Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Analyse: Zivilgesellschaft in der Ukraine: Struktur, Umfeld und Entwicklungstendenzen | Ukraine-Analysen | bpb.de

Ukraine Wirtschaft / Rohstoffe / Kriegsschäden und Wiederaufbau Analyse: Wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit in einer schwierigen Gesamtlage Analyse: Die Rohstoffe der Ukraine und ihre strategische Bedeutung Analyse: Schäden und Wiederaufbau der ukrainischen Infrastruktur Chronik: 11. Januar bis 21. Februar 2024 Zwei Jahre Angriffskrieg: Rückblick, aktuelle Lage und Ausblick (23.02.2024) Analyse: Zwei Jahre russischer Angriffskrieg. Welche politischen, militärischen und strategischen Erkenntnisse lassen sich ziehen? Kommentar: Die aktuelle Lage an der Front Kommentar: Wie sich der russisch-ukrainische Krieg 2024 entwickeln könnte Kommentar: Die Ukraine wird sich nicht durchsetzen, wenn der Westen seine eigene Handlungsfähigkeit verleugnet Kommentar: Wie funktioniert das ukrainische Parlament in Kriegszeiten? Kommentar: Wie die Wahrnehmung des Staates sich durch den Krieg gewandelt hat Umfragen: Stimmung in der Bevölkerung Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Statistik: Russische Raketen- und Drohnenangriffe, Verbrauch von Artilleriegranaten, Materialverluste im Kampf um Awdijiwka Folgen des russischen Angriffskriegs für die ukrainische Landwirtschaft (09.02.2024) Analyse: Zwischenbilanz zum Krieg: Schäden und Verluste der ukrainischen Landwirtschaft Analyse: Satellitendaten zeigen hohen Verlust an ukrainischen Anbauflächen als Folge der russischen Invasion Statistik: Getreideexporte Chronik: 17. Dezember 2023 bis 10. Januar 2024 Kunst, Musik und Krieg (18.01.2024) Analyse: Ukrainische Künstler:innen im Widerstand gegen die großangelegte Invasion: Dekolonialisierung in der Kunst nach dem 24. Februar 2022 Analyse: Musik und Krieg Dokumentation: Ukrainische Musiker:innen, die durch die russische Invasion umgekommen sind Statistik: "De-Russifizierung" der ukrainischen Youtube-Musik-Charts Umfragen: Änderung des Hörverhaltens seit der großangelegten Invasion Chronik: 21. November bis 16. Dezember 2023 Eintritt in eine neue Kriegsphase? / Selenskyjs Appelle an Russland (19.12.2023) Interview: "Dieser Krieg bleibt in erster Linie ein Artilleriekrieg, der die Munitionslieferungen zu einem sehr wichtigen Faktor macht" Statistik: Geländegewinne seit Beginn der Großinvasion Kommentar: Deutschland: Ein Schlüsselakteur in der neuen Kriegsphase? Statistik: Internationale Hilfen für die Ukraine Analyse: Selenskyjs Appelle an russische Staatsbürger:innen im ersten Jahr des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine Dokumentation: Ansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an das russische Volk am Vorabend der großangelegten Invasion Chronik: 28. Oktober bis 20. November 2023 Der Globale Süden und der Krieg (24.11.2023) Analyse: Der Blick aus dem Süden: Lateinamerikanische Perspektiven auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Krieg gegen die Ukraine und Afrika: Warum die Afrikanische Union zwar ambitioniert, aber gespalten ist Analyse: Eine Kritik der zivilisatorischen