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"Tauwetter" unter Nikita Chruschtschow | Sowjetunion II: 1953-1991 | bpb.de

Sowjetunion II – 1953-1991 Editorial "Tauwetter" unter Nikita Chruschtschow Stabilität und Stagnation unter Breschnew Perestrojka und Glasnost Nach dem Ende der Sowjetunion Karten Zeittafel Literaturhinweise Impressum

"Tauwetter" unter Nikita Chruschtschow

Susanne Schattenberg Manuela Putz Alexandra Oberländer Ulrike Huhn

/ 25 Minuten zu lesen

Nikita Chruschtschow (re.), 1894 im Governement Kursk geboren und später in der Ukraine lebend, macht als Protégé Stalins Karriere. Als Parteichef Moskaus darf er auf der Tribüne des Lenin-Mausoleums in Moskau um 1935 neben seinem Förderer die Ehrenbezeugungen der Bevölkerung entgegennehmen. (© akg-images)

Die nach dem Roman von Ilja Ehrenburg "Tauwetter" benannte Ära Chruschtschow galt lange Zeit als ungetrübte Befreiung der sowjetischen Gesellschaft, die dank Chruschtschow den Alptraum Stalins abschütteln konnte. Heute gibt es Forscher, die Chruschtschow viel kritischer sehen, vor allem aber ist inzwischen unbestritten, dass die Gesellschaft in ihren Normen und Werten, Feindbildern und Heldengeschichten so stark durch den Stalinismus geprägt war, dass diese Vorstellungen zumindest teilweise weiter wirkten.

Entstalinisierung

Die Frage, warum das Parteipräsidium nach Stalins Tod Amnestien erließ, das Lagersystem, die Schnellgerichte und die Folter abschaffte und sich von Angst und Terror als Herrschaftsmittel verabschiedete, erscheint nur auf den ersten Blick logisch. Einerseits befand sich das Land in einer Krise: In den Lagern gab es Häftlingsrevolten, die Bauern vegetierten wie Leibeigene dahin, die Städte waren unterversorgt. Andererseits hatten sich Gewalt und Schrecken bewährt, um die stalinistische Ordnung aufrechtzuerhalten. Was also bewegte die Männer im Präsidium, auf dieses Instrumentarium zu verzichten? Neben vielen verschiedenen Gesichtspunkten war es nach dem heutigen Forschungsstand auch die Einsicht, dass es nicht zu einem modernen Staat passe, brachiale Gewalt auszuüben. Die Sowjetmenschen sollten fortan umworben und überzeugt werden, dass sie im besseren System lebten. An die Stelle von Zwang sollte Erziehung treten.

Die "kollektive Führung" nach Stalin

Stalin hatte keinen Nachfolger aufgebaut, sondern systematisch diejenigen entmachtet, die dafür in Frage kamen. 1952 hatte er auf dem XIX., seinem letzten Parteitag das Politbüro in Präsidium umbenannt und auf 25 Mitglieder ausgedehnt, damit jeder Einzelne weniger Macht habe; neben seinem engsten Mitstreiter Molotow hatte Stalin weitere alte Wegbegleiter ausgeschlossen.

Noch bevor Stalins Tod festgestellt war, kamen die Mitglieder von Zentralkomitee (ZK), Ministerrat und Präsidium des Obersten Sowjets unter Chruschtschows Leitung am 5. März zusammen und machten in nur 40 Minuten viele dieser Entscheidungen rückgängig: Malenkow erbte von Stalin das Amt des Ministerratspräsidenten, Berija bekam das Innenressort samt Staatssicherheit überantwortet, Molotow kehrte in sein Amt als Außenminister zurück, das Parteipräsidium schrumpfte wieder auf elf Mitglieder und vier Kandidaten, und es wurden vier ZK-Sekretäre ernannt, von denen einer Chruschtschow war. An die Stelle des allmächtigen Generalsekretärs trat damit eine "kollektive Führung". Während nach außen die Gemeinschaft und die Einmütigkeit der Entscheidungen herausgestellt wurden, tobte im Inneren ein Machtkampf unter den Zöglingen Stalins, die gar nicht gelernt hatten, sich zu vertrauen und zusammenzuarbeiten. Als Erstes wurde Berija ausgeschaltet: Als er begann, Reformen einzuleiten, das GULag-Imperium auflöste, die Sondergerichte abschaffte, das Foltern als Verhörmethode verbot, die DDR und Ungarn aufforderte, seinem Beispiel zu folgen, verbündeten sich Malenkow und Chruschtschow, ließen ihn am 26. Juni 1953 verhaften und im Dezember 1953 hinrichten. Ein Beweggrund dafür war die Befürchtung der anderen Präsidiumsmitglieder, Berija werde als alter und neuer Vorsitzender der Staatssicherheit bald auch sie verhaften lassen und der Öffentlichkeit als "Drahtzieher" des stalinistischen Terrors vorführen. Zum anderen stand die Person Berija wie keine andere für die Gewaltexzesse des Stalinismus, sodass ein wirklicher Neuanfang mit ihm der Öffentlichkeit nicht glaubhaft zu vermitteln war. In der Forschung ist bis heute umstritten, welche Motive Berijas "Aufräumen" im Frühjahr 1953 zugrunde lagen und ob er wirklich als "Reformer" gelten kann.

Die UdSSR nach Stalins Tod (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 844 510)

Als nächstes gelang es Chruschtschow, sich im September vom ZK-Plenum zum "Ersten Sekretär" der Partei wählen zu lassen. Nun führte er die Partei, Malenkow die Regierung. Nach weiteren anderthalb Jahren war Chruschtschows Rückhalt in der Parteibasis so erstarkt, dass er mit Unterstützung der anderen Präsidiumsmitglieder den wegen seiner früheren Nähe zu Berija verhassten Malenkow im Februar 1955 aus dem Amt drängen konnte. Die guten Verbindungen Chruschtschows zur Partei in den Republiken und Regionen zahlten sich erneut 1957 aus, als ihn das Parteipräsidium unter Führung der Alt-Stalinisten absetzen wollte. Chruschtschow schaffte es, zum anberaumten ZK-Plenum alle seine Unterstützer aus der ganzen Union zusammenzuholen, die seine Absetzung verhinderten. Die "Anti-Partei"-Gruppe wurde aus dem Präsidium ausgeschlossen, und Chruschtschow triumphierte, als er im Frühjahr 1958 auch Vorsitzender des Ministerrats wurde.

Die Auflösung des GULag, Massenamnestien und Reintegration

Manuela Putz
Der Tod Stalins hatte direkte Auswirkungen auf den GULag und die Millionen Inhaftierten. Die Hauptverwaltung der Lager wurde erst dem Justizministerium, nach Berijas Exekution wieder dem Innenministerium unterstellt. Berijas Reformen beendeten einzelne Industrieprojekte und übertrugen Zuständigkeiten in andere Behörden mit der Folge, dass die sowjetische Wirtschaft zunehmend von der Zwangsarbeit entkoppelt wurde. Mit der Massenamnestie vom 27. März 1953 wurden 1,2 Millionen Gefangene aus den Besserungsarbeitslagern entlassen. Unter diesem ersten Schub Freigelassener waren jedoch nur wenige, die aus politischen Gründen nach § 58 Strafgesetzbuch der SU/RSFSR verurteilt worden waren. Über deren Entlassung sollten die 1954 eingeführten Revisionskommissionen entscheiden, deren Aufgabe es war, alle Prozessakten der für "konterrevolutionäre Tätigkeit" verurteilten Gefangenen zu begutachten und letztere zu amnestieren bzw. zu rehabilitieren. Schon bald nach Stalins Tod wurde deutlich, dass die Reformen des Strafvollzugssystems kompliziert sein würden und Politik und Behörden auf allen Ebenen vor eine ganze Reihe neuer Aufgaben stellten. So schlug innerhalb des Lagersystems vor allem in den Jahren 1953/1954 Wut und Frustration der Gefangenen in einzelnen Lagerkomplexen in Widerstand gegen Lageradministration und Wachmannschaften um. Es kam zu Übergriffen, Lagerstreiks und Massenerhebungen.

Für die Welt außerhalb der Lager entwickelte insbesondere die Frage nach dem Umgang mit den rund vier Millionen Menschen, die in den ersten fünf Jahren nach Stalins Tod aus den Lagern entlassen wurden, eine enorme gesellschaftliche Sprengkraft. Herumstreunende Banden von freigelassenen Berufskriminellen riefen in der Bevölkerung massive Ängste hervor. Zudem trugen sie die Kultur und vulgäre Sprache der Lager in die sowjetische Gesellschaft. Besonders angespannt war die Situation im Baltikum, in Weißrussland, der Ukraine und Moldawien, in die zu Tausenden die zuvor als "Nationalisten" verurteilten Freiheitskämpfer zurückkehrten. Die Behörden weigerten sich, ihnen Pässe, Wohnungen und Arbeit zu geben. Die sowjetische Führung hatte zudem Schwierigkeiten, der Bevölkerung zu vermitteln, dass diejenigen, die jahrelang als (Volks-)Feinde ausgegrenzt worden waren, nun wieder in die sowjetische Gesellschaft integriert werden mussten.

Die Rehabilitationspolitik stellte einen heiklen machtpolitischen Balanceakt dar. Chruschtschows kulturelles Tauwetter und die Entstalinisierungspolitik gingen daher mit verstärkten politischen Repressionen einher. Während es in den Jahren 1955/56 nur in Einzelfällen zu politischen Verurteilungen kam, wurden in einer neuerlichen Repressionswelle 1957/58 rund 2000 Personen wegen "antisowjetischer Agitation und Propaganda" zu Lagerhaft verurteilt. Im Unterschied zum Stalinschen Massenterror richteten sich Chruschtschows Kampagnen gezielt gegen Regimekritiker und Andersdenkende.

