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Meinung: Die Ukraine-Krise hätte verhindert werden können | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Meinung: Die Ukraine-Krise hätte verhindert werden können

Oleksyj Semenyj

/ 10 Minuten zu lesen

Schon Jahre vor der Ukraine-Krise hätten sich die Spannungen zwischen Russland und dem Westen zunehmend verschärft. Trotzdem wäre eine andere Entwicklung möglich gewesen, glaubt Oleksiy Semeniy. Dies sei aber durch Fehleinschätzungen und eine nicht besonders weitsichtige Politik der Hauptakteure Ukraine, Russland, EU und USA verhindert worden.

Oleksiy Semeniy (© Oleksiy Semeniy )

Die Entscheidungen und Entwicklungen, die zur Ukraine-Krise geführt haben, können in vier Komplexe aufgeteilt werden: (1) die Fehler der alten ukrainischen Regierung unter Präsident Janukowitsch; (2) die Fehlkalkulationen der Moskauer Führung und die konfrontative Dynamik in Russland; (3) die mangelhafte Analyse in Brüssel und die Selbstüberschätzung der EU; (4) die Zurückhaltung der USA und ihr Versäumnis, gegenüber Moskau eine klare "rote Linie" zu ziehen.

Die Fehler der alten und neuen ukrainischen Regierung

Die Hauptursache für die Ukraine-Krise waren kardinale Fehler der Regierung unter Präsident Janukowitsch (2010-14) in der Innen-und Wirtschaftspolitik. Janukowitsch war bereits von 2002 bis 2004 sowie von 2006 bis 2007 ukrainischer Ministerpräsident. Dazu kamen die Misswirtschaft zugunsten eigener Interessen sowie die Begünstigung eines weit über die kritische Grenze wachsenden Einflusses Russlands, vor allem auf den Sicherheits- und Militärsektor der Ukraine. Insgesamt hatte seine Regierung bis Ende 2013 das Land und den Staat an den Rand einer Katastrophe manövriert.

Im Jahre 2014 musste die neue Führung unter Präsident Poroschenko und Premierminister Jazenjuk ein schweres Erbe antreten. Doch leider hat sie dabei nicht selten mangelnde Professionalität gezeigt und teilweise nicht den erforderlichen politischen Wille aufgebracht, in erster Linie im Interesse des Staates und der Gesellschaft und nicht im Eigeninteresse zu handeln. Zudem hat die neue Mannschaft konkurrierende Elitengruppierungen entweder ignoriert oder isoliert und auch innerhalb der Gesellschaft nicht gerade die Inklusivität gefördert.

Die Schwäche der Ukraine hat Russland zusätzlich zu seiner Aggression ermutigt. Nach den Informationen, die den russischen Geheimdiensten vorlagen, rechnete Moskau offenbar mit keinem großen Widerstand. Diese Erwartung schien sich zunächst durch bei der Annexion der Krim im Februar und März 2014 zu bestätigen.

Fehlkalkulationen Russlands und konfrontative interne Dynamik

Bei seinem Vorhaben, den Konflikt in den Osten der Ukraine zu tragen, hat Russland ganz offenkundig die Entschlossenheit und Fähigkeit des Landes zum Widerstand und den Willen einer bedeutenden Mehrheit der Bevölkerung unterschätzt, für ihr Land zu kämpfen. Gezielte Maßnahmen in den letzten Jahren zur Schwächung des Nachbarlandes zeitigten nicht die beabsichtigte Wirkung. Die Erwartungen hinsichtlich der Unterstützung für die russische Politik, die zum Teil auch von gewissen Kreisen in der Ukraine geweckt wurden, erwiesen sich als weit überzogen. Das Kalkül, dass mehr oder weniger alle russischsprachigen Ukrainer ganz selbstverständlich Russland unterstützen werden, ging nicht auf.

