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Parteiensystem und Parteienwettbewerb | Parteien und Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland | bpb.de

Parteien und Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland Editorial Grundlagen Parteien als Organisationen Gesellschaftliche Verankerung Parteien und Medien Parteiensystem und Parteienwettbewerb Entwicklung des deutschen Parteiensystems nach 1945 Parteien in staatlichen Institutionen Aktuelle Herausforderungen Literaturhinweise Impressum und Anforderungen

Parteiensystem und Parteienwettbewerb

Uwe Jun

/ 13 Minuten zu lesen

Das Parteiensystem spiegelt die soziale Vielfalt der Gesellschaft wider. Unterschiedliche Parteitypen, die in Konkurrenz zueinanderstehen, werben mit ihren programmatisch-ideologischen Positionen um die Gunst der Wählerinnen und Wähler und streben Parlaments- und Regierungsämter an.

Der Begriff Parteiensystem bezeichnet die Gesamtheit der in einem politischen System handelnden Parteien und deren regelmäßige Wechselbeziehungen. Diese Wechselbeziehungen werden bestimmt durch die Anzahl der Parteien, deren jeweilige Größenordnung (hauptsächlich Wähler- bzw. Mandatsanteil im Parlament, aber auch Mitgliederzahl), ihre Binnenstruktur sowie durch die ideologisch-programmatischen Unterschiede zwischen den Parteien. Parteiensysteme spiegeln die soziale Vielfalt der Gesellschaft wider, indem sie den gegebenen sozialen Interessenlagen und Weltanschauungen Ausdruck verleihen.

Das Parteiensystem ist Teil oder Subsystem des politischen Systems insgesamt. Wie es sich ausprägt, ist abhängig von gesellschaftlichen Konflikten, Interessen und Werten, aber auch vom Wahlsystem und der institutionellen Struktur des jeweiligen politischen Systems. Der Konflikt gesellschaftlicher Interessen findet in Demokratien seinen in die Politik übersetzten Ausdruck im Parteienwettbewerb. Ausdruck und Gegenstand des Wettbewerbs sind unterschiedliche Lösungsangebote für politische Fragen oder Probleme. Mit diesen Lösungsangeboten treten die Parteien an die Öffentlichkeit und konkurrieren mit anderen Parteien um Wählerstimmen, politische Überzeugungen, Parlamentsmandate und Regierungsämter, letztlich um Machtpositionen in einem politischen System. Die Wissenschaft unterscheidet zwischen der Konkurrenz um Wählerstimmen (elektorale Ebene des Parteienwettbewerbs) und der Konkurrenz um Parlamentsmandate und Regierungsämter (parlamentarisch-gouvernementale Ebene).

Hauptachsen der Parteienkonkurrenz (© Uwe Jun)

Die programmatisch-ideologische Positionierung ist die inhaltliche Seite des Parteienwettbewerbs. Sie lässt sich in eine sozioökonomische und eine kulturelle Dimension unterscheiden. In der sozioökonomischen Wettbewerbs- oder Konfliktdimension positionieren sich die Parteien zwischen Marktliberalismus und Staatsinterventionismus, hauptsächlich in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, zunehmend aber auch bei Fragen der Umwelt- oder Familienpolitik. Es geht darum, ob vornehmlich der Markt als Steuerungsinstrument fungieren soll oder primär der Staat. In der kulturellen Wettbewerbs- oder Konfliktdimension stehen libertäre Werte wie Toleranz, Selbstentfaltung, kollektive Freiheitsrechte, Emanzipation, Pazifismus, kulturelle und politische Inklusion autoritären Wertstellungen gegenüber, die den Vorrang innerer und äußerer Sicherheit, kultureller Mehrheitsidentitäten oder restriktiver Kriminalitätsbekämpfung betonen (siehe Abbildung).

Charakteristika

Die Parteienkonkurrenz wird bestimmt durch die sozioökonomische und die kulturelle Konfliktdimension, in denen die einzelnen Parteien Werte, Haltungen, Meinungen und Interessen ihrer Anhängerschaft zusammentragen und artikulieren. Veränderungen des Parteienwettbewerbs sind festzustellen, wenn sich die Wählerschaft und deren Wahlverhalten wandeln und einzelne Parteien dem mit strategischen Anpassungen begegnen oder durch ideologisch-programmatische Neuausrichtungen zentrale Charakteristika des Parteiensystems verändern. Drei Charakteristika sind zur Beschreibung und Analyse der Parteienkonkurrenz von besonderer Bedeutung: Fragmentierung, Polarisierung und Segmentierung.