Kriegsdiplomatie der Ukraine im Globalen Süden Umfragen: Umfragedaten: Der Globale Süden und Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Abstimmungen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen Chronik: 16. bis 27. Oktober 2023 Zwischen Resilienz und Trauma: Mentale Gesundheit (02.11.2023) Analyse: Mentale Gesundheit in Zeiten des Krieges Karte: Angriffe auf die Gesundheitsinfrastruktur der Ukraine Analyse: Den Herausforderungen für die psychische Gesundheit ukrainischer Veteran:innen begegnen Umfragen: Umfragen zur mentalen Gesundheit Statistik: Mentale Gesundheit: Die Ukraine im internationalen Vergleich Chronik: 1. bis 15. Oktober 2023 Ukraine-Krieg in deutschen Medien (05.10.2023) Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Analyse: Die Qualität der Medienberichterstattung über Russlands Krieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Aggression gegenüber der Ukraine in den deutschen Talkshows 2013–2023. Eine empirische Analyse der Studiogäste Chronik: 1. bis 30. September 2023 Ökologische Kriegsfolgen / Kachowka-Staudamm (19.09.2023) Analyse: Die ökologischen Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine Analyse: Ökozid: Die katastrophalen Folgen der Zerstörung des Kachowka-Staudamms Dokumentation: Auswahl kriegsbedingter Umweltschäden seit Beginn der großangelegten russischen Invasion bis zur Zerstörung des Kachowka-Staudamms Statistik: Statistiken zu Umweltschäden Zivilgesellschaft / Lokale Selbstverwaltung und Resilienz (14.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause – und eine Ankündigung Analyse: Die neuen Facetten der ukrainischen Zivilgesellschaft Statistik: Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft Analyse: Der Beitrag lokaler Selbstverwaltungsbehörden zur demokratischen Resilienz der Ukraine Wissenschaft im Krieg (27.06.2023) Kommentar: Zum Zustand der ukrainischen Wissenschaft in Zeiten des Krieges Kommentar: Ein Brief aus Charkiw: Ein ukrainisches Wissenschaftszentrum in Kriegszeiten Kommentar: Warum die "Russian Studies" im Westen versagt haben, Aufschluss über Russland und die Ukraine zu liefern Kommentar: Mehr Öffentlichkeit wagen. Ein Erfahrungsbericht Statistik: Auswirkungen des Krieges auf Forschung und Wissenschaft der Ukraine Innenpolitik / Eliten (26.05.2023) Analyse: Zwischen Kriegsrecht und Reformen. Die innenpolitische Entwicklung der Ukraine Analyse: Die politischen Eliten der Ukraine im Wandel Statistik: Wandel der politischen Elite in der Ukraine im Vergleich Chronik: 5. April bis 3. Mai 2023 Sprache in Zeiten des Krieges (10.05.2023) Analyse: Die Ukrainer sprechen jetzt hauptsächlich Ukrainisch – sagen sie Analyse: Was motiviert Ukrainer:innen, vermehrt Ukrainisch zu sprechen? Analyse: Surschyk in der Ukraine: zwischen Sprachideologie und Usus Chronik: 08. März bis 4. April 2023 Sozialpolitik (27.04.2023) Analyse: Das Sozialsystem in der Ukraine: Was ist nötig, damit es unter der schweren Last des Krieges besteht? Analyse: Die hohen Kosten des Krieges: Wie Russlands Krieg gegen die Ukraine die Armut verschärft Chronik: 22. Februar bis 7. März 2023 Besatzungsregime / Wiedereingliederung des Donbas (27.03.2023) Analyse: Etablierungsformen russischer Herrschaft in den besetzten Gebieten der Ukraine: Wege und Gesichter der Okkupation Karte: Besetzte Gebiete Dokumentation: Human Rights Watch: Torture, Disappearances in Occupied South. Apparent War Crimes by Russian Forces in Kherson, Zaporizhzhia Regions (Ausschnitt) Dokumentation: War and Annexation. The "People’s Republics" of eastern Ukraine in 2022. Annual Report (Ausschnitt) Dokumentation: Terror, disappearances and mass deportation Dokumentation: Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) gegen Wladimir Putin wegen der Verschleppung von Kindern aus besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland Analyse: Die Wiedereingliederung des Donbas nach dem Krieg: eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung Chronik 11. bis 21. Februar 2023 Internationaler Frauentag, Feminismus und Krieg (13.03.2023) Analyse: 8. März, Feminismus und Krieg in der Ukraine: Neue Herausforderungen, neue Möglichkeiten Umfragen: Umfragen zum Internationalen Frauentag Interview: "Der Wiederaufbau braucht einen geschlechtersensiblen Ansatz" Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Korruptionsbekämpfung (08.03.2023) Analyse: Der innere Kampf: Korruption und Korruptionsbekämpfung als Hürde und Gradmesser für den EU-Beitritt der Ukraine Dokumentation: Statistiken und Umfragen zu Korruption Analyse: Reformen, Korruption und gesellschaftliches Engagement Chronik: 1. bis 10. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Jahrestag der Invasion (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg hat die Profile der EU und der USA in der Ukraine gefestigt Kommentar: Wie der Krieg die ukrainische Gesellschaft stabilisiert hat Kommentar: Die existenzielle Frage "Sein oder Nichtsein?" hat die Ukraine klar beantwortet Kommentar: Wie und warum die Ukraine neu aufgebaut werden sollte Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Chronik: 17. bis 31. Januar 2023 Meinungsumfragen im Krieg (15.02.2023) Kommentar: Stimmen die Ergebnisse von Umfragen, die während des Krieges durchgeführt werden? Kommentar: Vier Fragen zu Umfragen während eines umfassenden Krieges am Beispiel von Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine zu Kriegszeiten: Zeigen sie uns das ganze Bild? Kommentar: Meinungsforschung während des Krieges: anstrengend, schwierig, gefährlich, aber interessant Kommentar: Quantitative Meinungsforschung in der Ukraine zu Kriegszeiten: Erfahrungen von Info Sapiens 2022 Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine unter Kriegsbedingungen Kommentar: Politisches Vertrauen als Faktor des Zusammenhalts im Krieg Kommentar: Welche Argumente überzeugen Deutsche und Dänen, die Ukraine weiterhin zu unterstützen? Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: Chronik 9. bis 16. Januar 2023 Ländliche Gemeinden / Landnutzungsänderung (19.01.2023) Analyse: Ländliche Gemeinden und europäische Integration der Ukraine: Entwicklungspolitische Aspekte Analyse: Monitoring der Landnutzungsänderung in der Ukraine am Beispiel der Region Schytomyr Chronik: 26. September bis 8. Januar 2023 Weitere Angebote der bpb Redaktion

