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Das Konzept der Internationalen Schutzverantwortung | bpb.de

Das Konzept der Internationalen Schutzverantwortung

Heike Krieger

/ 12 Minuten zu lesen

Schwerste Menschenrechtsverletzungen stellen völkerrechtliche Straftatbestände dar und rufen nach einem Eingreifen der internationalen Gemeinschaft. Eine Intervention ist rechtlich jedoch nur mit einem Mandat des UN-Sicherheitsrates erlaubt. Eine Pflicht zum Eingreifen besteht hingegen nicht. Das Konzept der Internationalen Schutzverantwortung kann allerdings den politischen Druck auf die beteiligten Akteure erhöhen.

Schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben das Konzept der Internationalen Schutzverantwortung angeschoben. Vor dem Brandenburger Tor erinnert im Juli 2010 ein symbolischer Berg von rund 16.700 Schuhen an die mehr als 8300 Menschen, die 1995 unter den Augen niederländischer Blauhelme in der UN-Schutzzone Srebrenica ermordet wurden. (© epd-bild / Rolf Zöllner)

Begriff


Im Jahr 1994 kamen in Ruanda innerhalb weniger Monate bis zu 800.000 Menschen zu Tode. Obwohl UN-Friedenstruppen im Land stationiert waren, sah die internationale Gemeinschaft dem Geschehen tatenlos zu. Während des Bosnienkrieges töteten im Sommer 1995 bosnisch-serbische Einheiten in der UN-Schutzzone Srebrenica etwa 8000 Bosniaken vor den Augen niederländischer Blauhelmsoldaten. Das Erschrecken über beide Ereignisse hat eine Entwicklung angestoßen, aus der das Konzept der Internationalen Schutzverantwortung (engl.: Responsibility to Protect / R2P) hervorgegangen ist. Unter diesem Konzept wird ein Bündel von Rechtspflichten, politischen Standards und Forderungen sowie organisatorisch-institutionellen Vorkehrungen zusammengeführt, die schwerste Menschenrechtsverletzungen abwenden sollen.

Eine wichtige Quelle für das Verständnis der Internationalen Schutzverantwortung findet sich in den Paragrafen 138 und 139 des Abschlussdokuments des UN-Weltgipfels von 2005. Die darin enthaltenen Grundsätze hat der UN-Sicherheitsratim Frühjahr 2014 aus Anlass des 20. Jahrestages des Völkermordes in Ruanda in seiner Resolution 2150 erneut bekräftigt. Danach enthält das Konzept der Internationalen Schutzverantwortung drei aufeinander aufbauende Elemente: Zunächst obliegt dem einzelnen Staat die vorrangige Pflicht, den Schutz seiner Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu gewährleisten. Hierbei kommt ihm die internationale Gemeinschaft zu Hilfe, die zu diesem Zweck auf einer zweiten Ebene auch Frühwarnmechanismen errichtet. Versagen diese Instrumente, ist die internationale Gemeinschaft in einem letzten Schritt dafür verantwortlich, auf der Grundlage der UN-Charta gemeinsame Maßnahmen zeitgerecht und entschlossen zu ergreifen.

Rechtlicher Gehalt


Die Internationale Schutzverantwortung wird häufig als politische Norm oder sogar als eine Rechtsregel im Entstehen bezeichnet. Hier muss man genau unterscheiden, denn unter dem großen Schirm des Konzepts verbergen sich verschiedene, bereits geltende Rechtsregeln ebenso wie (rechts-)politische Forderungen.