Eigenschaften des Parteiensystems (© Uwe Jun)

Fragmentierung beschreibt die Anzahl der Parteien und deren relatives Größenverhältnis zueinander und misst damit die effektive Zahl relevanter Parteien in einem Parteiensystem. Durch die Betrachtung der Stärkeverhältnisse werden die Relationen von Groß- und Kleinparteien zueinander ausgedrückt. Die Fragmentierung in Deutschland ist seit den 1970er-Jahren – wenn auch nicht kontinuierlich – angestiegen.

Polarisierung misst die programmatisch-ideologischen Unterschiede der Parteien in der sozioökonomischen und der kulturellen Wettbewerbsdimension. Die Differenzen können unterschiedlich bestimmt werden, etwa durch eine Analyse von Grundsatz- oder Wahlprogrammen oder durch eine Verortung der Wertorientierungen der Parteianhängerschaft.

Segmentierung eines Parteiensystems bezieht sich ausschließlich auf die parlamentarisch-gouvernementale Ebene und misst den Anteil der politisch machbaren gegenüber den rechnerisch möglichen Koalitionsformationen. Keinerlei Segmentierung eines Parteiensystems besteht, wenn alle Parteien die grundsätzliche Bereitschaft haben, jeweils mit jeder anderen Konkurrenzpartei zu koalieren. Seit den 1970er-Jahren lässt sich ein Anstieg der Segmentierung im deutschen Parteienwettbewerb feststellen. Seit der Vereinigung Deutschlands 1990 bis zum Jahre 2005 hatte die sogenannte Lagerbildung Hochkonjunktur, indem auf Bundesebene ausschließlich in den jeweiligen Lagern Koalitionen zusammenfanden. Dem "bürgerlichen Lager" aus CDU/CSU und FDP standen die in der sozioökonomischen Konfliktdimension links davon angesiedelten Parteien SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegenüber.

Externe Faktoren

Das Parteiensystem als Teilsystem des politischen Systems wird von zahlreichen externen Faktoren beeinflusst. Zu diesen zählen an vorderer Stelle die wirtschaftliche und die soziale Entwicklung eines Landes. Denn auf ökonomische und soziale Fragen müssen die Parteien Antworten in Form von Programmen und anderen Aktivitäten finden. Auch bestimmen ökonomische und soziale Prozesse das Wahlverhalten der Bevölkerung mit und wirken damit indirekt auf die Strukturen des Parteiensystems zurück. Das berühmte Zitat "It‘ s the economy, stupid", das dem früheren US-amerikanischen Präsidenten Bill Clinton bei seiner Wahl im Jahr 1992 zugeschrieben wird, illustriert einprägsam, welche Bedeutung der aktuellen wirtschaftlichen Situation eines Landes für Wahlausgänge zukommen kann. Die USA befanden sich 1992 in einer wirtschaftlichen Rezession, die dem damaligen Amtsinhaber George Bush sen. von großen Teilen seiner Wählerschaft angelastet wurde. Folgerichtig verlor er bei den Präsidentschaftswahlen gegen seinen Herausforderer Bill Clinton.

Damit sind wir bei einem wesentlichen Faktor des Parteienwettbewerbs angekommen, den Kompetenzwerten, die einzelnen Parteien von den Wählern zugeschrieben werden. Wirtschaftskompetenz gehört zu den zentralen Kompetenzbereichen (einschließlich Arbeitsmarkt und Finanzen) ebenso wie soziale Gerechtigkeit oder ökologische Nachhaltigkeit. Kann eine Partei oder ihr Spitzenpersonal bei Themen, die zum Zeitpunkt von Wahlen im Zentrum des Interesses stehen, hohe Kompetenzwerte verbuchen, begünstigt das ihre Wahlchancen. In Deutschland werden in der Regel der CDU die höchsten Werte bei der Wirtschaftskompetenz zugemessen, die SPD punktet bei Fragen sozialer Gerechtigkeit, Bündnis 90/Die Grünen in der Umweltpolitik.