Man muss sich im Klaren darüber sein, dass die Ursachen für die russische Politik langfristiger Natur sind. Sie ist in erster Linie eine Reaktion auf das Gefühl der "Erniedrigung" durch die Politik des Westens in den 1990er Jahren. Die damalige russische Kooperationsbereitschaft sei nicht erwidert, sondern vielmehr "ausgebeutet" worden. Russland sieht sich heute als vom Westen und der NATO "umzingelte Festung". Entgegen anderslautender Versprechungen habe der Westen seine Sicherheitsstrukturen in Richtung Osten ausgedehnt. Diese Wahrnehmung wird aus Sicht der russischen Regierung von der Mehrheit der Russen geteilt – sei es von den Leuten auf der Straße oder den politisch Verantwortlichen in den Korridoren der Macht. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung glaubt man, dass sich Russland heute deutlich stärker und entschlossener geopolitisch und militärisch positionieren müsse, um den Westen zu einem Dialog zwischen gleichberechtigten Partnern zu zwingen.

Des Weiteren spielt die Ukraine als benachbartes und mit Russland eng verflochtenes Land eine Schlüsselrolle im Kontext der geopolitischen Neuorientierung der tonangebenden russischen Eliten. Diese herausgehobene Rolle ist durch objektive und subjektive Faktoren bedingt. Zu den objektiven Faktoren gehört die große Zahl von Netzwerken zwischen der Ukraine und Russland auf vielen Ebenen (Wirtschaft, Energie, Militär, Gesellschaft und Familien usw.), die seit Sowjetzeiten lebendig geblieben sind. Hinzu kommt in letzter Zeit der immer offener artikulierte Anspruch Russlands auf eine eigene Einflusssphäre, die man auch mit Gewalt zu "verteidigen" bereit sei. Das ist der Hintergrund für die in Russland herrschende Beurteilung der ukrainischen Ereignisse im Winter 2013/14. Aus Angst vor dem "totalen Verlust der Ukraine" sah sich Moskau – so die Wahrnehmung – gezwungen, schnell, entschlossen und brutal zu handeln.

Doch liegt der letztlich ausschlaggebende Grund dafür, dass der Kreml seinen außenpolitischen Kurs gegenüber dem Westen so dramatisch verändert hat, in der russischen Innenpolitik. Dort wurde die Neigung zur Beschneidung und Deformation von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit seit den 1990er Jahren immer offenkundiger. Der Westen wird verdächtigt, die liberale politische Opposition und die kritische Zivilgesellschaft zu unterstützen. In der russischen Führungsschicht grassiert die Angst vor "farbigen Revolutionen" im eigenen Land und in den Nachbarstaaten.

Um dieser Entwicklung vorzubeugen, hätte der Westen sich viel früher mit dem innenpolitischen Richtungswechsel in Russland befassen und entsprechende Anzeichen und Warnungen sensibler zur Kenntnis nehmen und darauf reagieren müssen.

Mangelhafte Situationsanalyse durch Brüssel und die Selbstüberschätzung der EU

Als die Europäische Union bis Februar 2014 die Option trilateraler Gespräche über das Freihandelsabkommen mit der Ukraine (DCFTA) kategorisch ablehnte, obwohl es 2013 sowohl aus Moskau als auch aus Kiew entsprechende Vorschläge gegeben hatte, war man sich in Brüssel wahrscheinlich nicht im Klaren darüber, dass diese Haltung der Ukraine einen nicht zu bewältigenden Spagat zumuten und Russland einen Vorwand für die Eskalation des Konflikts bieten würde. Brüssel hat offenbar die Sensibilität der Führung Russlands in Bezug auf gewisse Themen und Handlungen sowie ihre Bereitschaft unterschätzt, sich über Grundsätze und Tabus der europäischen Politik hinwegzusetzen.