N. S. Chruschtschow als Entstalinisierer

In der Forschung ist man sich nicht einig, warum Chruschtschow 1956 die "Geheimrede" auf dem XX. Parteitag hielt und damit die Entstalinisierung entscheidend vorantrieb. Lange Zeit stimmten die Forscher im Westen Alexander Solschenizyn zu, er habe "aus einer Bewegung der Seele" heraus gehandelt, also aus Scham, Reue und Großmut. Jüngst haben sich allerdings Stimmen gemeldet, die in Chruschtschows Schritt reines Kalkül im Kampf um die Macht im Parteipräsidium vermuten. Auch wird immer wieder darauf hingewiesen, dass, seit die Lagerhäftlinge heimkehrten, das Wissen über Stalins Verbrechen sich ohnehin verbreitete und es ratsam schien, die Wahrheiten über den Terror von oben zu steuern und zu dosieren.

Chruschtschow, der 1894 als Sohn eines Gruben- und Landarbeiters im Governement Kursk geboren wurde, hatte nur vier Jahre lang die Schule besucht, bevor er mit 13 Jahren anfing, im Bergwerk im Donbass zu arbeiten. 1918 war er in die Partei eingetreten, für die er in den Bürgerkrieg zog und in den 1920er-Jahren im Donbass Politarbeit leistete. 1929 begann er ein Studium an der Industrieakademie in Moskau, wo er Stalins Frau Nadeschda Allilujewa traf, die ihn ihrem Mann vorstellte. Als dessen Protegé wurde Chruschtschow 1934 Parteichef Moskaus, als der er nicht nur den Bau der Metro beaufsichtigte, sondern ab 1937 auch der "Troika" angehörte, die die Menschen im Schnellverfahren zum Tod verurteilte. 1938 schickte Stalin ihn als Ersten Sekretär in die Ukraine, wo Chruschtschow für den Tod von 50.000 Menschen verantwortlich zeichnete. Im Krieg diente er als Politkommissar an der Front und erlebte das Leid und Grauen des Krieges hautnah mit. Nachdem er 1947 als Erster Sekretär der Ukraine Hungerhilfe angefordert hatte und deshalb für kurze Zeit bei Stalin in Ungnade gefallen war, setzte dieser ihn 1949 erneut als Parteichef von Moskau ein.

Chruschtschow war also ein Zögling Stalins, und dennoch gibt es Hinweise dafür, dass er die "Geheimrede" nicht aus Opportunismus hielt. 1938 hatte er zwar für den Parteiausschluss von Bucharin und Rykow, aber gegen die Todesstrafe gestimmt. 1939 soll er angesichts des Terrors in der Ukraine gesagt haben: "Ich habe damit nichts zu tun. Wenn ich es kann, werde ich mit diesem ‚Mudakschwili‘ [Stalin] abrechnen. Ich werde ihm keinen vergeben – weder Kirow, noch [Kommandeur I. O.] Jakir, noch Tuchatschewski, noch die einfachsten Arbeiter."

Die "Geheimrede" 1956

Nicht Chruschtschow allein bereitete die Rede über Stalins Verbrechen vor, sondern das Parteipräsidium setzte 1955 eine Kommission ein, die das Schicksal der Delegierten des XVII. Parteitags 1934 und anderer Personen in den Jahren 1935 bis 1940 prüfen sollte. Der 70-seitige Bericht erschütterte das Präsidium nach Angaben A. I. Mikojans sehr: "Wir waren alle überrascht, obwohl wir viel wussten. Aber alles, was die Kommission berichtete, wussten wir natürlich nicht. Jetzt war dies alles überprüft und von Dokumenten bestätigt." Chruschtschow setzte sich mit dem Vorschlag durch, auf dem XX. Parteitag auf einer geschlossenen Sitzung die erschütternden Ergebnisse vorzustellen.

Der Parteitag war am 24. Februar bereits offiziell beendet worden, als am späten Abend Chruschtschow die 1400 Delegierten erneut zusammenrief, um ihnen bis in die Morgenstunden des 25. Februar den im Präsidium abgestimmten Redetext vorzutragen, Fragen wurden nicht zugelassen.

QuellentextChruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag vom 25. Februar 1956

Genossen! Im Bericht des Zentralkomitees der Partei an den XX. Parteikongreß, in einer Anzahl von Reden der Parteitkongreßdelegierten und schon zuvor auf Plenarsitzungen des ZK der KPdSU ist vieles über den Persönlichkeitskult und seine schädlichen Folgen gesagt worden.
Nach dem Tode Stalins leitete das ZK der Partei eine Aufklärungspolitik ein, um mit zwingender Konsequenz nachzuweisen, daß es unzulässig und dem Geiste des Marxismus-Leninismus zuwider ist, eine Person herauszuheben und sie zu einem Übermenschen zu machen, der gottähnliche, übernatürliche Eigenschaften besitzt, zu einem Menschen, der angeblich alles weiß, alles sieht, für alle denkt, alles kann und in seinem ganzen Verhalten unfehlbar ist. Ein solcher Glaube an einen Menschen, und zwar an Stalin, ist bei uns viele Jahre lang kultiviert worden. [...]
Stalins Eigenmächtigkeit gegenüber der Partei und ihrem Zentralkomitee trat nach dem XVII. Parteitag, der 1934 abgehalten wurde, voll und ganz in Erscheinung.
Das ZK [...] hat eine Parteikommission […] beauftragt, Untersuchungen darüber anzustellen, wieso Massenunterdrückungen gegen die Mehrheit der Mitglieder und Kandidaten des ZK, die auf dem XVII. Parteitag der KPdSU (B) gewählt worden waren, möglich gewesen sind.
Die Kommission hat [...] festgestellt, daß Anklagen gegen Kommunisten konstruiert, falsche Anschuldigungen erhoben und schamlose Mißbräuche mit der sozialistischen Gesetzlichkeit geduldet wurden – was zum Tode unschuldiger Menschen führte. Es hat sich erwiesen, daß viele Aktivisten der Partei, der Sowjets und der Wirtschaft, die in den Jahren 1937 bis 1938 zu „Volksfeinden“ gestempelt worden waren, in Wirklichkeit niemals Feinde, Spione, Schädlinge und so weiter waren, sondern immer nur aufrechte Kommunisten. Sie wurden nur als Feinde gebrandmarkt und bezichtigten sich oft selbst, weil sie die barbarischen Folterungen nicht länger ertragen konnten (nach den Weisungen der Untersuchungsrichter – und Wahrheitsverfälscher), aller möglichen schweren und unwahrscheinlichen Verbrechen. Die Kommission hat dem Präsidium des Zentralkomitees umfangreiches Dokumentenmaterial über Massenrepressalien gegen die Delegierten des XVII. Parteitags und gegen Mitglieder des Zentralkomitees, die auf diesem Parteitag gewählt worden waren, unterbreitet. [...]
Es wurde festgestellt, daß von den auf dem XVII. Parteitag gewählten 139 Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees der Partei 98 Personen, das sind 70 Prozent, in den Jahren 1937 und 1938 verhaftet und liquidiert wurden. (Entrüstung im Saale.)
Wie war die Zusammensetzung der Delegierten des XVII. Parteitags? Es ist bekannt, daß 80 Prozent der stimmberechtigten Delegierten dieses Parteitags in den Jahren der Verschwörung vor der Oktoberrevolution und während des Bürgerkriegs, also vor 1921, der Partei beigetreten waren. Nach der gesellschaftlichen Herkunft handelt es sich bei der Masse der Delegierten des XVII. Parteitags um Arbeiter (60 Prozent der Stimmberechtigten).
Schon aus diesem Grunde mußte es unfaßbar scheinen, daß ein Parteitag mit einer solchen gesellschaftlichen Struktur ein Zentralkomitee gewählt haben soll, daß in der Mehrheit aus Parteifeinden bestand. Der einzige Grund, warum 70 Prozent aller Mitglieder und Kandidaten des Zentralkomitees als Feinde der Partei und des Volkes angeprangert wurden, war der, daß man Verleumdungen gegen sie vorbrachte, falsche Anschuldigungen gegen sie konstruierte und die revolutionäre Gesetzlichkeit in unzulässiger Weise aushöhlte.
Das gleiche Schicksal ereilte nicht nur die Mitglieder des Zentralkomitees, sondern auch die Mehrzahl der Delegierten des XVII. Parteitags. Von 1966 Stimmberechtigten oder beratenden Delegierten wurden 1108 Personen, also über die Hälfte aller Delegierten, unter der Beschuldigung gegenrevolutionärer Verbrechen verhaftet. Allein diese Tatsache beweist, wie absurd, fantastisch und widersinnig die Beschuldigungen wegen gegenrevolutionärer Verbrechen waren, die, wie wir jetzt sehen können, der Mehrheit der Delegierten des XVII. Parteitags zur Last gelegt wurden. (Entrüstung im Saale.) [...]
Dies war das Ergebnis des Machtmißbrauchs Stalins, der […] mit den Mitteln des Massenterrors gegen die Parteikader vorzugehen begann. [...]
Viele Tausende ehrlicher und unschuldiger Kommunisten kamen infolge dieser ungeheuerlichen Rechtsbeugung ums Leben, weil jedes noch so verleumderische „Geständnis“ akzeptiert wurde und weil man Selbstbeschuldigungen und Beschuldigungen anderer Personen durch Gewaltanwendung erpreßte. [...]
Dem NKVD wurde die niederträchtige Praxis gestattet, Listen von Personen zusammenzustellen, für deren Fälle das oberste Militärgericht zuständig war und bei denen die Urteile im voraus feststanden. [...] In den Jahren 1937 bis 1938 wurden 383 solcher Listen mit den Namen vieler Tausender von Tausenden Partei-, Sowjet-, Komsomol-, Armee- und Wirtschaftsfunktionären Stalin zugesandt. Und diese Listen wurden von ihm gebilligt.
Ein großer Teil dieser Urteile wird gegenwärtig überprüft und ein großer Teil von ihnen aufgehoben, weil sie unbegründet sind und auf Fälschungen beruhen. Ich brauche hier nur zu erwähnen, daß seit 1954 der Militärsenat des Obersten Gerichts 7679 Personen rehabilitiert hat, die zum großen Teil erst nach ihrem Tode rehabilitiert werden konnten. [...]
Die Tatsachen zeigen, daß Mißbräuche auf Stalins Befehl und unter Mißachtung der Parteinormen und der sowjetischen Gesetzlichkeit erfolgten. […] Da er eine unbegrenzte Macht besaß, war er in höchstem Maße selbstherrlich und drückte jedermann physisch und moralisch an die Wand. So entstand eine Situation, in der man seinen eigenen Willen nicht mehr zum Ausdruck bringen konnte. [...]
Genossen! Wir müssen den Persönlichkeitskult entschlossen abschaffen, ein für allemal; wir müssen die entsprechenden Konsequenzen ziehen, und zwar sowohl hinsichtlich der ideologisch-theoretischen als auch der praktischen Arbeit. […]
Genossen! Der XX. Parteikongreß der KPdSU (B) war ein erneuter kraftvoller Beweis für die unerschütterliche Einheit unserer Partei, ihrer Verbundenheit mit dem Zentralkomitee, ihres entschlossenen Willens, die große Aufgabe des Aufbaus des Kommunismus zu vollbringen. (Tosender Beifall.) Und die Tatsache, daß wir die mit der Überwindung des dem Marxismus-Leninismus fremden Persönlichkeitskults verbundenen Grundprobleme in all ihren Formen und auch das Problem der Liquidierung seiner lästigen Folgen dargelegt haben, ist ebenfalls ein Beweis für die große moralische und politische Kraft unserer Partei.

