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An der Schwelle zum nächsten Jahrzehnt | Deutschland in den 50er Jahren | bpb.de

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An der Schwelle zum nächsten Jahrzehnt

Christoph Kleßmann Axel Schildt

/ 4 Minuten zu lesen

Ludwig Erhard (links) und Konrad Adenauer 1963. (© AP)

Auf dem Weg in die westliche Staatenwelt

Für die Bundesrepublik Deutschland waren die fünfziger Jahre die Zeit der beginnenden politischen, wirtschaftlichen und schließlich auch kulturellen Wendung zum Westen. Die Einrichtung und wachsende Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie, die überaus erfolgreiche Eingliederung in die westliche Weltwirtschaft, der sozialhistorisch geradezu revolutionäre und in einem kurzen Zeitraum sich vollziehende Wandel von der Armut der Nachkriegszeit zu ersten Konturen ungewohnten Massenkonsums, der tiefgreifende Strukturwandel zu einer noch stärker industriell geprägten und in neuer Form urbanisierten Gesellschaft zeigen ein insgesamt äußerst dynamisches Jahrzehnt.

Diese Erfolge der Bundesrepublik in ihrem ersten Jahrzehnt sind nicht zu bezweifeln, aber es war keine widerspruchsfreie und konfliktlose Zeit. In der Konkurrenz mit der DDR hob sich das westliche Deutschland zwar immer deutlicher als zugleich wirtschaftlich und sozialpolitisch erfolgreiches und demokratisches Modell ab. Aber die Bundesrepublik entstand als Gesellschaft auch nicht aus dem Nichts. Die fünfziger Jahre waren ein Zeitraum, in dem noch starke Kontinuitäten aus der Zeit vor 1933 und auch aus dem Dritten Reich spürbar waren, sowohl bei den Führungskräften in Wirtschaft, Verwaltung und Gesellschaft (relativ am wenigsten in den großen politischen Parteien) wie in der Bevölkerung insgesamt. Dies umschloß für einen Teil der Bundesbürger autoritäre, politikferne, staatsgläubige und antiliberale Wertmuster, Mentalitäten und Einstellungen, die erst allmählich, mit dem Wechsel der Generationen, abschmolzen. Besonders der aus heutiger Sicht problematische Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in den frühen fünfziger Jahren zeigt dies deutlich.

Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges dominierten stark kontrastierende Freund-Feind-Bilder, die vor allem den Auseinandersetzungen um deutsche Einheit, Westintegration und um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik stellenweise ein dramatisches Gepräge verliehen. Aber mit der allmählichen globalen Entspannung und der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung begann sich auch die politische Kultur zu pluralisieren. Die Bundesrepublik hatte Ende der fünfziger Jahre einen eigenständigen Platz in der Reihe der anderen westlichen Demokratien gefunden.

Antifaschismus und Obrigkeitsstaat

Zur Gründung der DDR schickte Stalin ein Glückwunschtelegramm, das die Bildung dieses Staates als "einen Wendepunkt in der Geschichte Europas" feierte. Die SED ist dieser Sicht stets gefolgt und hat sich als Gegenbild zur Bundesrepublik verstanden, die angeblich in der verhängnisvollen deutschen Tradition des Militarismus und Imperialismus stand. Die "antifaschistisch-demokratische Umwälzung", die grundlegende politische und sozialökonomische Strukturveränderung in Staat und Gesellschaft, war nach dieser Lesart die Garantie, um Fehlentwicklungen, die im Nationalsozialismus ihren blutigen Höhepunkt erreicht hatten, künftig unmöglich zu machen.

Der in der strukturellen Entnazifizierung, also der tiefgreifenden Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Basis der Gesellschaft begründete Antifaschismus wurde zur Staatsideologie der DDR, mit der sie ihren Anspruch untermauerte, das "bessere Deutschland" zu verkörpern. Unzweifelhaft setzte sich die politische Führungselite der DDR aus Gegnern und Opfern des Faschismus zusammen. Der totale Bruch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, verbunden mit bewußter und gezielter Pflege der Traditionen des kommunistischen Widerstandes, erweist sich jedoch bei einem genaueren Blick auf die Entwicklung des neuen Staates als nicht mehr so eindeutig. Die SED besaß eine verbindliche Interpretation der Ursachen des Nationalsozialismus, die sie mit einer Schuldzuweisung an Großkapital und Großgrundbesitz als Träger der Hitlerdiktatur verband. Die Frage nach den Mitläufern und Stützen des Regimes in der breiten Bevölkerung trat so ganz in den Hintergrund und wurde auf die Vorstellung der manipulativen Verführung begrenzt.

Ein geschöntes Geschichtsbild und zu politischen Ritualen erstarrte Formen der Distanzierung vom Faschismus verdeckten, daß es jenseits der Elbe nicht nur in der Struktur und in der Politik des Staates, sondern auch in den Einstellungen und Verhaltensweisen viele Kontinuitätslinien zur Zeit vor 1945 gab. Denn auf den Trümmern des nationalsozialistischen Deutschlands wurde in der DDR unter ideologisch entgegengesetztem Vorzeichen eine zweite Diktatur errichtet. Sie wies gravierende Unterschiede, aber auch fatale Parallelen zur ersten auf.

Der Zentralismus bestimmte die staatlichen Strukturen und die politischen Entscheidungen, Länder als Gegengewicht zur Berliner Zentrale gab es seit 1952 nicht mehr. Die marxistisch-leninistische Ideologie mit ihrem absoluten Wahrheitsanspruch verschärfte die Intoleranz gegenüber Andersdenkenden. Das Leben in der Diktatur förderte Untertanenmentalität und Rückzug in die Nischen statt politischer und gesellschaftlicher Kreativität. Der Antifaschismus der DDR verhinderte nicht, daß sich erneut ein besonders in den fünfziger Jahren brutales diktatorisches System etablierte, das Andersdenkende verfolgte, jede Form von Opposition unterdrückte, Wahlen auf allen Ebenen manipulierte und zur Farce machte, und dies alles mit bürokratischer deutscher Gründlichkeit. Die von der Partei- und Staatsführung eingeforderte Disziplin und Linientreue, die ununterbrochen von oben praktizierte Erziehung und Belehrung färbten auf viele Bereiche der Gesellschaft ab. Insgeheim sahen auch die osteuropäischen Nachbarn in der DDR Züge des deutschen Obrigkeitsstaats vergangener Epochen.

Die Auseinandersetzung mit der Last der NS-Vergangenheit war in der Bundesrepublik ohne Zweifel ein langwieriger, mühsamer und auch mit einigen politisch-moralischen Skandalen gepflasterter Weg. Aber sie blieb zu allen Zeiten von kritischen Diskussionen begleitet. In der DDR fehlte dieses Element. Die Nähe zur Bundesrepublik bot bequeme Möglichkeiten der historischen Schuldzuweisung und der Ablenkung nach Westen. Erst in der Auflösungsphase der DDR setzte sich die Erkenntnis durch, daß auch der zweite deutsche Staat sich mit seinem "verordneten Antifaschismus" nicht einfach von der Vergangenheit hatte lossagen können.