Zudem machte man sich aufseiten der EU wohl Illusionen über die innenpolitische und wirtschaftliche Entwicklung in der Ukraine und die Möglichkeiten, das Land schnell zu reformieren. Die EU ihrerseits hat die eigenen Kapazitäten überschätzt, die Krise einzuhegen oder zu kontrollieren. Dies gilt insbesondere in Bezug auf ihren Einfluss auf Russland und die Möglichkeiten, mit Moskau verbindliche Vereinbarungen zu erzielen und durchzusetzen. Ein besonders kritisches Momentum für die russische Eskalation war die Nicht-Einhaltung der Vereinbarung über die Beilegung der Krise vom 21. Februar 2014 zwischen Janukowitsch und dem damaligen Oppositionsführer, die von den Außenministern Deutschlands und Polens wie auch von einem Vertreter des französischen Außenministeriums garantiert wurde.

Die russische Führung bewertete die Nichteinhaltung der Vereinbarung durch die neue ukrainische Regierung als Wortbruch der EU. Sie sah sich in ihrem Verdacht bestätigt, dass die Maidan-Bewegung vom Westen inspiriert und dirigiert wurde. Ihre Schlussfolgerung: Mit dem Westen getroffene Vereinbarungen haben keine Gültigkeit; das Einzige, was zählt, sind harte Fakten in der politischen Auseinandersetzung. Die Vereinbarung war die letzte Chance, die russische Annexion der Krim und die Einmischung im Donbass irgendwie zu stoppen und so der Ukraine-Krise vorzubeugen.

Die Zurückhaltung der USA und das Versäumnis, eindeutige rote Linien zu ziehen

Möglicherweise hätten sowohl USA als auch die EU mehr Sensibilität gegenüber den offiziell und inoffiziell erklärten russischen Besorgnissen zeigen können. Doch andererseits darf man die Kapazitäten des Westens auch nicht überschätzen. Die Politik der USA und der EU-Staaten unterliegt starken eigenen Begrenzungen – sei es in Bezug auf innenpolitisch sensible Fragen oder auf die Beziehungen zu anderen Staaten. Die beste Strategie wäre wohl eine "Smart-Power-Politik" gewesen, d.h. eine Kombination aller zur Verfügung stehenden politischen, wirtschaftlichen, symbolpolitischen und gesellschaftlichen Instrumente, um Russland positiv zu beeinflussen. Doch die Kardinalfrage bleibt unbeantwortet: War und ist der Westen tatsächlich bereit, Russland in die eigene Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft zu integrieren, oder war man sich von Anfang bewusst, dass es bestenfalls zu einer Partnerschaft kommen könne?

Vom Standpunkt der eigenen Interessen und Prioritäten haben die USA im Verlauf der Krise im Großen und Ganzen besonnen gehandelt. Das Problem ist nur, dass die anderen drei Seiten eine andere Politik von Washington erwartet haben! Nur am Anfang der Krise waren die USA aktiv engagiert , danach beschränkten sie sich weitgehend auf Schritte hinter den Kulissen bzw. Aktivitäten zur Konsolidierung des Westens gegenüber Russland. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Ukraine- und die Osteuropa-Problematik nie auf der Prioritätenliste der Obama Administration standen – und das aus guten Gründen. Die USA müssen sich viel stärker auf den Pazifik und den Mittleren Osten konzentrieren. Hier liegt eine bedeutende Differenz in Bezug auf die Interessen und Einschätzungen auf beiden Seiten des Atlantiks.

Hinzu kamen auch personenbezogene Faktoren, die erklären, warum Obama zur Ukraine-Krise auf Abstand gegangen ist. An erster Stelle stehen die schlechten Beziehungen und das Misstrauen zwischen Obama und Putin sowie nicht besonders positive erste Eindrücke, die Obama noch als US-Senator 2005 während einer Reise in die Ukraine gewonnen hatte. Zugleich hat man in Washington die Konfrontationsbereitschaft Russlands und dessen Reaktion und Möglichkeiten in Bezug auf die Ukraine unterschätzt oder gar ignoriert. Die USA haben darin offenbar keine direkte Bedrohung gesehen. Doch wurde so definitiv das falsche Signal nach Moskau gesandt. Mehr noch: Aufgrund des russischen Verständnisses der geltenden "Spielregeln" wurde dadurch wahrscheinlich sogar eine zusätzliche Eskalation provoziert. Der Kreml war und ist der Überzeugung, dass sich die Großmächte auf der Weltbühne nicht an alle Regeln halten müssen, die für die anderen Staaten gelten.