Chruschtschow gegen Stalin, Heft 5 der Hessischen Landeszentrale für Heimatdienst, Wiesbaden o. J. (1956); zit. nach Reinhard Crusius / Manfred Wilke (Hg.), Entstalinisierung. Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen, Frankfurt am Main 1977, Seite 487, 497-499, 508 f., 536 f.

Chruschtschow thematisierte den Terror gegen die Delegierten des XVII. Parteitags, von denen Stalin 70 Prozent ermorden ließ, die Deportation der Ethnien, den Personenkult und Stalins Fehlentscheidungen im Krieg, die Tausende von Soldaten mit dem Leben bezahlt hatten. Tabu waren die Entkulakisierung und Kollektivierung sowie die Schauprozesse. Chruschtschow unterteilte Stalin in einen "guten" Parteiführer, der bis 1934 das Land aufgebaut hätte, und einen "schlechten", der auf Grund persönlicher Charakterzüge ab 1935 begann, das Land zu terrorisieren. "Wer versuchte, sich gegen grundlose Verdächtigungen und Anschuldigungen zur Wehr zu setzen, fiel den Repressalien zum Opfer."

Die "Geheimrede", wie sie im Westen genannt wurde, war nur für die Parteiöffentlichkeit bestimmt. Das Präsidium ließ den Text als gedruckte Broschüre an alle Parteizellen im ganzen Land verteilen, die in Betrieben, Fabriken und anderen Organisationen Lesungen durchführten. Da auch auf diesen Veranstaltungen keine Diskussion zugelassen war, wurde das ZK in Moskau mit Tausenden von Anfragen überflutet, wie der Terror möglich gewesen sei und warum die Präsidiumsmitglieder nichts unternommen hätten. Angesichts dieser Entwicklung entschloss sich das Präsidium, am 28. März eine Zusammenfassung in der Prawda zu veröffentlichen. Darin rief die Partei auf, die "sozialistische Rechtsstaatlichkeit" und die "Kollektivführung" in allen Bereichen der Gesellschaft wieder herzustellen. Sie ermutigte zu "Kritik und Selbstkritik", um den Personenkult zu überwinden, warnte aber gleichzeitig eindringlich, diesen Prozess zur Diffamierung von Staat und Partei zu missbrauchen. Tatsächlich kam es zu Entlassungen, Parteiausschlüssen und Haftstrafen von fünf Jahren für Personen, die nach den Lesungen offen das politische System in Frage gestellt hatten. Obwohl also eine rückhaltlos offene und grundlegende Debatte über die Ursachen des Stalinismus unterdrückt wurde, ließ auch die reduzierte Form der "geheimen" Abrechnung mit Stalin viele Menschen wie den Dissidenten Lew Kopelew (1912-1997) wieder hoffen: "In den ersten Monaten und Jahren nach dem Kongress lebten wir mit einem neuen Freiheitsgefühl, das sich vorher nur in Versen finden ließ."

Die Folgen der "Entstalinisierung" in Ostmitteleuropa

Nach dem Willen des Moskauer Parteipräsidiums sollte die Entstalinisierung nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in den "Bruderstaaten" vollzogen werden. Im Frühjahr 1953 diskutierten die Präsidiumsmitglieder wiederholt, wie mit dem Sorgenfall DDR zu verfahren sei. Doch die Ereignisse überstürzten sich: Der "Neue Kurs" war noch gar nicht umgesetzt, als es dort am 16. Juni 1953 in Folge von erhöhten Arbeitsnormen landesweit zu Arbeiterprotesten kam. Die DDR-Führung forderte, Moskau möge seine Panzer in Gang setzen. Aber das Moskauer Parteipräsidium ließ sich erst dazu überreden, als der Aufstand am 17. Juni anhielt. Während zuvor im Präsidium offen die Aufgabe der DDR diskutiert worden war, führte der Aufstand allen die möglichen Konsequenzen vor Augen: Machtverlust, Kontrollverlust, Imageverlust, ganz zu schweigen von dem befürchteten Dominoeffekt. Chruschtschow hatte zudem, als er Berija den Beinahe-Verlust der DDR anlastete, ein Exempel statuiert, das auch für ihn gelten würde: Wer ein Land verlor, verlor auch seinen Posten.

Vor diesem Hintergrund entwickelten sich die Ereignisse 1956 in Polen und Ungarn, die beide aus Moskau gedrängt wurden, ebenfalls eine Entstalinisierung einzuleiten. Als es in Folge von Amnestien und des anlaufenden Reformprozesses in Polen im Oktober zu spontanen antirussischen Demonstrationen kam und sich die polnische Parteiführung weigerte, Chruschtschow in ihre Entscheidungen miteinzubeziehen, griff dieser zu einer Doppelstrategie: Er flog selbst nach Warschau und gab gleichzeitig den Marschbefehl für die im Lande stehenden sowjetischen Truppen. Die heftig geführten Verhandlungen brachten einen Minimalkonsens: Chruschtschow rief die Truppen zurück, und die polnischen Genossen verpflichteten sich, den Warschauer Pakt nicht zu verlassen.

Auch in Ungarn bildeten erste Amnestien und Liberalisierungen den Nährboden für offenen Protest. Am 23. Oktober wuchs sich eine friedliche Großversammlung zu einem bewaffneten Volksaufstand aus, dem das riesenhafte Stalindenkmal in Budapest zum Opfer fiel. Die von der ungarischen Partei angeforderte militärische Unterstützung aus Moskau rückte am 24. Oktober mit rund 30.000 Soldaten und 1100 Panzern in Budapest ein. Als der neue Parteichef Imre Nagy (1896-1958) den Austritt aus dem Warschauer Pakt erklärte, entschloss sich das Moskauer Präsidium nach Beratung mit den KP-Führern Polens, Jugoslawiens und Chinas, mit aller Gewalt durchzugreifen. Der Preis für den Erhalt des Warschauer Pakts waren 20.000 tote Ungarn und 1500 tote sowjetische Soldaten.

Ein Vergleich der Ereignisse in der DDR, in Polen und Ungarn führt zu folgenden Erkenntnissen: Anlass für die Aufstände war jeweils die Reforminitiative aus Moskau. Dieses wiederum brachte keineswegs sofort selbst die Gewaltanwendung ins Spiel, sondern reagierte auf Anforderung. Es gab keinen Automatismus, nach dem ein militärisches Eingreifen vorprogrammiert war. Der Verlust eines "Bruderstaates", insbesondere der Austritt aus dem Warschauer Pakt, war für das Parteipräsidium nicht hinnehmbar und hätte das Schicksal des verantwortlichen Parteiführers besiegelt.

Die Wiederbelebung der Gesellschaft

Der russische Schriftsteller und Dissident Andrej Bitow (*1937) sagte über die neue Zeit, Chruschtschow habe den Sowjetbürgern das Lachen wiedergebracht. Während zuvor jeder, der Stalin verunglimpfte, als "Konterrevolutionär" verurteilt wurde, entstanden schnell Hunderte von Witzen über Chruschtschow, über die ungestraft gelacht werden konnte, wie über diesen: "Wie sich die Zeiten geändert haben! Sagte man 1952, dass Stalin ein Dummkopf sei, dann wurde man noch am selben Tag erschossen. Sagt jemand heute, dass Chruschtschow ein Dummkopf sei, dann wird er zu acht Jahren Haft wegen Verrats eines Staatsgeheimnisses verknackt!"

Dennoch wurde die Entstalinisierung in der sowjetischen Gesellschaft keineswegs einhellig positiv aufgenommen, denn die GULag-Rückkehrer sorgten für eine doppelte Verunsicherung hinsichtlich früherer Feindbilder und einer vermeintlichen aktuellen Bedrohung der sozialen Ordnung. In dieser Situation wurden 1955 die Nachbarschaftspatrouillen und Kameradschaftsgerichte der 1930er-Jahre wiederbelebt. Diese staatlich angeordnete Maßnahme trug die Mehrzahl der Bevölkerung mit, weil sie ihr subjektives Sicherheitsgefühl stärkte. Ihr Misstrauen richtete sich auch gegen die bunten Stiljagi, gegen Ruhestörer, die man "Hooligans" schimpfte, und Herumlungerer, die als "Parasiten" geächtet wurden.

QuellentextWas ist Kommunismus?