Analyse: Zivilgesellschaft in der Ukraine: Struktur, Umfeld und Entwicklungstendenzen

Berlin Susan Stewart

/ 11 Minuten zu lesen

In den letzten Jahren haben Analysen der ukrainischen Zivilgesellschaft sich weitgehend auf die Entwicklung des NGO-Bereichs konzentriert. In Zukunft erscheint ein breiterer Ansatz sinnvoll, der u. a. auch spontane Protestmaßnahmen einbezieht. Ukrainische zivilgesellschaftliche Akteure agieren in einem politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld, das auf vielerlei Weise die Entwicklung der Zivilgesellschaft noch hemmt. Dennoch sind sowohl im Bereich der Gesetzgebung als auch bei der gesellschaftlichen Akzeptanz von NGOs und anderen zivilgesellschaftlichen Strukturen positive Tendenzen zu beobachten.

Die Struktur der ukrainischen Zivilgesellschaft


In seinem Buch The Weakness of Civil Society in Post-Communist Europe definiert Marc Morjé Howard Zivilgesellschaft folgendermaßen: “Civil society refers to the realm of organizations, groups, and associations that are formally established, legally protected, autonomously run, and voluntarily joined by ordinary citizens.” Dies ist ein breites Spektrum, schließt allerdings spontane oder ad hoc-Aktivitäten von Bürgerinnen und Bürgern nicht ein. In der Ukraine hat sich die Diskussion über die Entwicklung der Zivilgesellschaft in den letzten Jahren aus verschiedenen Gründen stark um die Evolution der Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs oder non-governmental organizations) gedreht. Erstens sind einige Organisationen nach dem Zerfall der UdSSR von der Bildfläche verschwunden, während andere durch ihre Assoziation mit sowjetischen Strukturen sich in den Augen der Bevölkerung weitgehend diskreditiert haben. So konnten sich in der Ukraine insbesondere einige Gewerkschaften zwar halten, haben aber den Ruf, von der herrschenden Elite kooptiert zu sein. (Neue Gewerkschaften gibt es auch, aber sie verfügen bislang über wenig Einfluss.) Zweitens entstanden in den letzten 10–15 Jahren mit westlicher Unterstützung viele NGOs, die insbesondere im Ausland mit der ukrainischen Zivilgesellschaft weitgehend gleichgesetzt werden. Da die Berichte und Informationsquellen, auf die sich diese Analyse stützt, die NGO-Kategorie in der Regel in den Mittelpunkt stellen, werden diese Organisationen im Fokus des Artikels stehen. Dennoch sollte schon an dieser Stelle klar gemacht werden, dass die ukrainische Zivilgesellschaft ein komplexes Phänomen ist, das über die NGO-Szene hinausgeht. Während diese zu einem festen Bestandteil der Zivilgesellschaft in der Ukraine geworden ist, zeigen neuere Entwicklungen, dass auch spontane Aktionen oder kurzfristig angelegte Proteste einen zunehmenden Raum einnehmen, wenn es um gesellschaftlichen Druck auf politische Kreise geht. In Zukunft wird vermutlich eine Mischung aus ad hoc-Aktivitäten und einer systematischeren Vorgehensweise durch NGOs und andere zivilgesellschaftliche Gruppierungen den Charakter der ukrainischen Zivilgesellschaft ausmachen. Die Zahl der registrierten zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Ukraine steigt kontinuierlich, genauso wie die Anzahl der in ihnen arbeitenden Personen. Dennoch sind diese Zahlen nur bedingt aussagekräftig. Die ukrainische NGO Counterpart Creative Center geht davon aus, dass nur 5–7 % der registrierten Organisationen tatsächlich aktiv sind, im Sinne einer regelmäßigen Durchführung von Projekten. Zahlreiche NGOs sind klein (bis 30 Mitglieder), während etliche andere über keine offizielle Mitgliedschaft verfügen. Der sogenannte dritte Sektor in der Ukraine ist also ziemlich eingeschränkt. Da selbst die offiziellen Daten zeigen, dass die Ukraine im Vergleich zum EU-Durchschnitt eine wesentlich niedrigere Teilnahme per capita an zivilgesellschaftlichen Organisationen aufweist, kann man davon ausgehen, dass der tatsächliche Unterschied erheblich größer ist, auch wenn es in der EU sicherlich manche registrierte aber inaktive Vereine gibt. Auf der anderen Seite ist die Ukraine im Vergleich zu ihren post-sowjetischen Nachbarn wie die Republik Moldau, Georgien oder Armenien im zivilgesellschaftlichen Bereich durchaus aktiv. In Bezug auf die Tätigkeitsfelder beschäftigt sich knapp die Hälfte der zivilgesellschaftlichen Organisationen mit Fragen, die Kinder und Jugendliche betreffen. Zwischen 25 % und 30 % geben an, in einem der folgenden Bereiche tätig zu sein: politische Bildung, Menschenrechte und soziale Fragen. Die regionale Struktur der ukrainischen NGOs weist auf den zentralisierten Charakter des ukrainischen Staates hin. Die allermeisten aktiven Organisationen sind in der Hauptstadt konzentriert. Mittlerweile haben sich allerdings einige andere Städte zu Zentren mit einer erheblichen Anzahl an NGOs herausgebildet. Nach Kiew ist als erste Lwiw zu nennen, danach Saporishshja und Odessa, mit jeweils etwa 1.000 Organisationen. Eine geografische Erweiterung der zivilgesellschaftlichen Aktivität in der Ukraine findet also durchaus statt, auch wenn sie ziemlich langsam vor sich geht. Das langsame Tempo liegt unter anderem auch an den Strategien ausländischer Geldgeber, die meist ausschließlich in der Hauptstadt ihre Büros unterhalten und es einfacher finden, mit einer kleinen Gruppe etablierter NGOs zusammenzuarbeiten, die ihrerseits auch hauptsächlich in Kiew tätig sind (mehr hierzu siehe unten).