Russland hätte wahrscheinlich anders gehandelt, wenn von den USA vorher deutlich kommuniziert worden wäre, wo die "roten Linien" in Bezug auf die Region verlaufen und welche Gegenaktionen die USA gegebenenfalls unternehmen werden. Hätte man in Kiew und in anderen europäischen Hauptstädten gewusst, wie begrenzt die amerikanische Bereitschaft zu aktiver Solidarität, Unterstützung und gegebenenfalls militärischer Einmischung ist, hätte man sich höchstwahrscheinlich anders verhalten. Womöglich wäre die Einsicht in die Notwendigkeit, mehr eigene Verantwortung zu übernehmen und mehr Entschlossenheit zu zeigen, größer gewesen.

Fazit

Als Schlussfolgerung aus dem Verlauf der Ukraine-Krise muss auch auf das mangelnde Vertrauen zwischen Russland und dem Westen – es erodierte seit Jahren – sowie auf den fehlenden echten Austausch über die Schaffung einer nachhaltigen Sicherheitsarchitektur in Europa verwiesen werden. Ein zentraler Baustein wäre ein gemeinsames Verständnis darüber, welchen politischen, völkerrechtlichen und Sicherheitsstatus diejenigen Staaten haben, die weder zum russischen Machtbereich noch zur NATO und der EU gehören. Diese sogenannten "States in-between" ("Staaten dazwischen") befinden sich ohne echte Sicherheitsgarantien in einer nicht gerade komfortablen Position zwischen den beiden Machtblöcken.

Um dramatische Entwicklungen wie die Ukraine-Krise künftig zu vermeiden, muss man anfangen, sich mit diesen schwierigen Fragen zu befassen, statt sie immer wieder zur Seite zu schieben. Dabei sollte der Grundsatz gelten, sich auf das Mögliche und auf die positiven Entwicklungen zu konzentrieren und nicht immer sofort konfrontativ zu reagieren. Eine Option wäre, dass die NATO und die EU eine strategische Vereinbarung mit Russland bezüglich des unabhängigen und eigenständigen Status dieser "Staaten dazwischen" treffen. Dazu könnte als erster Schritt ein Abkommen über die Modalitäten der wirtschaftlichen Kooperation zwischen der Europäischen Union und der Eurasischen Union gehören. Denkbar wäre auch eine klare und glaubwürdige Definition der "roten Linien" durch den Westen, die Russland keinesfalls übertreten darf. Beides wurde bislang leider versäumt.

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Dr. Oleksyj Semenyj (1978) ist seit Januar 2013 Direktor des Institutes für Globale Transformationen (Kiew). Stationen seines beruflichen Werdegangs waren u.a. Positionen im Department für die Außenpolitik im Präsidialamt der Ukraine, Mitarbeiter in der juristischen Abteilung einer der größten Finanz- und Industriegruppen der Ukraine, assoziierter Experte in International Centre for Policy Studies (Kiew) und stellvertretender Direktor der Stiftung "Einheitliche Welt" (Kiew). Er ist Mitglied des Younger Generation Leaders Network on Euro-Atlantic Security, EASI Next Generation project (organisiert von Carnegie Endowment for International Peace) und war Mitglied der Transnistria Task Force (2011-13). Seine Expertise bezieht sich auf folgende Themen: international Politik und Geopolitik; Außen-und Sicherheitspolitik der Ukraine; Außen-, Innen- und Sicherheitspolitik von Deutschland, USA, Russland und China; Energiepolitik; Europäische Integration und Entwicklung der EU; neue Typen von Bedrohungen und Herausforderungen.