Einige Inhalte der Internationalen Schutzverantwortung sind längst Bestandteil des geltenden Völkerrechts. So kommt bereits der Gleichsetzung von Souveränität und Verantwortung im Abschlussdokument vorrangig ein symbolischer Wert zu, denn die Staaten sind durch zahlreiche Verträge verpflichtet, ihre Bevölkerung vor Völkermord und ähnlich gravierenden internationalen Verbrechen zu bewahren. Alle Mitgliedstaaten der UN sind den vier Genfer Abkommen von 1949, die Regelungen zu Kriegsverbrechen enthalten, beigetreten und immerhin 146 Staaten haben die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes unterzeichnet. Darüber hinaus beanspruchen diese Verbote auch jenseits völkerrechtlicher Verträge gewohnheitsrechtliche Geltung. Völkermord, zu dem nach den tatsächlichen Umständen auch ethnische Säuberungen gehören können, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit stellen zudem völkerstrafrechtliche Verbrechenstatbestände nach dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofes dar, das die Grundlagen dieses Gerichtes regelt. Schließlich macht schon das Abschlussdokument des Weltgipfels von 2005 selbst deutlich, dass der UN-Sicherheitsrat ohnehin dafür zuständig ist, schwerste Menschenrechtsverletzungen abzuwenden. Der Sicherheitsrat kann nach Kapitel VII der UN-Charta feststellen, ob ein Konflikt eine Friedensbedrohung darstellt, und Maßnahmen beschließen, die den Weltfrieden wiederherstellen können. Dabei hat er seit Anfang der 1990er-Jahre sein Aufgabenverständnis ausgeweitet und versteht den Schutz vor extremen menschlichen Notsituationen gerade auch im Bürgerkrieg als Teil seiner Aufgabe, den Weltfrieden zu wahren. Seit der Resolution 688 (1991) zum Nordirak hat sich eine Praxis herausgebildet, schwere Menschenrechtsverletzungen als Friedensbedrohung einzuordnen. Dabei kann der Rat Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII verhängen. Von diesen Möglichkeiten hat der Sicherheitsrat unter anderem bei den Konflikten in der afrikanischen Region der Großen Seen Gebrauch gemacht.

Ob und wie sich darüber hinaus neue rechtlich verankerte Wege der Friedenssicherung aus dem Konzept der Schutzverantwortung entwickeln lassen, ist höchst umstritten. Hier dient das Konzept zwar als Argument, das auf politischer und institutioneller Ebene Entwicklungen angestoßen hat. Völkerrechtlich hat die Internationale Schutzverantwortung aber bislang keine neuen Rechte oder Pflichten für die UN-Mitgliedstaaten begründet. Damit weckt das Konzept gleichermaßen Hoffnungen wie Befürchtungen: Hoffnungen als Projektionsfläche für Gerechtigkeitserwartungen in der internationalen Friedenssicherung, Befürchtungen in Hinblick auf eine drohende Überforderung der internationalen Ordnung im Lichte allzu idealistischer Erwartungen.

Neue Wege der Friedenssicherung?


Schutzverantwortung und die Praxis des UN-Sicherheitsrates bei Kapitel VII UN-Charta


Diese Überforderung wird dort am deutlichsten, wo aus der Internationalen Schutzverantwortung die Pflicht der UN-Mitgliedstaaten abgeleitet werden soll, in Staaten einzugreifen, in denen schwerste Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Zwar entspricht es längst der geltenden Rechtslage, dass der UN-Sicherheitsrat zuständig ist, in diesem Fall Maßnahmen zu ergreifen und – wie im Fall Libyens – Mitgliedstaaten zu militärischen Interventionen zu ermächtigen. Den Mitgliedstaaten, die im UN-Sicherheitsrat abstimmen, kommt aber ein weiter Entscheidungsspielraum darüber zu, ob und wie der Sicherheitsrat einen Konflikt zu bewältigen versucht. Insbesondere steht den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates (China, Frankreich, Russland, USA und Vereinigtes Königreich) grundsätzlich ein Vetorecht zu, mit dem sie eine Beschlussfassung des Sicherheitsrates verhindern können, selbst wenn sich in einem Staat schwerste Menschenrechtsverletzungen ereignen.

Zwar wird in der Literatur vorgebracht, dass die ständigen Mitglieder ihre Rechtspflichten verletzen würden, wenn sie in einem solchen Fall untätig blieben bzw. ihr Veto ausübten (Peters, 2011, 35 ff.). Diese Annahme setzt aber voraus, dass eine entsprechende Rechtsentwicklung bereits stattgefunden hat. Hierfür ist im Völkerrecht die Praxis der Staaten rechtlich entscheidend. Diese spiegelt bislang jedoch keine solche Rechtsüberzeugung wider. Die UN-Mitgliedstaaten halten die Ausübung des Vetos in solchen Fällen nicht für völkerrechtswidrig. Ebenso wenig sehen sie sich verpflichtet, Maßnahmen nach der UN-Charta zu ergreifen.