Politisches Umfeld


Zu Beginn der Amtszeit von Wiktor Janukowytsch gab es einige beunruhigende Signale bezüglich der Einstellung der politischen Führung zu zivilgesellschaftlichen Akteuren. Diese Beispiele zeigten, dass ähnlich wie in Russland einige ukrainische politische Akteure geneigt waren, Kooperation mit dem westlichen Ausland im zivilgesellschaftlichen Bereich als mögliche Bedrohung einzustufen. Hierfür spricht die Verhaftung von Nico Lange, dem damaligen Leiter des ukrainischen Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung, im Juni 2010 am Kiewer Flughafen Boryspil, sowie die Befragung einiger Mitarbeiter an Projekten, die von der International Renaissance Foundation (IRF) finanziert wurden, durch die ukrainischen Sicherheitsdienste. Die IRF wurde vom US-amerikanischen Financier George Soros ins Leben gerufen und wird von ihm teilweise noch finanziert. Außerdem war und ist die politische Führung unter Janukowytsch bemüht, ernst zu nehmende Proteste durch verschiedene Mittel zu unterdrücken, wie sich bei dem Umgang mit einigen Organisatoren der Proteste gegen das neue Steuergesetz im Herbst 2010 zeigte. Janukowytsch traf sich mit den Protestierenden und führte daraufhin einige Änderungen ins Gesetz ein. Als die Proteste nicht versiegten, wurde das von den Gegnern des Gesetzes aufgebaute Zeltlager von der Polizei beseitigt. Einige der Hauptorganisatoren wurden aus fadenscheinigen Gründen verhaftet und mussten Gefängnisstrafen absitzen. Auf der legislativen Ebene kam es aber zu einigen erfreulichen Entwicklungen für die ukrainische Zivilgesellschaft. Die wichtigste hiervon ist sicherlich die Verabschiedung des Gesetzes »Über bürgerliche Assoziationen« im März 2012. Das Gesetz, das erst Anfang 2013 in Kraft getreten ist, stellt die ukrainische Antwort auf internationalen sowie internen Druck dar. Es wurde mit der Unterstützung ukrainischer zivilgesellschaftlicher Experten entworfen und enthält einige wichtige Verbesserungen gegenüber der bisherigen Gesetzgebung. Insbesondere zu nennen sind: eine vereinfachte Prozedur der Registrierung; das Recht einer registrierten Organisation, in allen ukrainischen Regionen tätig zu sein; die Möglichkeit, nicht gewinnorientierte Aktivitäten durch unternehmerische Tätigkeit zu finanzieren. Außerdem ist das Gesetz über den Zugang zu öffentlicher Information, das im Januar 2011 vom ukrainischen Parlament verabschiedet wurde, für die ukrainische Zivilgesellschaft von Bedeutung, da es z. B. vielen Organisationen hilft, ein Monitoring staatlicher Tätigkeiten sinnvoll und effizient durchzuführen. Allerdings ist es bei der Umsetzung dieses Gesetzes öfter zu Problemen gekommen, die einen (nicht immer erfolgreichen) Gang zum Gericht erforderlich machten. Das gesetzliche Umfeld im Bereich Zivilgesellschaft hat unter Janukowytsch einige Besserungen erfahren, und die anfänglichen Probleme im Hinblick auf den Umgang des Staates mit zivilgesellschaftlichen Akteuren haben sich zumindest nicht verstärkt. Auch die Beratungsorgane (hromads’ki rady), die aus Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft zusammengestellt werden und auf allen Ebenen der ukrainischen Politik zu finden sind, werden fortgeführt. Allerdings herrscht bei den meisten führenden Politikern des Landes eine zurückhaltende bis ablehnende Einstellung zur Zivilgesellschaft. Konstruktive Vorschläge zivilgesellschaftlicher Organisationen werden im politischen Prozess oft nicht ernst genommen. Außerdem werden seriöse Organisationen, die häufig über jahrelange Erfahrung und beachtenswerte Kenntnisse auf einem bestimmten Gebiet verfügen, nicht selten durch andere ersetzt, die solche Qualitäten nicht aufweisen, aber bereit sind, die von der Regierung bevorzugte Linie zu unterstützen. Es gibt allerdings auch Gegenbeispiele, insbesondere wenn die Position einschlägiger NGOs auch von ausländischen Diplomaten und internationalen Institutionen befürwortet wird.