Aus dem Parteiprogramm der KPdSU, angenommen auf dem XXII. Kongress der KPdSU am 31. Oktober 1961
"Kommunismus ist eine klassenlose Gesellschaftsordnung, in der die Produktionsmittel einheitliches Volkseigentum und sämtliche Mitglieder der Gesellschaft sozial völlig gleich sein werden, in der mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auf der Grundlage der ständig fortschreitenden Wissenschaft und Technik auch die Produktivkräfte wachsen und alle Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums voller fließen werden und wo das große Prinzip herrschen wird: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Der Kommunismus ist eine hochorganisierte Gesellschaft freier arbeitender Menschen von hohem Bewußtsein, in der gesellschaftliche Selbstverwaltung bestehen wird, in der die Arbeit zum Wohle der Gesellschaft zum ersten Lebensbedürfnis für alle, zur bewußt gewordenen Notwendigkeit werden und jeder seine Fähigkeiten mit dem größten Nutzen für das Volk anwenden wird." [...]
Die Aufgaben des kommunistischen Aufbaus werden kontinuierlich in mehreren Etappen gelöst werden.
"Im nächsten Jahrzehnt" (1961-1970) wird die Sowjetunion beim Aufbau der materiell-technischen Basis des Kommunismus die USA – das mächtigste und reichste Land des Kapitalismus – in der Produktion pro Kopf der Bevölkerung überflügeln; […].
"Als Ergebnis des zweiten Jahrzehnts" (1971-1980) wird die materiell-technische Basis des Kommunismus errichtet, die für die gesamte Bevölkerung einen Überfluß an materiellen und kulturellen Gütern sichert; die Sowjetgesellschaft wird unmittelbar darangehen, das Prinzip der Verteilung nach den Bedürfnissen zu verwirklichen [...]. Somit "wird in der UdSSR die kommunistische Gesellschaft im wesentlichen aufgebaut sein". […]
Charakteristisch für den umfassenden Aufbau des Kommunismus ist "das weitere Anwachsen der Rolle und Bedeutung der Kommunistischen Partei" als der führenden und lenkenden Kraft der Sowjetgesellschaft. […] "Unter der erprobten Führung der kommunistischen Partei, unter dem Banner des Marxismus-Leninismus hat das Sowjetvolk den Sozialismus aufgebaut.
Unter der Führung der Partei, unter dem Banner des Marxismus-Leninismus wird das Sowjetvolk die kommunistische Gesellschaft errichten.
Die Partei verkündet feierlich: die heutige Generation der Sowjetmenschen wird im Kommunismus leben!"

Programm der kommunistischen Partei, angenommen auf dem XXII. Parteikongreß (1961), in: Boris Meißner, Das Parteiprogramm der KPdSU 1903-1961. Dokumente zum Studium des Kommunismus. Hg. v. Bundesinstitut zur Erforschung des Marxismus-Leninismus (Institut für Sowjetologie), Band 1, Verlag Wissenschaft und Politik Köln 1962, Seite 186, 188, 240, 244

Die verstärkte Sozialkontrolle war aber nur ein Bestandteil von Chruschtschows erzieherischem Gesellschaftsprojekt. Er bemühte sich, weite Kreise der Bevölkerung in die Diskussion von anstehenden Reformen miteinzubeziehen. "Lebendige Verbindung zu den werktätigen Massen" lautete das von ihm ausgegebene Motto, mit dem er Partei, Gewerkschaften, Betriebs- und Hausversammlungen wiederzubeleben versuchte. Jeder sollte sich für seinen Bereich verantwortlich fühlen und unerschrocken mitdiskutieren. So wurden 1958 die Bildungsreform, 1959 die Justizreform und 1961 das neue Parteiprogramm öffentlich beraten.

Einerseits diskutierte die Öffentlichkeit auf Versammlungen und in Zeitungen, andererseits die jeweilige Fachgemeinschaft, deren Vertreter Chruschtschow zu Hunderten zu den ZK-Sitzungen dazulud, um ihre Meinung zu hören und seine gegebenenfalls zu ändern.

Entstalinisierung der Literatur

Entscheidendes tat sich in der Literatur. Sie war der Ort, an dem vieles benannt werden konnte, was offiziell immer noch ein heikles Thema war: Stalins Terror, der GULag und die Heimkehr aus dem Lager. Wer sich mit dem Schrecken der Stalinzeit auseinandersetzen wollte, der griff nicht zur Zeitung oder zu Geschichtsbüchern, sondern zu Literaturzeitschriften, Romanen oder Memoiren, in denen Zeitzeugen von ihren Erfahrungen während des Großen Terrors berichteten. Gleichzeitig musste sich die Literatur selbst entstalinisieren: 1954 tagte der Schriftstellerkongress zum zweiten Mal nach 1934, um sich von der Stalinzeit zu befreien, deren schwülstige, pathetische, ideologiegeschwängerte Literatur niemand mehr lesen wollte. Der Vorsitzende des Verbandes beging 1956 Selbstmord. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: "Ich sehe keine Möglichkeit mehr weiterzuleben, da die Kunst, der ich mein Leben verschrieben habe, von der anmaßenden Ignoranz der Parteiführung unwiderruflich zugrunde gerichtet worden ist. In einer Zahl, die den zaristischen Satrapen [Statthaltern – Anm. d. Red.] sogar im Traum nicht eingefallen wäre, wurden die besten Kader der Literatur physisch vernichtet oder kamen durch die verbrecherische Duldungspolitik der Machthaber um."

Der Schriftsteller Wladimir Pomeranzew (1907-1971) wurde 1953 über Nacht berühmt, als er seine Kollegen zur "Aufrichtigkeit in der Literatur" aufrief und anprangerte, so wie die meisten schrieben, würde nur auf Versammlungen gesprochen: "Wenn ein Traktorist seiner Liebsten einen Antrag macht, dann doch, weil er sie liebt, und nicht, weil er ein noch besserer Arbeiter sein möchte!" Berühmt wurde der Roman des Schriftstellers Ilja Ehrenburg (1891-1967) "Tauwetter", der im September 1954 binnen weniger Stunden ausverkauft war und der Epoche seinen Namen gab. "Tauwetter" erzählt leidenschaftlich vom Ende der Stalinzeit, von der Freilassung der Verhafteten, vom Ende des Bürokratismus, der "Phrasendrescherei" und "Schönfärberei", von echter Liebe und von den Menschen, die bereit sind, für eine Idee zu leben und zu sterben.

Allerdings blieben der "Sozialistische Realismus" (Sozrealismus) sowie eine positive Darstellung des Helden und der sowjetischen Geschichte weiterhin Gebot für alle Schriftsteller. Das galt besonders für Erzählungen, die während oder kurz nach dem Aufstand in Ungarn erschienen, als die Partei versuchte, allzu kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Boris Pasternak (1890-1960) konnte 1957 seinen Roman "Doktor Schiwago" über die Wirren und Abgründe von Revolution und Bürgerkrieg nur im Ausland veröffentlichen. Als er 1958 dafür den Literaturnobelpreis erhielt, gaben Partei und Schriftstellerverband den Anstoß zu einer Schmutzkampagne gegen ihn, die mit zu seinem frühen Tod 1960 führte.

Eine Ausnahme war die Erzählung von Alexander Solschenizyn "Ein Tag des Iwan Denissowitsch", die 1962 auf persönliche Intervention Chruschtschows hin erscheinen konnte. Obwohl die triste autobiografische Erzählung − Solschenizyn war von 1945 bis 1953 Häftling − über einen einzigen Tag im Arbeitslager weder inhaltlich noch sprachlich den Normen des Sozrealismus entsprach, kam sie Chruschtschow im Zuge seiner zweiten Entstalinisierungskampagne nach dem XXII. Parteitag 1961 gelegen.