Schließlich ist auch keine Rechtsregel entstanden, wonach sich die Mitgliedstaaten für berechtigt hielten, ohne Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates im Falle eines (drohenden) Vetos militärisch einzugreifen, wenn in einem Staat schwerste Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Daran hat auch die NATOIntervention im Kosovo im Jahr 1999 nichts geändert, die wegen eines drohenden Vetos Chinas und Russlands ohne Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat durchgeführt wurde.

Das zeigt bereits die Entwicklungsgeschichte der Internationalen Schutzverantwortung. Da das weltweite Entsetzen über das Versagen der Vereinten Nationen gerade auch im Kosovo Auslöser für die folgende Entwicklung war, hängen die Internationale Schutzverantwortung und die Frage nach der Zulässigkeit militärischen Eingreifens ohne Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates von Anbeginn eng zusammen. Daher erwog auch die im September 2000 von der kanadischen Regierung eingesetzte unabhängige Internationale Kommission (International Commission on Intervention and State Sovereignty, ICISS) in ihrem Bericht Möglichkeiten, jenseits des Sicherheitsrates vorzugehen, wenn dieser aufgrund eines Vetos nicht handeln kann.

Diese Option wurde aber durch den Bericht der sogenannten Hochrangigen Gruppe "A More Secure World: Our Shared Responsibility" wieder klar zurückgewiesen. Weil der UN-Generalsekretär die Hochrangige Gruppe im Vorfeld des UN-Weltgipfels 2005 ins Leben gerufen hatte, um Vorschläge für den Reformprozess der Vereinten Nationen zu machen, band der Bericht das Konzept der Internationalen Schutzverantwortung wieder eng an Kapitel VII der UN-Charta an. Als Folge herrscht bis heute die Ansicht vor, dass die Schutzverantwortung nur im Rahmen von Kapitel VII wahrgenommen werden kann. Das lässt auch der Fall Syriens erkennen. Obwohl nicht zuletzt angesichts des dortigen Giftgaseinsatzes völkerrechtliche Verbrechen begangen worden sind, konnten entsprechende Resolutionen des UN-Sicherheitsrates unter anderem wegen des Vetos Chinas und Russlands nicht zustande kommen, ohne dass die Staatengemeinschaft hierin eine Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen dieser beiden Staaten gesehen hätte.

Die Wirkung der Internationalen Schutzverantwortung liegt demnach auf politischer Ebene. Das Konzept trägt zur Legitimierung von Militärinterventionen auf Grundlage einer Sicherheitsratsresolution bei und erhöht den politischen Handlungsdruck. Das spiegelt die Praxis des Sicherheitsrates auch wider. Bereits bei Verabschiedung der Resolution 1556 (2004) zum Konflikt in Darfur haben einige Staaten ihr Handeln damit begründet, dass die Regierung des Sudans ihre Pflicht, die Bürger vor den Übergriffen der Janjaweed-Miliz zu schützen, nicht erfüllt habe. Bei der Legitimation der militärischen Interventionen in Libyen und in der Elfenbeinküste im Jahr 2011 spielte die Internationale Schutzverantwortung eine herausragende Rolle. In der Resolution 1970 zu Libyen und in der Resolution 1975 zur Elfenbeinküste bekräftigte der Sicherheitsrat die Verantwortung der beiden Staaten, die Menschenrechte ihrer Bevölkerung zu schützen, und äußerte seine Besorgnis, dass die Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen könnten. In der Präambel der Resolutionen griff er ausdrücklich auf die Formulierungen der Internationalen Schutzverantwortung zurück, erwähnte aber die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft nicht. Anderenfalls hätte mit dem Widerstand Russlands und Chinas gerechnet werden müssen. Beide Staaten stehen dem Konzept der Internationalen Schutzverantwortung nämlich skeptisch gegenüber (Schaller 2013, 9 f.).