Wirtschaftliches Umfeld


Die wirtschaftliche Lage der Ukraine verschlechtert sich zunehmend. Dies liegt sowohl an der internationalen Konjunktur seit der Finanz- und Wirtschaftskrise als auch an der fehlenden Reformbereitschaft der ukrainischen Führung. Diese Situation hat einige – teilweise widersprüchliche – Folgen für die Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft. Auf der einen Seite sind zahlreiche ukrainische Bürgerinnen und Bürger in der heutigen ökonomischen Situation zunehmend mit dem wirtschaftlichen Durchkommen beschäftigt. Dies lässt ihnen wenig Zeit und Energie für zivilgesellschaftliche Aktivitäten. Hinzu kommt, dass die in der Ukraine wenig ausgeprägte Tradition der Philanthropie bzw. individueller Spenden an Wohlfahrts- oder andere Organisationen durch die schwierige ökonomische Entwicklung alles andere als gefördert wird. Doch diese Entwicklung hat auch eine Gegenseite: Wenn die Lage sich weiter verschlechtert und immer mehr Menschen keine Zukunftsperspektive sehen, weil sie im gegebenen wirtschaftlichen (und politischen) Kontext nicht weiter kommen, kann sich ihre Bereitschaft erhöhen, im Rahmen zivilgesellschaftlicher Aktionen tätig zu werden. Die wirtschaftliche Lage wird auch deswegen schwieriger, weil einflussreiche Politiker und Geschäftsleute (u. a. die sogenannten Oligarchen) Gelder für ihre Partikularzwecke kanalisieren. Dies führt zu einer intransparenten Situation, in der weniger Geld für andere Akteure zur Verfügung steht. Dies macht sich für die Zivilgesellschaft z. B. darin bemerkbar, dass sie kaum Möglichkeiten hat, auf der für sie wichtigen regionalen und kommunalen Ebene Angebote im Rahmen von staatlichen Ausschreibungen einzureichen bzw. damit Erfolg zu haben. Manche ukrainische Geschäftsleute sind bereit, zivilgesellschaftliche Projekte zu finanzieren, die aus ihrer Sicht sinnvoll erscheinen. Diese sind insbesondere im sichtbaren sozialen Bereich zu finden (Kinder, Gesundheit), da ein Beitrag zum Image des finanzierenden Unternehmens das Hauptziel darstellt. Dadurch kommen Organisationen bzw. Projekte mit einer politischen Ausrichtung selten infrage, insbesondere wenn sie als oppositionell einzustufen sind. Außerdem ziehen es manche Geschäftsleute vor, eigene Strukturen zu gründen, statt bestehende zivilgesellschaftliche Organisationen zu unterstützen. Selbst wenn diese Strukturen formell gesehen zur Zivilgesellschaft zählen, vertreten sie eher die Interessen eines Unternehmens bzw. einer wirtschaftlichen Gruppe. Die oben genannten Schwierigkeiten mit einheimischen Finanzierungsquellen für ukrainische NGOs führen u. a. dazu, dass ausländische Geldgeber noch eine zentrale Rolle in der Finanzierungslandschaft spielen. Zu den wichtigsten zählen die EU (sowohl die Brüsseler Ebene als auch einige der individuellen Mitgliedsstaaten) und die USA (insbesondere die US Agency for International Development, oder USAID). In beiden Fällen sind sowohl staatliche als auch private Quellen von Bedeutung. Ein erheblicher Teil dieser Gelder wird für Zwecke der Demokratieförderung ausgegeben. So können auch Projekte mit politischer Agenda in der Ukraine finanziert werden. Die ausländischen Gelder haben viele Projekte möglich gemacht, die sonst nicht hätten durchgeführt werden können. Allerdings haben sie auch die Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft in gewissem Sinne verzerrt. Zahlreiche Beobachter weisen darauf hin, dass viele NGOs, die durch ausländische Quellen finanziert werden, sich mit der Zeit immer stärker auf die Geldgeber orientieren und die Rückkopplung an die ukrainische Gesellschaft verlieren. Außerdem sind einige NGOs hauptsächlich deswegen entstanden, um Zugang zu westlichen Geldern zu erhalten. Im Endeffekt bildet sich eine NGO-Elite, die auf die Hauptstadt fokussiert ist und eine Agenda entwickelt, die weitgehend losgelöst ist von der Problematik in anderen Landesteilen. Dieses Problem wurde inzwischen sowohl von der EU als auch von der ukrainischen Seite erkannt und es sind einige Schritte unternommen worden, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Allerdings haben sich bereits feste Beziehungsmuster etabliert, die nicht in einem oder zwei Jahren zu ändern sind, sondern nur mit einem mittel- bis langfristigen Ansatz.