QuellentextEin Tag des Iwan Denissowitsch

Schuchow blickte schweigend zur Decke. Er wusste selber nicht mehr, ob er die Freiheit wollte oder nicht. Anfangs wünschte er sie sich sehr, zählte jeden Abend nach, wie viele Tage von seiner Haftzeit schon vergangen waren, wie viele er noch vor sich hatte. Dann war er es leid geworden. Und dann stellte sich heraus, dass sie die Politischen nicht nach Hause lassen, sondern in die Verbannung schicken. Und wo das Leben für ihn erträglicher ist, hier oder dort, weiß man nicht.
Er möchte nur frei sein, um nach Hause zu können.
Aber nach Hause lassen sie einen nicht…
Aljoschka lügt nicht, seiner Stimme und seinen Augen merkt man an, daß er gern im Gefängnis sitzt.
"Sieh, Aljoschka", erklärte Schuchow ihm, "bei dir geht’s auf: Christus hat dir befohlen, im Gefängnis zu sitzen, für Christus bist du jetzt hier. Aber wofür sitz’ ich? Dafür, daß sie sich einundvierzig nicht richtig auf den Krieg vorbereitet hatten? Dafür? Was kann ich dafür?"
"Heute ist ja gar kein zweiter Appell mehr …", knurrte Kilgas von seiner Pritsche.
"Ja-a!" erwiderte Schuchow, "das sollte man mit Kohle in den Kamin schreiben, daß heute keine zweite Kontrolle ist." Und er gähnte: "Ich glaube, ich schlafe jetzt."
Da hörten sie durch die stille Baracke das Poltern des Bolzens an der Außentür. Aus dem Korridor kamen die beiden Häftlinge hereingelaufen, die die Filzstiefel hatten, und riefen:
"Zweiter Appell!"
Ihnen nach der Aufseher:
"Raus in die andere Hälfte!"
Ein paar hatten schon geschlafen! Sie brummten, räkelten sich, zogen die Filzstiefel über die Füße (die wattierten Hosen zog keiner aus – ohne sie würde man unter der dünnen Decke vor Kälte erstarren).
"Die verdammten Hunde!" schimpfte Schuchow. Aber er ärgerte sich nicht besonders, weil er noch nicht geschlafen hatte.
Caesar streckte seine Hand nach oben aus und legte ihm zwei Stück Kuchen, zwei Stückchen Zucker und eine runde Scheibe Wurst hin.
"Danke, Caesar Markowitsch", Schuchow beugte sich in den Durchgang hinunter, "aber jetzt geben Sie mir Ihren Sack zur Sicherheit nach oben unter das Kopfkissen." (Von oben zieht man ihn nicht so schnell herunter, und wer würde bei Schuchow etwas suchen?)
Caesar gab Schuchow seinen weißen, zugebundenen Sack nach oben, Schuchow schob ihn unter die Matratze und wartete, bis die meisten draußen waren, damit er nicht so lange barfuß im Korridor stehen musste. Aber der Aufseher raunzte ihn an:
"Los, du da in der Ecke!"
Und Schuchow sprang gewandt auf den Boden, barfuß (seine Filzstiefel mitsamt den Fußlappen standen so gut auf dem Ofen – es wäre schade, sie noch einmal herunterzuholen!) Wie viele Hausschuhe hatte er schon genäht – immer nur für andere, für sich hatte er keine. Aber er war daran gewöhnt, es dauerte ja nicht lange.
Die Hausschuhe nehmen sie auch mit, wenn sie tagsüber welche finden. In den Brigaden, die ihre Filzstiefel zum Trocknen abgegeben hatten, ging es denen am besten, die Hausschuhe besaßen, die anderen mussten in ihren Fußlappen oder barfuß hinaus.
"Na los! Los!" knurrte der Aufseher.
"Ihr braucht wohl Prügel, ihr Viecher?" Der Barackenälteste kommt dazu. Sie trieben alle in die andere Hälfte hinüber, die letzten mussten in den Korridor. Schuchow stellte sich an die Wand neben der Latrine. Der Boden unter seinen Füßen war feucht, und aus dem Vorraum zog es eiskalt herein. Sie hatten alle hinausgejagt – noch einmal gingen der Aufseher und der Älteste durch die Baracke, um zu kontrollieren, ob sich niemand mehr dort versteckte, sich etwa in eine dunkle Ecke verdrückt hatte und schlief. Wenn einer fehlt, gibt es Ärger, und wenn einer zuviel gezählt wird, gibt es auch Ärger, dann können sie wieder von vorn anfangen. Sie gingen überall durch und kamen dann zur Tür zurück.
Erster, zweiter, dritter, vierter … jetzt ließen sie die Männer schnell einzeln passieren. Als achtzehnter zwängte sich Schuchow durch. Im Laufschritt zur Pritsche, den Fuß auf den Stützbalken und – schwupp! – war er oben.
Schön. Die Füße wieder in den Westenärmel, die Decke darüber, obendrauf die Wattejacke, und schlafen! Jetzt werden sie alle von drüben in unsere Hälfte schicken, aber das stört uns nicht.
Caesar kam zurück. Schuchow gab ihm den Sack hinunter.
Aljoschka kam. Ungeschickt ist er, will es allen recht machen, aber er versteht’s nicht, sich etwas nebenbei zu verdienen.
"Da, Aljoschka!", und er gibt ihm ein Stück Kuchen ab. Aljoschka strahlt.
"Danke. Sie haben doch selber nichts!"
"Iß schon!"
Wir haben nichts, deswegen verdienen wir uns immer was dazu.
Und jetzt das Stückchen Wurst in den Mund! Die Zähne hinein! Kauen! Dieser Fleischgeruch! Richtiger Fleischsaft! Jetzt war’s im Bauch.
Schon ist die Wurst weg.
Das übrige, beschloß Schuchow, morgen vor dem Ausmarsch.
Er zog sich die Decke über den Kopf, die dünne, ungewaschene Decke, und hörte nicht mehr hin, wie sich die Häftlinge aus dem anderen Raum zwischen den Pritschen zusammendrängten: warteten, daß sie abgezählt wurden.
Schuchow schlief vollkommen zufrieden ein. Er hatte heute viel Glück gehabt: er mußte nicht in den Bunker, die Brigade wurde nicht in die Sozsiedlung abkommandiert, zum Mittagessen hatte er sich einen Schlag Grütze geschnorrt, der Brigadier hatte gute Prozente für sie herausgeschlagen, das Mauern hatte Schuchow Spaß gemacht, beim Filzen war er mit dem Sägeblatt durchgekommen, abends hatte er sich bei Caesar etwas verdient und noch Tabak gekauft. Und war nicht krank geworden, hatte sich wieder aufgerappelt.
Ein Tag war vergangen, durch nichts getrübt, ein fast glücklicher Tag.
So sahen die dreitausendsechshundertdreiundfünfzig Tage seiner Haftzeit vom Wecksignal bis zum Schlußappell aus.
Wegen der Schaltjahre waren es drei Tage mehr …

Alexander Issajewitsch Solschenizyn, Ein Tag des Iwan Denissowitsch, Erzählung, Übersetzt von Christoph Meng, Coron Verlag, o. J., Seite 194 ff. © Les éditions Fayard, Paris

Erneuter Kampf gegen die Kirche

Ulrike Huhn
Die Aufbrüche in Gesellschaft und Künsten gingen einher mit einer Neuauflage der antireligiösen Politik der 1920er- und 1930er-Jahre. In mehreren Wellen im Sommer 1954 und seit 1958 zog die Staats- und Parteiführung gegen die Kirche zu Felde, ließ Kirchen und Klöster schließen, verunglimpfte Geistliche und gläubige Christen in der Presse, ließ prominente Kirchenvertreter öffentlichkeitswirksam von ihrem Glauben abschwören und schränkte den Spielraum von Kirche und Gemeinden immer mehr ein. So war es Kindern verboten, Gottesdienste zu besuchen, weil diese nun als "religiöse Propaganda" galten und damit verfassungswidrig waren. Auch die durch Chruschtschows agrarpolitische Maßnahmen forcierte Landflucht ließ viele Dorfkirchen veröden, während in den rasch wachsenden Städten grundsätzlich keine Kirchen eröffnet wurden. Oft sorgten Großmütter dafür, dass ihre Enkelkinder während der Sommerferien in den Dörfern getauft wurden, nicht selten ohne das Wissen der Eltern.

Paradoxerweise übertraf Chruschtschow mit dieser neuen Religionspolitik an Strenge seinen Vorgänger Stalin, unter dem seit 1943 mehr als 14.000 Kirchen geöffnet worden waren. Chruschtschow konnte damit sowohl die Hardliner befriedigen als auch frühere taktische Zugeständnisse zurücknehmen. Seine antireligiösen Kampagnen sind als Teil einer Modernisierungsmission und der tiefen Überzeugung zu verstehen, dass der Kommunismus in kurzer Zeit zu erreichen sein würde.

Allerdings sorgte die neue, offenere gesellschaftliche Atmosphäre dafür, dass das Kirchenvolk und manche Geistliche die Einschnitte nicht mehr widerspruchslos hinnahmen. Vielerorts protestierten sie gegen die Kirchenschließungen, verfassten Petitionen und reisten nach Moskau, um die Schließungen zu verhindern. Sogar der regimefreundliche Metropolit Nikolaj (Jaruschewitsch, 1892-1961) äußerte sich in der Öffentlichkeit kritisch über Kirchenverfolgungen in der Sowjetunion und verlor daraufhin 1960 sein hohes Kirchenamt. Im Juli 1961 stimmte unter staatlichem Druck ein Bischofskonzil einer Kirchenreform zu, die den Handlungsspielraum der Priester in den Gemeinden weiter einschränkte. Kritische Intellektuelle sahen die Russisch-Orthodoxe Kirche daraufhin als Marionette in den Händen des Staates und als Institution, die ihre moralische Autorität schon lange verloren hatte.

Neue Utopien und Sozialprogramme

Das Präsidium hatte neben und mit der Entstalinisierung zwei andere Großaufgaben zu erfüllen: die Bevölkerung zu ernähren und ihr anstelle des Stalinismus neue Ideen zu bieten, für die sie sich begeistern konnte. Der Kommunismus sollte kein fernes Ziel mehr sein, sondern in absehbarer Zeit erreichbar und schon jetzt den Sowjetmenschen erste Früchte ihrer harten Arbeit liefern. Chruschtschow ließ in einer seiner mobilisierenden Massendiskussionen ein neues Parteiprogramm ausarbeiten und erklärte bei dessen Verabschiedung auf dem XXII. Parteitag 1961, dass der Kommunismus im Jahr 1980 errichtet sein werde. (siehe a. Seite 10)

Reform der Landwirtschaft

Noch unter Stalin hatte Chruschtschow eine Agrarkommission geleitet, die im Dezember 1952 zu dem Schluss kam, um die Bevölkerung mit mehr Fleisch zu versorgen, müsse der Staat den Bauern mehr bzw. überhaupt Geld zahlen: für Fleisch das Drei- bis Vierfache, für Milchprodukte 50 Prozent mehr. Stalin hatte die Kommission verhöhnt. Sofort nach seinem Tod senkte das Parteipräsidium die Steuern und Quoten der Pflichtablieferungen für die Bauern, und es leitete eine Stärkung der Kolchosen ein, indem es viele unrentable Kleinbetriebe zu Großbetrieben zusammenlegte. Dadurch sank die Zahl der Kolchosen von 91.200 (1953) auf 67.700 (1958). Die Getreideernte stieg im gleichen Zeitraum um 75 Prozent. Obwohl 1957 die Bauern für ihr Getreide immerhin 266 Prozent des Preises erhielten, den sie 1952 bekommen hatten, lagen die Preise aber weiterhin unter den Produktionskosten. Chruschtschow wollte die Bauern jedoch nicht nur materiell motivieren, sondern sie auch in den gesellschaftlichen Umgestaltungsprozess miteinbeziehen. Dafür löste er 1953 die lokalen Behörden des Landwirtschaftsministeriums auf und unterstellte die Kolchosen den Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS), die, seit den 1930er-Jahren eingeführt, das landwirtschaftliche Gerät an die Bauern verliehen. Aus den Städten entsandte er 20.000 technische Spezialisten und Parteimitglieder aufs Land, die die Bauern in technischen und weltanschaulichen Fragen beraten sollten. Doch bereits 1958 löste er die MTS auf und übertrug die Verantwortung für den Maschinenpark den Kolchosen. Diese mussten die Geräte, obwohl häufig nutzlos und völlig veraltet, zu teilweise überhöhten Preisen kaufen. Was als Maßnahme zur Stärkung der Eigenverantwortung gedacht gewesen war, hatte somit letztlich Chaos und Ratlosigkeit verursacht.