Schutzverantwortung und das Vetorecht der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates


Vor diesem Hintergrund könnte eine der wichtigsten Neuerungen im System der internationalen Friedenssicherung darin liegen, das Vetorecht Chinas, Frankreichs, Russlands, der USA und des Vereinigten Königreichs in den Fällen zu begrenzen, in denen die Tatbestände der Internationalen Schutzverantwortung erfüllt sind. Bemühungen, eine Rechtsfortentwicklung anzustoßen, sind bislang aber nicht erfolgreich. Bereits der Bericht der kanadischen Kommission von 2001 fordert die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates auf, ihr Veto nicht auszuüben, wenn ihre zentralen staatlichen Eigeninteressen nicht berührt seien und sie durch das Veto eine Intervention behinderten, für die es ansonsten eine Mehrheit gebe. Nachdem sich diese Forderung zunächst als zu weitgehend erwiesen hatte, sind später erneut Versuche unternommen worden, das Veto zu begrenzen. Hervorzuheben ist der Entwurf einer Resolution der "Small Five" (Costa Rica, Jordanien, Liechtenstein, Schweiz und Singapur) für die UN-Generalversammlung 2012, wonach die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates die Gründe für einen Gebrauch des Vetos erklären und im Falle schwerster Menschenrechtsverletzungen gänzlich auf die Ausübung des Vetos verzichten sollten. Die Gruppe hat den Entwurf allerdings unter diplomatischem Druck der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates im Mai 2012 wieder zurückgezogen. Im Jahr 2013 ist aus den Small Five eine Gruppe von 22 Staaten hervorgegangen, die sich unter dem Kürzel ACT (Accountability, Coherence and Transparency – Verantwortlichkeit, Kohärenz und Transparenz) zusammengeschlossen haben. Zu den Zielsetzungen dieser Staatengruppe gehört es weiterhin, die Arbeitsmethoden des Sicherheitsrates zu verbessern und seine ständigen Mitglieder dazu zu bewegen, freiwillig auf die Ausübung des Vetos in Fällen der Internationalen Schutzverantwortung zu verzichten. Immerhin befürwortete Frankreich Ende 2012 einen solchen Vorschlag in Übereinstimmung mit seinem Engagement in der Elfenbeinküste und in Libyen. Die Unterstützung durch ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates ist möglicherweise ein wesentlicher Schritt bei dem Versuch, das Ermessen der ständigen Mitglieder bei der Ausübung des Vetos zu begrenzen.

Frühwarnmechanismen


Klarere Entwicklungen zeichnen sich auf der institutionellen Ebene ab. Der UN-Generalsekretär hat im Hinblick auf die Umsetzung der Internationalen Schutzverantwortung innerhalb der Vereinten Nationen zwei Institutionen errichtet, die der Frühwarnung dienen sollen. Seit 2004 findet sich ein "Sonderberater für die Prävention von Genozid" (Special Adviser on the Prevention of Genocide) sowie ein Sonderberater zur Internationalen Schutzverantwortung. Die Aufgabenbereiche der beiden ergänzen sich. Der Sonderberater für die Prävention von Genozid ist unter anderem dafür zuständig, die wesentlichen Akteure zu mobilisieren, wenn sich die Gefahr eines Genozids abzeichnet. Der Sonderberichterstatter für die Internationale Schutzverantwortung soll demgegenüber vorrangig die Entwicklung auf konzeptioneller Ebene vorantreiben.