Gesellschaftliches Umfeld


Große Teile der ukrainischen Gesellschaft haben während der Orangen Revolution erlebt, dass sie mit vereinten Kräften Änderungen im politischen Leben des Landes herbeiführen können. Die Ergebnisse dieser »Revolution« haben allerdings eine tiefe Enttäuschung bei vielen ukrainischen Bürgerinnen und Bürgern hinterlassen. Die sichtbaren und plötzlichen Änderungen fanden hauptsächlich an der Oberfläche statt, während die politischen und wirtschaftlichen Strukturen sowie die Verhaltensmuster der Elite im Wesentlichen gleich geblieben sind. So haben viele Leute zumindest zeitweilig die Hoffnung aufgegeben, dass ein bedeutender Wandel »von unten« möglich ist. Dennoch war in den letzten Jahren zu beobachten, dass kleine Gruppen sich immer wieder für lokale Anliegen einsetzen, z. B. für den Erhalt eines Parks oder gegen den Bau eines weiteren Hochhauses. Diese Anliegen betreffen die Protestierenden direkt und konkret. Manchmal wirkt eine zivilgesellschaftliche Organisation von Anfang an unterstützend im Hintergrund oder schaltet sich in einer späteren Phase ein. Manchmal aber organisieren die Betroffenen die Protestmaßnahmen spontan und völlig ohne Organisationsstruktur. Wenn ein Erfolg eintritt, kann das die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ermutigen, sich bei der organisierten Zivilgesellschaft einzubringen. Aber auch ad hoc-Aktionen werden vermutlich weiterhin an der Tagesordnung bleiben, weil Bürgerinnen und Bürger sich auch in Zukunft über willkürliche Entscheidungen der Verwaltungsstrukturen aufregen werden. Auch diese Aktionen können als Teil der ukrainischen Zivilgesellschaft gelten, selbst wenn sie in die oben zitierte Definition von Howard nicht ohne weiteres passen. Die Entwicklung der sozialen Medien erleichtert die Durchführung solcher Aktivitäten und weist auf die Notwendigkeit eines breiten Verständnisses von Zivilgesellschaft hin. Ein hemmender Faktor, der unter Janukowytsch dazu gekommen ist und die Entwicklung der Zivilgesellschaft zum Teil lähmt, ist Angst. In den letzten drei Jahren hat die Bereitschaft der politischen Elite, Gewalt als Mittel zur Problemlösung anzuwenden, zugenommen. Dies sieht man z. B. an den gewaltsamen Methoden der sogenannten »reidery«, die florierende Geschäfte übernehmen, um sie an Unterstützer des Regimes weiterzureichen – oder auch daran, dass laut der International Federation of Journalists Gewalt gegen Medienvertreter unter Janukowytsch zugenommen hat. Die Angst vor unangenehmen Folgen, falls man sich gegen das Regime äußert, trägt eher dazu bei, dass Bürgerinnen und Bürger untätig bleiben, als dass sie an einem zivilgesellschaftlichen Projekt teilnehmen. Die Erkenntnis nimmt also