Die Versorgung der Bevölkerung mit ausreichend Lebensmitteln blieb eines der dringendsten Probleme. 1957 erklärte Chruschtschow, die USA in Erzeugung von Fleisch, Milch und Butter einholen zu wollen. Das allerdings hätte eine Verdreifachung der Fleischproduktion bedeutet. Um die Tiermast zu vergrößern, forderte Chruschtschow, den Anbau von Futtermais von 3,5 Millionen Hektar 1953 auf mindestens 28 Millionen Hektar im Jahr 1960 auszubauen. Wegen seiner Schwäche für Mais wurde Chruschtschow in der Sowjetunion deshalb als "Mais-Mann" (russ.: kukurusnik) verspottet.

Die Neulandkampagne

Mit der Neulandkampagne wollte Chruschtschow an drei Fronten gewinnen: Getreide im großen Stil produzieren, den Menschen eine neue Utopie geben und im Machtkampf gegen Malenkow auftrumpfen. Ende 1953 schlug er vor, Millionen von Hektar Land in Zentralasien und Westsibirien, wo kaum Regen fiel, Stürme wüteten oder das halbe Jahr Schnee lag, urbar zu machen. Dafür legte er eine große Propagandakampagne auf, die junge Männer und Frauen wie in den 1930er-Jahren aufrief, in die Steppe zu ziehen und ihre neue Welt selbst zu schaffen.

Als die kasachische Parteiführung einwandte, das Land sei dafür nicht geeignet, setzte er eine neue Parteiführung ein. Sie berief sich auf den Genetiker Trofim Lysenko (1898-1976), der 1954 erklärt hatte, dass der Weizen sich an die Bedingungen in Kasachstan anpassen würde. Tatsächlich schienen die Ernten Chruschtschow und Lysenko zunächst Recht zu geben: Von 1954 bis 1960 konnten 42 Millionen Hektar Land neu bestellt werden. Das war ein Nettozuwachs von 33 Millionen Hektar. Doch einer Rekordernte von 125 Millionen Tonnen 1956 folgte 1957 ein Einbruch auf 102,6 Millionen Tonnen. Das ökologische Problem bestand darin, dass die kargen Böden der Steppe großer Erosion ausgesetzt waren, sodass es nur eine Frage der Zeit war, bis der fruchtbare Boden fortgeweht war. Dazu gesellte sich das ideologische Problem, dass Lysenko eine frühe Aussaat empfahl, weil er glaubte, der Weizen werde durch den Frost "abgehärtet". Beides summierte sich im Jahr 1963 zu einer katastrophalen Missernte; 1965 kam es zu solchen Stürmen, dass sich manche Landstriche bis heute davon nicht erholt haben.

Lohn- und Rentenreform

1955 wurde der Mindestlohn von zehn Rubel auf 30 Rubel verdreifacht. Industriearbeiter wurden in sechs Lohngruppen bezahlt – je nach Ausbildung, Qualifizierungsgrad und Art der Arbeit. 1962 erhielten Beschäftigte in der Leicht- und Lebensmittelindustrie durchschnittlich 81 Rubel im Monat, während Bergleute Spitzenlöhne von bis zu 230 Rubeln erzielten. Als Elite galten aber nach wie vor die Ingenieurinnen und Ingenieure sowie das Führungspersonal, die 1955 durchschnittlich zwei Drittel mehr als ihre Arbeiter verdienten.

Am untersten Ende fanden sich nach wie vor die Kolchosbäuerinnen und -bauern, auch wenn sie unter Chruschtschow erstmals überhaupt einen Lohn erhielten. Bis 1965 wurde ihr Lohn in "Arbeitstagen" berechnet, deren Wert von der Produktivität der Kolchose abhing und zwischen 26 und 52 Rubel lag. Allerdings wurde selbst dieser Lohn oft nicht ausgezahlt; entscheidend war daher der Naturallohn, den die Kolchosbauern unmittelbar nach der Ernte als "Vorschuss" erhielten. Angesichts der unsicheren Auszahlung sank die Arbeitsdisziplin nach Erhalt des Getreideanteils erheblich. Grundsätzlich war und blieb das Problem, dass die Bauern sich angesichts der miserablen Entlohnung ganz auf die Bestellung ihres eigenen Hoflands konzentrierten, das ihre Versorgung und kleinere Einnahmen auf den nicht preisgebundenen Kolchosmärkten sicherte.

Im Sommer 1956, als die Debatte um die "Geheimrede" auf ihren Höhepunkt zusteuerte, führte der Oberste Sowjet eine Mindestrente von 30 Rubeln im Monat für Arbeiterinnen ab dem 55. Lebensjahr, für Arbeiter ab dem 60. Lebensjahr ein.

Den Kolchosbauern wurde erst im Juli 1964 eine Mindestrente von zwölf Rubeln zugesprochen, die Frauen ab 60, Männer ab 65 bezogen. Beide Reformen sollten das Arbeitsleben attraktiver gestalten und die Fürsorge von Partei und Staat unter Beweis stellen.

Kampf gegen "Sozialschmarotzer"

Alexandra Oberländer
Das Recht auf Arbeit in der Sowjetunion hatte eine Kehrseite: die Pflicht zur Arbeit. Wer in der Sowjetunion nicht arbeitete, galt als Sozialschmarotzer, als tunejadec, als "Parasit". Die Repressionen gegen vermeintliche "Parasiten" waren keineswegs eine ausschließlich staatliche Angelegenheit. Im Gegenteil: Die arbeitende Bevölkerung unterstützte aktiv die Sanktionierung und Ächtung von Arbeitsverweigerung. Im Rahmen der Idee, die Gesellschaft erziehen zu müssen, kam es vor allem im unmittelbaren Anschluss an die "Geheimrede" Chruschtschows 1956 zu einer Kampagne gegen vermeintliche Arbeitsverweigerinnen und -verweigerer, die seitens der Bevölkerung streckenweise enthusiastisch oder als längst überfällig begrüßt wurde. Fabrikkollektive forderten geschlossen härtere Sanktionen gegen vermeintliche Faulenzer. Gelegentlich schien es so, als würden Staat und Partei zu Exekutoren eines Volkswillens, der die Gesetzgeber in seiner Unversöhnlichkeit selbst überraschte. Das Resultat dieser zum Teil in der sowjetischen Presse geführten Debatte um ein konsequentes Vorgehen gegen Arbeitsverweigerer war ein 1961 verabschiedetes Gesetz. War die Gesetzesinitiative zunächst gegen sogenannte Parasiten gedacht, die es an sozialistischer (Arbeits-)Moral missen ließen, traf es dann häufig Andersdenkende. Politisch oder kulturell missliebige Personen, die keiner geregelten Arbeit nachgehen wollten oder konnten, mussten mit Verbannung an entfernte Orte des sowjetischen Imperiums rechnen.

"Chruschtschoby" – die Erfindung des Plattenbaus

Stalins Tod läutete auch in der Architektur das Ende des pompösen, sozialistischen Klassizismus, des "Zuckerbäckerstils" ein. Etwas Modernes, Nüchternes, schnell und massenhaft zu Errichtendes musste her. Ebenfalls im "heißen" Sommer 1956 ließ Chruschtschow den massenhaften Wohnungsbau verkünden. Bereits 1954 hatte er auf der All-Unionskonferenz der Architekten den Baustil der Stalinzeit scharf verurteilt und ein flammendes Plädoyer für den standardisierten, schlichten Zweckbau gehalten. Der neue Slogan lautete: "Architekten in die Fabriken". Ziegelsteine wurden als Baumaterial durch gegossene, standardisierte Betonplatten ersetzt. Die Konstrukteure verabschiedeten sich vom Konzept der Innenhöfe und entwarfen den rundum offenen Wohnblock. Die Fassade wurde gesichtslos und die Wohnnormen auf ein Minimum zusammengeschrumpft. So wuchsen vollkommen gleichförmige Trabantenstädte, die oft nicht einmal eine Infrastruktur hatten und im Volksmund bald in Anlehnung an den russischen Begriff für "Slum" "chruschtschoby" genannt wurden. Dennoch war die Plattenbauwohnung sehr attraktiv, da die meisten Familien sich zu viert ein Zimmer in einer Kommunalwohnung teilten. Die Platte hatte fließend Wasser, Zentralheizung und ein eigenes Bad. Chruschtschow versprach jeder Familie ihre eigenen vier Wände – bis 1980; doch 1960 wohnten nur 40 Prozent aller Familien in einer abgeschlossenen Wohnung.

Der Aufstand von Nowotscherkask 1962

Das Desaster der Neulandkampagne, die versäumte Modernisierung der Landwirtschaft in den alten Anbaugebieten und neue Restriktionen für die private Landwirtschaft führten Anfang der 1960er-Jahre zu erneuten Engpässen in der Versorgung mit Lebensmitteln und damit zu einer angespannten Lage. Als sich am 1. Juni 1962 in der Stadt Nowotscherkask Gerüchte verbreiteten, dass sowohl die Lebensmittelpreise erhöht als auch in der Waggonbaufabrik der Stücklohn gesenkt worden seien, kam es zu spontanen Massenprotesten und Kundgebungen, bei denen die Arbeiter riefen: "Wir fordern Fleisch, Milch, Lohnerhöhung und Wohnraum." Da sich die Milizionäre weigerten, gegen die aufgebrachte Menge vorzugehen, forderten die Gebietsleiter das Militär an. Das Parteipräsidium entsandte Frol Koslow (1908-1965) und Mikojan, um vor Ort zu vermitteln. Dennoch eröffnete das Militär das Feuer auf die wütende Menge und erschoss 13 Menschen. Die Proteste dauerten noch zwei Tage an. Die Rädelsführer wurden zum Tode verurteilt, weitere Demonstranten zu fünf bis zehn Jahren Haft. Der Aufstand wurde in der Sowjetunion verschwiegen. Aber er führte dazu, dass sich das Parteipräsidium 1963 angesichts der katastrophalen Missernte entschloss, die Goldreserven anzugreifen, um im Westen Getreide und Fleisch zu kaufen.