Auf der institutionellen Ebene der Vereinten Nationen ist auch der Menschenrechtsrat in das Frühwarnsystem eingebunden. Diesem stehen hierbei zahlreiche Instrumente zur Verfügung, wie zum Beispiel die Durchführung von Sondersitzungen zu Situationen und Konflikten, in denen schwerste Menschenrechtsverletzungen stattfinden, verbunden mit der Verabschiedung entsprechender Resolutionen. Seit 2006 hat der Menschenrechtsrat 20 solcher Sitzungen durchgeführt, unter anderem zu Darfur (2006), zur Demokratischen Republik Kongo (2008), zur Elfenbeinküste (2010), zu Libyen (2011), zu Syrien (2011/2012) und zur Lage in der Zentralafrikanischen Republik (2014). Dabei hatte der Menschenrechtsrat beispielsweise im Fall Libyens ausdrücklich auf die Schutzverantwortung des Staates in seiner Resolution Bezug genommen, worauf sich wiederum der Sicherheitsrat in der Resolution 1970 (2011) berief. Des Weiteren kann der Menschenrechtsrat Untersuchungs- und Erkundungskommissionen einsetzen und den Hohen Menschenrechtskommissar per Mandat beauftragen, mit den Parteien in einen Dialog einzutreten. Zukünftig sollten die Interaktionsmöglichkeiten zwischen Sicherheitsrat und Menschenrechtsrat weiter vertieft werden. Als Mittler agiert bereits der Hohe Menschenrechtskommissar, der im Rahmen von Anhörungen den Sicherheitsrat über schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen informiert.

Schutzverantwortung und Regionalorganisationen


Um militärische Einsätze zur Erfüllung der Schutzverantwortung politisch zu legitimieren, ist die Einbindung von Regionalorganisationen wichtig. Dies hat vor allem das Beispiel Libyens deutlich gemacht. Hier rief die Arabische Liga den UN-Sicherheitsrat auf, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, unverzüglich eine Flugverbotszone über Libyen zu errichten und Sicherheitszonen für die Zivilbevölkerung zu gewährleisten. Diesem Ruf wird ein erheblicher Einfluss auf die Entscheidungsfindung im Sicherheitsrat zugemessen. So hat der Sicherheitsrat in seiner Resolution 2150 (2014) zur Internationalen Schutzverantwortung die besondere Rolle der Regionalorganisationen betont. Dazu gehört auch Artikel 4 (h) des Gründungsstatuts der Afrikanischen Union (AU) aus dem Jahr 2000. Danach kommt der Union auf der Grundlage einer Entscheidung ihrer Unionsversammlung ein Recht zum militärischen Eingreifen in einem Mitgliedstaat zu, wenn sich dort Kriegsverbrechen, ein Genozid oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit ereignen. Der Gründungsakt unterscheidet dabei zwischen den Mitgliedstaaten, die nach Artikel 4 (g) die Souveränität der jeweils anderen Mitgliedstaaten zu beachten haben, und der Union selbst, der eine Internationale Schutzverantwortung zukommt. In der Praxis handelt es sich bei der AU allerdings um Einsätze von Friedenstruppen, denen der betroffene Staat zustimmt, wie etwa in Burundi, im Sudan und in Somalia. Entscheidungen zu Militärinterventionen – etwa in Darfur – konnte die Afrikanische Union demgegenüber nicht treffen. Auch hier fallen normativer Anspruch und politische Realität weit auseinander.

Auch auf Ebene der Europäischen Union nehmen Aktivitäten zur Verwirklichung der Internationalen Schutzverantwortung zu, wenn sich auch Vieles auf Berichte und Diskussionen beschränkt. Seit 2005 finden sich in außenpolitischen Erklärungen der EU regelmäßig Bezugnahmen auf die Internationale Schutzverantwortung, wie zum Beispiel im Bericht über die Umsetzung der Europäischen Sicherheitsstrategie von 2008. Insbesondere Resolutionen des Europäischen Parlaments berufen sich auf die Internationale Schutzverantwortung. Allerdings wird kritisiert, dass die EU bislang nicht hinreichend präventiv tätig werde und die Koordination innerhalb der EU noch unzureichend sei. Das Europäische Parlament hat im April 2013 zahlreiche Empfehlungen an die anderen EU-Organe dazu ausgesprochen, wie die Internationale Schutzverantwortung zukünftig stärker in die Arbeit der EU integriert werden könnte. So schlägt das Parlament vor, Berichtspflichten sowie Frühwarnmechanismen zu verstärken und die Internationale Schutzverantwortung in die Entwicklungspolitik der EU einzubinden.