Doch nicht nur ökonomische, auch sozio-kulturelle Aspekte bestimmen die Programmatik von Parteien sowie das Wahlverhalten der Bevölkerung und wirken somit auf das Parteiensystem ein. Zu diesen Aspekten gehören die Sozialstruktur eines Landes, die politische Kultur, die zentralen Werte und Normen einer Gesellschaft, die Relevanz von öffentlicher und medialer Kommunikation sowie der Einfluss organisierter Interessen in Gestalt von Verbänden, Vereinen, sozialer Bewegungen oder Bürgerinitiativen. Politische Parteien sind eingebunden in institutionelle, kulturelle und gesellschaftliche Strukturen, werden von diesen geprägt und wirken auf sie zurück.

Parteitypen

Die Parteienforschung unterscheidet Typen von Parteien – nicht nur aus Gründen der Systematik, sondern auch um Sinnzusammenhänge erkennbar zu machen, Komplexität zu reduzieren und um Trends und Entwicklungen aufzeigen zu können. Typisierungen sind somit ein wesentlicher Bestandteil der Vergleichenden Politikwissenschaft.
Ein Parteientyp kann anhand unterschiedlichster Aspekte konstruiert werden. Zu nennen sind:

  • Programmatik und Ideologie;

  • der historische Ursprung einer Partei und ihre Nähe zum Staat bzw. zur Gesellschaft;

  • ihre Organisationsstruktur, vor allem bezogen auf Rekrutierungsprozesse und auf die innerparteiliche Macht der Parteiführung;

  • ihre zentrale Zielsetzung bzw. ihr wesentlicher Handlungsort und ihre Anziehungskraft für die Wählerschaft bzw. deren Struktur.

Groß- bzw. Volksparteien

Ein prägender Typus in der Geschichte der Parteiendemokratie der Bundesrepublik Deutschland war die Volkspartei. Sie ist eine typische Mitgliederpartei, das heißt, freiwillige Mitarbeit der Mitglieder wie auch deren finanzieller Beitrag werden nach wie vor als wichtige Ressource im Parteienwettbewerb geschätzt. Eine große Mitgliederzahl sichert Legitimität und hat weitere Vorteile: Die Volkspartei ist damit auf allen politischen Ebenen eines staatlichen Gemeinwesens präsent und aktiv, verfügt über vielfältige innerparteiliche Gruppierungen (Arbeitsgemeinschaften, Faktionen) und unterhält enge Beziehungen zu maßgeblichen Interessenorganisationen und Verbänden.

Zentraler Orientierungspunkt des Parteihandelns ist der Stimmengewinn, das heißt, die Werte, Haltungen und Meinungen der Wählerschaft werden in starkem Maße berücksichtigt, und die Partei öffnet sich aus wahlstrategischen Erwägungen heraus für nahezu alle Wählersegmente einer Gesellschaft. Um als Volkspartei mehrheitsfähig zu werden oder zu bleiben, kommt es in dieser Sichtweise weniger auf die soziale Verankerung einer Partei als vielmehr auf mehrheitsfähige politische Inhalte und auf vermittelbare, populäre Spitzenkandidaten an.

Folge der Öffnung für nahezu alle Wählersegmente ist eine inhaltliche Annäherung der Programme und Konzeptionen an die politische Mitte ("Entideologisierung"), ohne dass es damit jedoch zu einer völligen programmatischen Angleichung der einzelnen Parteien kommt. Unterschiedliche Schwerpunkt- und Themensetzungen aufgrund eines vorgeprägten Images und ihrer Pfadabhängigkeit bleiben bestehen oder werden neu fundiert, um die nach wie vor nicht zu vernachlässigende Gruppe der Stammwähler an sich zu binden. Die traditionelle Stammwählerschaft soll erhalten bleiben, und Wählerinnen und Wähler aus angrenzenden politischen und sozialen Milieus sollen an die Partei gebunden werden.

Um möglichst viele Wählerinnen und Wähler aus unterschiedlichen Milieus zu gewinnen, ist die Volkspartei auf Interessenausgleich inner- und außerhalb der Partei hin orientiert. Kompromisslösungen und konsensfähige Inhalte sollen integrierend wirken und bestimmen die sachlichen Auseinandersetzungen, stets mit Blick auf die Chance zur Regierungsbeteiligung. Prinzipiell haben taktische Überlegungen zur Stimmenmaximierung Vorrang vor ideologischer Grundsatztreue. Die Funktion der Interessenaggregation steht daher neben der Mobilisierung der Wähler und der Rekrutierung des politischen Personals bei einer Volkspartei im Zentrum des Handelns. Ihre idealtypische Wählerschaft entspricht der soziostrukturellen Zusammensetzung der gesamten Bevölkerung.