Space Race und Kalter Krieg

Der Kampf um Anerkennung als Supermacht

Es ist oft gesagt worden, Chruschtschows Außenpolitik sei ein Zick-Zack-Kurs ohne klare Linie gewesen. Um das rätselhaft-impulsive Verhalten des Nachfolgers Stalins zu erklären, beschäftigte der CIA 20 Psychologen, die den Ersten Sekretär als "hypomanisch" einstuften: emotional, hitzig und begeisterungsfähig, ein Workaholic, dem aber systematisches Denken schwerfiele. Dabei war Chruschtschows Außenpolitik ziemlich klar von drei Faktoren geprägt:

  • einem persönlichen Minderwertigkeitskomplex, da er weder einem intellektuellen Milieu entstammte noch Erfahrung in der Außenpolitik besaß. Hatte Stalin den Staatsmann gemimt, gefiel sich Chruschtschow auf dem internationalen Parkett allerdings durchaus in der Rolle des Proletariers, der das comme-il-faut des Westens teils parodierte, teils boykottierte und teils imitierte;

  • einem "sowjetischen" Minderwertigkeitskomplex, die UdSSR müsse beim Westen immer wieder einfordern, als gleichberechtigter Gesprächspartner, ernstzunehmender Gegner und hochgerüstete Atommacht behandelt zu werden;

  • dem Wunsch, einen dritten Weltkrieg um jeden Preis zu vermeiden und den USA zu beweisen, dass die neue Politik der "friedlichen Koexistenz", also die Tolerierung des anderen politischen Systems, ernst gemeint war. Chruschtschow machte sich Präsident Eisenhowers Rede vom April 1953 zur Leitlinie, der als Beweis für den Friedenswillen Taten statt Worte gefordert hatte. Alles, was Eisenhower angeregt hatte, setzte Chruschtschow um: 1955 unterzeichnete er den österreichischen Staatsvertrag, ließ die japanischen und deutschen Kriegsgefangenen frei, stimmte der Ernennung des neuen UNO-Generalsekretärs Dag Hammerskjöld (1905-1961) zu und beendete den Koreakrieg sowie den Ersten Indochinakrieg.

QuellentextWettkampf um das Weltall

[...] Es war die Sowjetunion, die 1957 mit Sputnik 1 den ersten künstlichen Erdtrabanten und 1961 mit Juri Gagarin den ersten Menschen auf eine Umlaufbahn brachte. Auch zum Mond waren automatische Satelliten bereits erfolgreich geflogen. In der Raketentechnik hatte die Sowjetunion vor den USA einen in Jahren zu messenden Vorsprung.
Zum Kriegsende war der Ausgangspunkt noch gleich gewesen. "Weder wir noch die Amerikaner oder die Engländer waren im Jahre 1945 in der Lage, Flüssigkeitsraketentriebwerke größer als mit einem Schub von 1,5 Tonnen zu bauen", schreibt der sowjetische Konstrukteur Boris Tschertok in seinen Memoiren. Die Deutschen dagegen hatten für die V-2 ein Triebwerk mit 27 Tonnen Schub zur Verfügung: das Aggregat 4. Nach dem Untergang des Hitlerregimes "erbeuteten" die Amerikaner 400 der wichtigsten deutschen Konstrukteure, die Dokumentationen und Forschungsberichte und im thüringischen KZ Mittelbau Dora mehr als 100 einsatzfähige V-2-Raketen.
Als die sowjetische Besatzungsmacht Monate später Thüringen übernahm, blieb ihren Spezialisten nichts, als "jeden Dreckhaufen zu durchstöbern, um irgendwelche Überbleibsel der Raketendokumentation aufzuspüren", berichtet Tschertok. Doch er gibt zu, dass auch die Sowjetunion wertvolle Beute machte. Die Amerikaner brachten die deutschen Köpfe unter Kontrolle, die Sowjets die deutschen Hände. Die V-2 war nicht nur in unmenschlicher Zwangsarbeit von Tausenden Häftlingen zusammengebaut worden, sondern auch von mehr als 3000 hochqualifizierten Ingenieuren und Handwerkern verschiedenster Spezialisierungen, die zum Kriegsende im thüringischen Bleicherode und in umliegenden Ortschaften konzentriert worden waren. An ihnen zeigten die Amerikaner kaum Interesse.
Die sowjetischen Experten umso mehr. Was wie eine Notlösung aussah, erwies sich als entscheidender Vorteil. Die USA brauchten lange, um die Mechaniker auszubilden, die die Ideen der deutschen Spitzenkonstrukteure umsetzen konnten. Dagegen arbeitete die Mannschaft des sowjetischen Chefkonstrukteurs Sergej Koroljow bis Oktober 1946 gemeinsam mit den Deutschen in Bleicherode. Dann erhielt er den Ruf zur Rückkehr, die Deutschen wurden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in die Sowjetunion deportiert und bis in die 50er-Jahre nördlich von Moskau auf einer Insel in der Waldai-Region interniert. Für den Vorsprung, den die Sowjetunion Anfang der 60er-Jahre errungen hatte, hatten die Deutschen am Ende einen Beitrag erbracht, der bis heute noch immer nicht ausreichend gewürdigt ist.
Daran zu erinnern, schmälert die Leistungen des genialen Konstrukteurs und Organisators Koroljow nicht. Seine detaillierten Pläne für einen bemannten Flug zum Mond hatte er bereits im Juni 1960 vorgelegt – und war abgeblitzt. Ein Umdenken der sowjetischen Führung setzte erst 1963 ein, und es dauerte ein weiteres halbes Jahr, bis das Zentralkomitee mit seiner geheimen Resolution 655/268 grünes Licht für ein Mondprogramm gab. Als Ziel wird darin proklamiert, ein Kosmonaut müsse vor einem Astronauten den Mond betreten. Parteichef Nikita Chruschtschow machte das Projekt zu seiner persönlichen Angelegenheit. [...]
1964 lagen schließlich drei Pläne für eine Mondlandung auf dem Tisch. Die sowjetische Führung entschied sich nicht eindeutig, sie erteilte zwei Aufträge: einen an Koroljows Büro und einen an seinen erbitterten Konkurrenten, Wladimir Tschelomei. Dessen Konzept schien drei Vorteile zu haben. Zum einen war es wesentlich billiger und einfacher als die Vorstellungen Koroljows. Tschelomei wollte mit ein und derselben Rakete zum Mond fliegen, ihn umrunden und wieder auf der Erde landen.
Koroljows Plan dagegen glich dem Konzept, das die Amerikaner dann erfolgreich verwirklichen sollten. Es sah ein technisch anspruchsvolles Zusammenspiel zwischen Trägerrakete, Transportraumschiff und Landeapparat, von Rendezvouz- und Kopplungsmanövern in Umlaufbahnen um Erde und Mond vor. Auch den Kosmonauten, der als Erster den Mond betreten sollte, hatte sich das Team um den Konstrukteur bereits ausersehen. Als Alexej Leonow im März 1965 als erster Mensch aus einem Raumschiff ins freie All ausstieg, war dies keineswegs wegen des Prestiges und Rekordes. Es war der erste praktische Test, wie Menschen außerhalb einer starren hermetischen Kapsel in Vakuum und Kälte überleben können. [...]
Hinter den Kulissen tobte ein Kampf um Macht und Einfluss, den Tschertok und Koroljows Tochter Natalja in ihren Erinnerungen umfänglich schildern. Tschelomeis Superrakete kam über Studien nicht hinaus. Das von ihm projektierte System war zu schwach für einen Mondflug. Es dauerte mehr als ein Jahr, bis sich Koroljow durchgesetzt hatte. Ein Zeitverlust, der nicht mehr aufzuholen war. Die Sowjetunion war inzwischen eine andere geworden. Auf den Parteichef Chruschtschow war 1964 Leonid Breschnew gefolgt, den die erste Mondlandung wesentlich weniger interessierte als die Überlegenheit der Sowjetunion bei den nuklearen Interkontinentalraketen. Ein Trägersystem für superschwere Lasten wie Koroljows N-1 brauchte er dafür nicht.
Doch der entwickelte sein Projekt trotz chronischer finanzieller Engpässe weiter bis zu seinem plötzlichen Tod im Januar 1966. Ohne die Autorität dieses außergewöhnlichen Menschen aber geriet das sowjetische Mondprogramm völlig ins Trudeln. Als dann 1969 alle Tests mit der Trägerrakete N-1 in Fehlstarts endeten, war das Rennen längst verloren. Am 21. Juli 1969 hatte der erste Mensch den Mond betreten. Es war nicht Leonow, sondern Neil Armstrong, ein Amerikaner.
Fünf Jahre später ließen beide Supermächte ihre Programme auslaufen. [...]. Das Erbe Koroljows aber fliegt seit 50 Jahren und bis heute unerreicht erfolgreich: die Sojus-Kapsel und ihre Trägerrakete.

Frank Herold, "Die Tragik des großen Kosmos-Eroberers", in: Frankfurter Rundschau vom 9./10. März 2013

Wettlauf im Weltraum

Kalter Krieg bedeutete keineswegs, dass sich die beiden Atommächte nur ein Wettrüsten lieferten. Der Widerstreit der Ideologien bedeutete, dass auf allen Gebieten darum gewetteifert wurde, welches System das bessere sei: in der Kultur, im Sozialwesen, in der Frauenemanzipation und vor allem in der Technologie. Dabei ging es nicht nur darum, der Überlegene, sondern auch der Erste zu sein. Nachdem die USA zuerst die Atom- und Wasserstoffbombe entwickelt hatten, konzentrierten Stalin und Chruschtschow die sowjetischen Ressourcen auf die Raketentechnologie. So gelang es den sowjetischen Raketenkonstrukteuren im Oktober 1957, mit einer Langstreckenrakete den Satelliten Sputnik, eine piepsende Metallkugel, in den Orbit zu schießen. Endlich lag die UdSSR vor den USA, ein Erfolg für die Sowjetunion, ein Schock für die westliche Welt. Als die Sowjetunion mit Juri Gagarin (1934-1968) im April 1961 auch den ersten Mann im Weltall feiern konnte, war Chruschtschows Triumph im In- und Ausland perfekt. Endlich löste die Sowjetunion ein, was sie stets versprochen hatte: der fortschrittlichste Staat der Welt zu sein. Während sich in der Sowjetunion ein Kosmos-Kult entwickelte, mit dem Chruschtschow seine Herrschaft legitimierte, erklärte US-Präsident John F. Kennedy (1917-1963) den Wettlauf auf den Mond für eröffnet. Diesmal gewannen die USA: Nachdem die Amerikaner 1968 den Mond umrundet und 1969 auf ihm gelandet waren, wurde das sowjetische Mondprogramm ein- und auf Raumstationen umgestellt.