Internationale Schutzverantwortung und der Internationale Strafgerichtshof (IStGH)


Zunehmend wird eine unmittelbare Verbindung zwischen den Funktionen des Internationalen Strafgerichtshofes und der Internationalen Schutzverantwortung betont. Denn die Tatbestände, die die Internationale Schutzverantwortung auslösen, entsprechen weitgehend den internationalen Verbrechen, die durch das Statut des Gerichtes in Den Haag unter Strafe gestellt werden. Diese Verknüpfung ist im Libyenkonflikt praktisch geworden, als der Sicherheitsrat die Situation in dem afrikanischen Land unter Bezugnahme auf die Internationale Schutzverantwortung an den Internationalen Strafgerichtshof überwiesen hat. Der IStGH hat in der Folge im Jahr 2011 einen Haftbefehl wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter anderem gegen Saif Al-Islam Gaddafi erlassen, den Sohn des ehemaligen libyschen Diktators. Bislang hat sich die neue libysche Regierung allerdings geweigert, Gaddafi nach Den Haag zu überstellen.

Die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofes wird dabei als Wahrnehmung der Internationalen Schutzverantwortung gesehen, weil der Herstellung strafrechtlicher Verantwortlichkeit eine abschreckende Funktion zukomme und – so der UN-Generalsekretär – dadurch die Glaubwürdigkeit der Institutionen gestärkt werde (Bericht des UN-Generalsekretärs, 2013, § 40). So verstanden, droht allerdings das Konzept der Schutzverantwortung, die internationale Ordnung zu überfordern. Denn es scheint mehr zu versprechen, als die internationalen Institutionen unter den gegebenen Bedingungen zu leisten vermögen. Die Schwierigkeiten, denen sich der Internationale Strafgerichtshof selbst gegenüber sieht, zeigen sich zum Beispiel am Fall Darfur, den der Sicherheitsrat an den IStGH überwiesen hatte. Hier erging im Jahr 2009 ein Haftbefehl gegen den amtierenden Staatspräsidenten des Sudan Omar al-Baschir. Allerdings wurde Baschir bislang nicht an den Gerichtshof überstellt, und die Afrikanische Union hat den Gerichtshof in der Folge scharf kritisiert, weil sich das Verfahren gegen einen amtierenden Staatspräsidenten richtet. Hierin wird eine Bevormundung durch westliche Staaten gesehen, denen vorgeworfen wird, beim Umgang mit schwersten Menschenrechtsverbrechen nicht immer die gleichen Standards anzulegen. Eine Reihe von afrikanischen Staaten hat sich dementsprechend geweigert, Baschir trotz einer entsprechenden Rechtspflicht an den Gerichtshof auszuliefern. Den Vorwurf unterschiedlicher Standards sehen Teile der internationalen Öffentlichkeit bekräftigt durch den Umstand, dass der Sicherheitsrat die Situation in Syrien bislang nicht an den Internationalen Strafgerichtshof überwiesen hat. Auch dies droht die Glaubwürdigkeit der internationalen Institutionen zu unterminieren.

QuellentextGerechtigkeit als Hindernis für Frieden?

Der Internationale Strafgerichtshof sieht sich der Kritik ausgesetzt, die drohende Verfolgung von Kriegsverbrechern würde Friedensprozesse behindern: Machthaber sind nämlich häufig nur zum Friedensschluss bereit, wenn sie im Gegenzug Straffreiheit erhalten. Das Statut des Strafgerichtshofes schließt Amnestien jedoch im Allgemeinen aus. Die Angst vor strafrechtlicher Verfolgung mag deshalb Konfliktparteien dazu verleiten, durch die Fortsetzung gewaltsamer Auseinandersetzungen ihre Macht zu erhalten. Bleiben in einer Post-Konfliktgesellschaft schwerste Verbrechen aber ungesühnt, drohen ebenso Rechtlosigkeit und neue Gewalttaten. Wenn innerstaatliche Gerichte tatsächlich oder politisch nicht in der Lage sind, Politik und Militär zur Verantwortung zu ziehen, kann der Internationale Strafgerichtshof diese Aufgabe übernehmen und zur Rechtsdurchsetzung beitragen. Damit wird den Opfern auch ein Rahmen geboten, in dem sie emotionale und finanzielle Genugtuung erlangen können, auch wenn es vom Einzelfall abhängen wird, ob die aufwendigen Strafverfahren ein Gefühl von Gerechtigkeit als Grundlage eines friedvollen Zusammenlebens schaffen oder ob sie alte Wunden aufbrechen und einem Neuanfang im Wege stehen. Vor allem kann ein robustes internationales System auf zukünftige Täter abschreckend wirken und dazu beitragen, schwerste Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden, auch weil Drittstaaten davon abgehalten werden, mutmaßlichen Kriegsverbrechern Schutz zu bieten. So kann die internationale Strafgerichtsbarkeit auch die Glaubwürdigkeit der internationalen Gemeinschaft stärken.

Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten


Das Konzept der Internationalen Schutzverantwortung ist schließlich eng verknüpft mit dem Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten. Seit Ende der 1990er-Jahre verabschiedet der Sicherheitsrat thematische Resolutionen zu abstrakten Problemlagen im Rahmen allgemeiner Debatten. Neben dem Schutz von Kindern und Frauen steht hier der Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten im Vordergrund. In der Folge ist die Ermächtigung, Maßnahmen zum Schutz von Zivilisten vor Gewalt zu ergreifen, Bestandteil der Mandate von UN-Friedenstruppen geworden, wie zum Beispiel bei MONUSCO in der Demokratischen Republik Kongo. Das Konzept ist dabei weit angelegt, indem es nicht nur die Pflichten zum Schutz der Zivilbevölkerung aus dem IV. Genfer Abkommen von 1949 und seinen beiden Zusatzprotokollen von 1977 erfasst, sondern auch andere menschenrechtliche Schutznormen, Flüchtlingsrecht und Völkerstrafrecht (Wills 2009) einbezieht. Trotz anfänglicher Abwehrreaktionen Chinas und Russlands ist dabei das Konzept des Schutzes von Zivilisten mit der Internationalen Schutzverantwortung in den einschlägigen Resolutionen verknüpft worden. Beide Konzepte haben erheblich dazu beigetragen, den Charakter von Friedenstruppeneinsätzen zu verändern und den Schutz der Zivilbevölkerung in den Vordergrund der Missionen zu rücken.

QuellentextSchutzverantwortung: Anspruch und Wirklichkeit

[…] Auf den ersten Blick scheint sich R2P [Responsibility to Protect, Anm. d. Red.] mit den schwersten Verstößen der Menschheit zu befassen. Es geht darum, gemeinsam gegen die Möglichkeit von "Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnischen Säuberungen" vorzugehen, wie es das Ergebnisdokument des Weltgipfels der Vereinten Nationen (VN) 2005 präzise formuliert. Die Doktrin versucht sich bewusst von ihrer Vorgängerin – der humanitären Intervention – zu distanzieren, die aufgrund von doppelten Maßstäben und Inkonsistenzen, vor allem in ihrer Ausführung, erhebliche Kritik hervorgerufen hatte. Schon jetzt zeigt sich, dass R2P mit ähnlichen Herausforderungen kämpft. Sie wird ihrem eigenen Auftrag nicht gerecht, und aus meiner Sicht sprechen drei Gründe dafür, dass sich voraussichtlich wenig daran ändern wird.

Erstens agiert R2P politisch gesehen nicht im luftleeren Raum. Sie stellt sich als neutrales Bemühen um Wiederherstellung der Menschlichkeit auf schlimmen Kriegsschauplätzen dar. Aber in Wirklichkeit ist sie zwangsläufig in der Parteipolitik der Großmächte verhaftet. Wenn viel auf dem Spiel steht (strategische Interessen), versuchen die Großmächte, die Rahmenbedingungen eines Schauplatzes zu ändern, und leiten manchmal – weit über ihr Mandat hinaus – einen "Regimewechsel" ein. Wenn wenig auf dem Spiel steht, reagieren sie gleichgültig oder ablehnend. Dabei wird in keiner Weise die grundlegende strukturelle Dimension der Herrschaftsverhältnisse thematisiert, die überhaupt erst diese groben Übertretungen verursacht. Es ist unwahrscheinlich, dass diese strukturellen Ungleichheiten leicht verändert werden können, da sie die Privilegien der dominierenden Akteure im internationalen System zementieren.

