicklung, 4) Diversifizierung der Exporte und Förderung der Integration in die Weltwirtschaft, 5) administrative Reform, 6) Entwicklung der Städte und der Regionen, 7) Sicherheit und Rechtsicherheit.

Das CSR blieb jedoch nicht die einzige Organisation, die im Vorfeld der Wahlen prominent im wirtschaftspolitischen Diskurs auftrat. Bereits im Sommer 2016 erließ Putin einen Auftrag, mit dem der Stolypin Klub um Boris Titow, den Beauftragten für Unternehmensrechte des russischen Präsidenten, damit beauftragt wurde, einen Gegenentwurf zu Kudrins Strategie zu formulieren. Der Stolypin Klub ist 2014 als wirtschaftspolitische Plattform gegründet worden, die vor allem konservative und staats-dirigistische Stimmen vereint. Sein Name geht zurück auf Pjotr Stolypin, Innenminister des Russischen Reiches 1906–1911, Monarchist und Initiator umfassender Agrarreformen. Bis 2017 bereitete diese Organisation das Dokument "Strategie des Wachstums" (ru.: Strategija rosta) vor, das Putin ebenfalls bei einem persönlichen Treffen im Mai 2017 präsentiert wurde.

Es zeigt sich, dass ExpertInnen im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2018 aktiv an der Ausgestaltung des wirtschaftspolitischen Programms beteiligt waren, und zwar sowohl aus dem liberalen, als auch aus dem eher konservativen Lager. Einige ihrer Vorschläge sind auch in politische Entscheidungen eingeflossen. So finden sich in den Mai-Erlässen, die Putin unmittelbar nach seinem Amtsantritt im Mai 2018 als Auftrag an die Regierung für die folgenden sechs Jahre unterzeichnete, mehrere Passagen aus dem CSR-Programm. Ein Beispiel ist die Verringerung des Anteils der Energieexporte am Gesamtvolumen der russischen Exporte und – im Gegenzug – die Steigerung der Exporte im Bereich Agrarprodukte und Dienstleistungen. Ein weiterer Schwerpunkt bestand in der Umstrukturierung des Staatshaushalts, um eine effizientere Verwendung der vorhandenen finanziellen Mittel zu erreichen. Ein konkreter Vorschlag war hier die sukzessive Anhebung des Rentenalters auf 65 Jahre für Männer und 63 Jahre für Frauen bis 2034. Diese – gesellschaftlich höchst unbeliebte und umstrittene – Reform mit erheblichem Mobilisierungspotenzial ist bereits im Sommer 2018 genau so umgesetzt worden. Für ein politisch autoritäres Land wie Russland können dieser inklusive Prozess und die Einbeziehung unterschiedlicher Positionen überraschend erscheinen. Dieser vordergründig positive Befund ist jedoch mit Vorsicht zu behandeln.

Unabhängige Expertise oder nur ein Feigenblatt?

Das Zentrum für Strategische Studien versteht sich laut eigener Website als Think Tank mit Schwerpunkt auf strategische Analysen und Politikberatung. Auch die Betonung der finanziellen Unabhängigkeit von der russischen Regierung soll den autonomen Charakter der Organisation unterstreichen. Dennoch ist die Nähe des CSR zu offiziellen Strukturen und somit zum russischen Regime unübersehbar.

Nicht nur die Gründung der Organisation geht unmittelbar auf Putin zurück, auch die personelle Besetzung weist in diese Richtung. Dies wurde nach der Präsidentschaftswahl 2018 noch einmal besonders deutlich. Unmittelbar nach der Wahl und dem erneuten Wahlsieg Putins wurde Kudrin der Posten des Leiters des Rechnungshofes angeboten, den er im Mai des Jahres antrat; im September trat er als Leiter des CSR zurück. In seiner Sitzung am 19. November setzte der Rat der Organisation einen Erlass des Premierministers Dmitrij Medwedews vom Oktober des Jahres um, der sie fortan dem Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung unterstellte. Als neuer Leiter wurde – schon wenig überraschend – Maxim Oreschkin eingesetzt, gleichzeitig Minister für wirtschaftliche Entwicklung. Diese Umstrukturierung des CSR und der nachfolgende Werdegang Kudrins wurde in Fachkreisen und den regimekritischeren Medien wie Nowaja Gaseta sehr kritisch aufgenommen, da fortan ein zentraler, reformorientierter Akteur in Wirtschaftsfragen fehlen werde. Tatsächlich scheint einige Monate später der prophezeite Bedeutungsverlust des CSR einzutreten. Einige der MitarbeiterInnen haben mit Kudrin zum Rechnungshof gewechselt, andere haben gekündigt; der zu Hochzeiten über 1.200 Personen umfassende, mit dem CSR assoziierte ExpertInnenkreis ist deutlich reduziert. In öffentlichen Debatten spielt die Organisation abseits der Person Oreschkins, der jedoch eher als Minister auftritt, aktuell kaum eine Rolle. Gleichzeitig ist nicht auszuschließen, dass das CSR wieder reaktiviert werden kann, so wie es auch mit der Nominierung Kudrins im Jahr 2016 geschehen ist. Voraussetzung hierfür ist aber wohl eher ein Interesse der russischen Regierung, als die eigene Bemühung um unabhängige Impulse für den wirtschaftspolitischen Politikbetrieb.

Fazit

Die Geschichte des CSR steht stellvertretend für die Rolle von WirtschaftsexpertInnen und wirtschaftswissenschaftlichen Think Tanks in Russland. Im autoritären politischen System gibt es nur wenig Platz für echte Distanz zur Politik und für die Entwicklung unabhängiger Expertise, Meinungen und Strategien. ExpertInnen können mit ihrem Fachwissen zwar Schwerpunkte setzen und auch Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen, doch geschieht dies zumeist in einem engen, sorgfältig kontrollierten oder sogar vom russischen Regime selbst konstruierten Raum.

Bibliografie

Fussnoten

Vera Rogova ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und Doktorandin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie forscht zu wirtschaftlichen Reformpolitiken in autoritären Staaten sowie zur russischen Innen- und Außenpolitik.