zu, dass es möglich ist, zusammen mit anderen durch gezielte Aktivitäten ein Ziel zu erreichen, das für das alltägliche Leben von Bedeutung ist. Diese Erfahrung jedoch bleibt noch auf einen kleinen Teil der Bevölkerung beschränkt und ist regional unterschiedlich weit verbreitet. Außerdem ist das Vertrauen der Bevölkerung zu NGOs und deren Arbeit eher niedrig. Hierzu trägt auch der hohe Anteil an ausländischer Finanzierung bei, die NGOs für viele Menschen als Fremdkörper erscheinen lassen. Dennoch hat sich die Einstellung, dass NGOs eine für die Gesellschaft notwendige Rolle spielen, in den letzten Jahren beträchtlich verbreitet. Laut der International Foundation for Electoral Systems (IFES) kletterte diese Meinung von 41 % im Jahr 2005 auf 76 % sechs Jahre später. Außerdem wird die Expertise zivilgesellschaftlicher Vertreterinnen und Vertreter von den Medien höher eingeschätzt als früher, und sie treten häufiger in verschiedenen Medien auf. Die Voraussetzungen für eine wachsende Akzeptanz der zivilgesellschaftlichen Sphäre sind dadurch zumindest teilweise vorhanden.

Ausblick


Laut der Einschätzung des Nations in Transit-Berichts von Freedom House ist im Fall der Ukraine der Bereich Zivilgesellschaft in den letzten sechs Jahren mit einem Ranking von 2,75 unverändert geblieben (bei einer Skala von 1 bis 7, wobei 1 die beste Note ist). Aus allen acht von Nations in Transit untersuchten Bereichen war die Zivilgesellschaft in diesen Jahren beständig der Bereich mit der besten Beurteilung. Die Anzahl der registrierten zivilgesellschaftlichen Organisationen nimmt kontinuierlich zu, und dieser Trend wird sich unter der neuen Gesetzgebung vermutlich fortsetzen, da sie die Registrierung von NGOs erleichtert hat. Mit der zunehmenden Nutzung des Internets sowie sozialer Medien in der Ukraine werden die kurzfristigen Protestmaßnahmen der letzten Jahre wohl an Bedeutung gewinnen, insbesondere da die politische und wirtschaftliche Elite keine Anstalten macht, ihr Verhalten zu ändern und sich für die Interessen der breiteren Bevölkerung einzusetzen. Interessant zu beobachten wird sein, inwiefern gut organisierte und erfahrene NGOs mit spontanen Bürgerinitiativen zusammenkommen, um gemeinsam politische wie soziale Ziele zu erreichen.


Über die Autorin:


Dr. Susan Stewart ist stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Russland/GUS an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.


Lesetipps:


Freedom House: Nations in Transit. Externer Link: http://www.freedomhouse.org/report/nations-transit/2012/ukraine

Lutsevych, Orysia: How to Finish a Revolution: Civil Society and Democracy in Georgia, Moldova and Ukraine. Chatham House Briefing Paper, Januar 2013.

Fussnoten