Entspannung und neue "Eiszeit"

Während sich Chruschtschow einerseits um eine Entspannung mit dem Westen bemühte und dafür eine rege Reisetätigkeit entwickelte, griff er andererseits immer wieder zu extremen Maßnahmen, wenn er sich von den USA nicht respektiert fühlte. Allerdings gibt es auch die Annahme, dass er sich zu vielen Aktionen von denjenigen Präsidiumsmitgliedern drängen ließ, die den Entspannungskurs gegenüber dem Westen ablehnten. Im November 1958 verkündete er das sogenannte Berlin-Ultimatum: eine Note an die drei Westmächte, mit der er den Viermächte-Status Berlins infrage stellte und verlangte, West-Berlin solle entmilitarisierte "Freie Stadt" werden, andernfalls wolle die Sowjetunion ihre Rechte an Berlin auf die DDR übertragen. Einerseits war das ein abrupter Wechsel im Tonfall, andererseits tat Chruschtschow nichts, als die West-Alliierten das Ultimatum ungerührt verstreichen ließen. 1959 war der Höhepunkt der Entspannung und von Chruschtschows Diplomatie, als er auf Einladung Eisenhowers zehn Tage lang die USA bereiste. Doch schon ein Jahr später kam es zum Eklat, als im Mai 1960 die sowjetische Luftabwehr ein U2-Aufklärungsflugzeug der USA über sowjetischem Territorium abschoss und Chruschtschow daraufhin das Gipfeltreffen in Paris platzen ließ. Er lud Eisenhower wieder aus, fuhr aber selbst ungeladen im September 1960 nach New York, wo er sich bei der UNO-Vollversammlung so provozieren ließ, dass er mit seinem Schuh auf sein Pult schlug. Chruschtschow hoffte nun auf den neuen US-Präsidenten Kennedy, mit dem er im Juni 1961 ein Treffen in Wien vereinbarte, aber keine gemeinsame Sprache finden konnte. Unter dem Druck der DDR-Führung folgte jetzt die verspätete Reaktion auf das verstrichene Berlin-Ultimatum: Chruschtschow stimmte dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 zu.

Konflikt mit China, die "entkolonialisierte Welt" und die Kuba-Krise

Unter Chruschtschow erwuchs der Sowjetunion ein anderer Konkurrent, mit dem sie um den besseren Weg zum Sozialismus wetteiferte: China verurteilte die Entstalinisierungspolitik und war immer weniger bereit, die Führungsrolle der Sowjetunion in der sozialistischen Welt anzuerkennen. Unterstützte die Sowjetunion in den 1950er-Jahren China noch massiv mit Wirtschafts- und Militärhilfen, zog Chruschtschow 1960 auch auf Grund eines persönlichen Zerwürfnisses mit Mao Tse-tung (1893-1976) sämtliche Berater und Hilfen ab. Gleichzeitig versuchte die Partei- und Staatsführung unter Chruschtschow, ihren Einflussbereich auf Länder in Südamerika, Afrika und Südostasien auszudehnen, um im Wettstreit mit den USA einerseits und China andererseits die Überlegenheit des sowjetischen Systems zu beweisen. Grund für das Engagement in der "entkolonialisierten Welt" waren weniger geostrategische Erwägungen als das Prestige der Sowjetunion. Wenn Sozialismus für ein menschenwürdiges Leben ohne Ausbeutung stand, dann mussten das auch die 17 afrikanischen Staaten sehen, die 1960 in die Unabhängigkeit entlassen wurden. Doch die Idee, mit Indonesien in Asien und Guinea in Afrika Modellstaaten für die sowjetische Zivilisation zu schaffen, scheiterte kläglich an der mangelnden Kooperation der jeweiligen Herrscher, die aber bereitwillig finanzielle Hilfe annahmen.

Wesentlich erfolgreicher war dagegen die Zusammenarbeit mit Kuba, das sich unter Fidel Castro (*1926) nach der Revolution 1959 mit der Bitte um Unterstützung an die Sowjetunion wandte. Für Chruschtschow bedeutete das eine Einladung in den "Vorgarten" der USA. Es gab eine Reihe von Gründen, warum er im Sommer 1962 heimlich Raketen nach Kuba verschiffen ließ: um Kuba vor einer zweiten US-Invasion zu schützen, um die USA zu einem Einlenken in der Berlin-Frage zu bewegen, um das eigene Prestige in der kommunistischen Welt zu steigern und um das militärische Gleichgewicht wiederherzustellen. Als die USA die Raketenstationen im Oktober entdeckten, führte das zur Kuba-Krise, dem dramatischen Höhepunkt der neuen Eiszeit mit den USA. Die Eskalation konnte durch Krisendiplomatie erst in letzter Minute verhindert werden. Chruschtschow musste alle Raketen wieder abziehen, aber auch die USA entfernten ihre Raketenstellungen aus der Türkei. Die Kuba-Krise war nicht nur der Höhepunkt des Kalten Krieges, sondern auch ein Wendepunkt. Angesichts eines drohenden Dritten Weltkrieges richteten die beiden Supermächte den sogenannten heißen Draht ein, eine direkte Telefonverbindung zwischen Moskau und Washington für Krisenfälle. Die Kuba-Krise gab zudem wichtige Impulse für Abkommen über Atomteststopps und Rüstungskontrollen. Leitend in der Außenpolitik war nun weniger, die andere Macht zu übertrumpfen, als das fragile Gleichgewicht zu erhalten.

QuellentextDie Kuba-Krise – Chruschtschow erinnert sich

Wir waren sicher, daß die Amerikaner sich niemals mit der Existenz von Castros Kuba abfinden würden. Sie fürchteten ebenso sehr, wie wir es erhofften, daß ein sozialistisches Kuba möglicherweise ein Magnet werden würde, der den Sozialismus für andere lateinamerikanische Länder anziehend machte. Welche Politik sollten wir selbst angesichts der ständigen Drohung einer amerikanischen Intervention in der Karibischen See einschlagen? […] Wir waren verpflichtet, alles zu tun, was in unserer Macht stand, um Kubas Existenz als sozialistisches Land und als praktisches Beispiel für die anderen Länder Lateinamerikas zu schützen. Es war mir klar, daß wir Kuba sehr wohl verlieren könnten, falls wir nicht einige entscheidende Schritte zu seiner Verteidigung unternahmen. […] Wir mußten ein greifbares und wirksames Abschreckungsmittel schaffen gegen eine amerikanische Einmischung in der Karibischen See. Aber was für eins? Die logische Antwort waren Raketen. […] Während meines Besuches in Bulgarien kam mir der Gedanke, auf Kuba Raketen mit nuklearen Sprengköpfen zu installieren und ihre Anwesenheit dort vor den Vereinigten Staaten so lange geheimzuhalten, bis es für sie zu spät war, etwas dagegen zu unternehmen. […]
Abgesehen davon, daß sie Kuba geschützt hätten, würden unsere Raketen das hergestellt haben, was der Westen gerne das "Gleichgewicht der Kräfte" nennt. Die Amerikaner hatten unser Land mit Militärstützpunkten umgeben und bedrohten uns mit nuklearen Waffen, und jetzt würden sie erfahren, wie einem zumute ist, wenn feindliche Raketen auf einen gerichtet sind; wir würden nichts weiter tun, als ihnen ein bisschen von ihrer eigenen Medizin zu verabreichen. […]
Es war, gelinde gesagt, eine interessante und herausfordernde Situation gewesen. Die beiden mächtigsten Nationen der Welt waren zum Kampf gegeneinander angetreten, jede mit dem Finger auf dem Knopf. Man hatte gedacht, daß ein Krieg unvermeidlich war. Aber beide Seiten zeigten, daß selbst die dringlichste Meinungsverschiedenheit durch einen Kompromiß gelöst werden kann, wenn der Wunsch, einen Krieg zu vermeiden, stark genug ist. Und ein Kompromiß hinsichtlich Kubas wurde tatsächlich gefunden. […] Doch war es ein großer Sieg für uns, daß wir in der Lage gewesen waren, Kennedy das Versprechen abzuringen, daß weder Amerika noch einer seiner Verbündeten Kuba angreifen werde. […] Indem wir die Welt an den Rand eines Atomkrieges brachten, gewannen wir ein sozialistisches Kuba. [...]

Strobe Talbott (Hg.), Chruschtschow erinnert sich, ins Deutsche übertragen von Margaret Carroux u. a., Reinbek bei Hamburg 1971, Seite 492 ff.

Prof. Dr. Susanne Schattenberg ist Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Zu ihren Forschungsgebieten gehören der Stalinismus, die Kulturgeschichte der Außenpolitik und die Sowjetunion nach 1953. Aktuell arbeitet sie an einer Breschnew-Biografie.
Kontakt: E-Mail Link: schattenberg@uni-bremen.de

ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle Osteuropa und promoviert an der Universität Bremen zu politischer Haft und oppositionellem Selbstverständnis im Poststalinismus. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Dissens, alternative Literatur und Kunst in der Sowjetunion und der Emigration sowie Erinnerungskulturen im heutigen Russland.

Dr. Alexandra Oberländer ist assoziierte Wissenschaftlerin an der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen und lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihr aktuelles Forschungsprojekt lautet "Wer nicht arbeitet, soll nicht essen: Eine Kulturgeschichte der Arbeit in der späten Sowjetunion".
Kontakt: E-Mail Link: oberlaendera@uni-bremen.de

Dr. Ulrike Huhn ist Historikerin und Germanistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Kürzlich erschien ihre Monografie zur Russisch-Orthodoxen Kirche und Volksfrömmigkeit in der Sowjetunion.
Kontakt: E-Mail Link: ulrike.huhn@uni-bremen.de