Zweitens mutet der Anspruch, bis zu einem gewissen Grad allgemeingültig zu sein, verdächtig an. Die gegenwärtige Konstellation des VN-Sicherheitsrats (eine weitere asymmetrische Institution) lässt vermuten, dass es keinen Konsens darüber gibt, welche Bedingungen für die Geltendmachung von R2P eintreten müssen. Selbst diejenigen, die eng mit dem R2P-Prozess verbunden sind, wie Edward Luck, Berater des VN-Generalsekretärs, geben zu, dass die "Selektivität" des Engagements ein kontroverses politisches Thema ist und bleibt. China, Russland, Brasilien, Deutschland und Indien enthielten sich bei der Abstimmung zur VN-Resolution 1973 im Jahr 2011. Sie gaben so ihrem Unbehagen angesichts der "Begeisterung" der USA, Großbritanniens und Frankreichs Ausdruck, mit der diese Länder R2P im Falle Libyens geltend machen wollten. Mehrfach wird vertreten, dass die Intervention in Libyen 2011 offensichtlich weit über das genehmigte Mandat hinausging.

Drittens generiert die Neutralitäts- und Universalitätskrise grundlegende Legitimitätsprobleme für die R2P-Doktrin. Im R2P-Arsenal gibt es ein interessantes Sprachrepertoire an gestaffelten Reaktionen auf humanitäre Krisen. Die Anwendung von Gewalt wird als allerletztes Mittel betrachtet. Die Versuchung, die militärische Option früher als gerechtfertigt zu nutzen, wenn viel auf dem Spiel steht, ist jedoch sehr hoch. Auch tiefer liegende Ängste um Wohl und Sicherheit ausgewählter Mächte im internationalen System können solche verfrühten Geltendmachungen hervorrufen und stellen eine ernsthafte Herausforderung dar, wenn es um die Operationalisierung der Doktrin geht.

Aus all diesen Gründen sollten wir zurückhaltender mit R2P umgehen und sie nicht als Allheilmittel gegen die schlimmsten Auswüchse der Menschheit betrachten. Damit will ich keineswegs sagen, dass wir keine einschränkenden Mechanismen brauchen, um die dunklen Seiten menschlichen Verhaltens zu zügeln. Damit jedoch Prinzipien über politisches Kalkül siegen können, braucht es den ehrlichen Willen, wirklich multilateral und inklusiv zu sein […].

Siddharth Mallavarapu, "Schutzverantwortung als neues Machtinstrument", in: APuZ 37/2013, S. 3 f.

Fazit


Das Konzept der Internationalen Schutzverantwortung ist für viele Beobachter der Schlüssel für die nachhaltige Verhinderung schwerster Menschenrechtsverletzungen. Zurückhaltende Stimmen beobachten zumindest eine höhere Sensibilisierung der internationalen Öffentlichkeit. Dennoch ist das Missverhältnis zwischen internationalen Erklärungen, Berichten, Debatten und übermäßiger Institutionalisierung einerseits und dem nachhaltigen Schutz des Menschen in schweren Krisensituationen andererseits nicht zu übersehen. Es bleibt zu hoffen, dass die Internationale Schutzverantwortung, die Kritiker bereits als potemkinsches Dorf bezeichnen, nicht zum Symbol des Scheiterns internationaler Gerechtigkeitsvorstellungen wird.

Fussnoten

Prof. Dr. Heike Krieger ist Universitätsprofessorin für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Freien Universität Berlin und war zwischen 2007 und 2014 Richterin des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin. Seit 2014 gehört sie dem Wissenschaftsrat an, einem der wichtigsten wissenschaftspolitischen Beratungsgremien für die Bundesregierung und die Regierungen der Länder. Sie ist eine der führenden Wissenschaftlerinnen auf dem Gebiet des Humanitären Völkerrechts und hat in den zurückliegenden Jahren maßgebliche Beiträge zu Fragen humanitärer Interventionen und der internationalen Schutzverantwortung geleistet.
Kontakt: E-Mail Link: heike.krieger@fu-berlin.de