Als Groß- bzw. Volksparteien gelten in Deutschland die "Christlich-Demokratische Union" (CDU), ihre bayerische Schwesterpartei, die "Christlich-Soziale Union" (CSU) und die "Sozialdemokratische Partei Deutschlands" (SPD). Als "Prototyp einer Volkspartei" gilt laut dem Trierer Politikwissenschaftler Peter Haungs die CDU. Keine andere Partei hat die politische Geschichte Deutschlands so geprägt wie die CDU, die in Kooperation mit der CSU in 51 von 66 Jahren der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die führende Regierungspartei war.

Stimmenanteile von Groß- und Kleinparteien bei Bundestagswahlen (© Bundeswahlleiter)

Dem Modell der Volkspartei entsprechend sind Wahlerfolge und Regierungstätigkeit zentrale Aspekte im Handeln von CDU und CSU. Als Heimat des politischen Konservatismus, der katholischen Soziallehre und eines sozial verstandenen wirtschaftlichen Liberalismus haben die Unionsparteien sich in Abgrenzung zu jeglichem Extremismus als "Volkspartei der rechten Mitte" verstanden, worunter sie programmatisch den Rückbezug auf christliche Werte, auf Tradition, auf Nation, Sicherheit und Marktwirtschaft verstehen. Als überkonfessionelle Sammlungsparteien gelang es der 1945 in Würzburg gegründeten CSU bzw. 1950 als Bundespartei in Goslar gegründeten CDU mit einer pragmatischen Politik nahezu alle Gruppen des Wählerspektrums für sich zu mobilisieren und zu integrieren.

Die SPD, die auf die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) im Jahre 1863 zurückgeht, entwickelte sich im Lauf ihrer Geschichte zur "Volkspartei der linken Mitte". Eine Zäsur in dieser Hinsicht war das Godesberger Programm von 1959, welches nach dem Göttinger Politikwissenschaftler Peter Lösche "den Wandel von der proletarischen Klassenpartei zur Volkspartei symbolisiert". Entsprechend ihrer Herkunft als Interessenvertreterin der Arbeiterschaft setzte die SPD seitdem als pragmatische Reformpartei auf einen ausgebauten Wohlfahrtsstaat, der möglichst umfassende Sozialleistungen und einen hohen Beschäftigungsgrad garantieren sollte.

Die Schaffung und den Erhalt von Erwerbsarbeit rückte die Partei stets in den Mittelpunkt ihrer Sozialpolitik. Um dieser Ziele willen schreckte sie auch vor unkonventionellen und in Teilen der Anhängerschaft unpopulären Maßnahmen nicht zurück, als in den Regierungsjahren unter Bundeskanzler Schröder aufgrund eines wirtschaftlichen Strukturwandels Massenarbeitslosigkeit herrschte. Ganz im Sinne des Typs der Volkspartei hat die SPD eine pragmatische Reformpolitik in nahezu allen Politikfeldern in den Vordergrund gestellt.

Kleinparteien

Trotz ihrer geringeren Erfolge an den Wahlurnen können Kleinparteien eine wichtige Rolle im politischen System spielen. Als Anwälte spezifischer Interessen oder Themenfelder können sie die großen Parteien zwingen, sich mit diesen auseinanderzusetzen. Zugleich können sie als demokratisches Ventil dienen, indem sie Bürgerinnen und Bürgern, die sich von den etablierten Parteien abwenden, die Möglichkeit geben, innerhalb des politischen Systems ihren Protest zu bekunden. Schließlich bieten sie wie andere Parteien und die zivilgesellschaftlichen Organisationen die Möglichkeit zur aktiven Gestaltung öffentlichen Lebens.

Die Vielzahl von Kleinparteien lässt sich kaum unter einen gemeinsamen definitorischen Nenner bringen. Zu betrachten sind quantitative Bestimmungselemente (wie Wähleranteil, Mitgliederstärke, organisationsstrukturelle Verbreitung, finanzielle Ressourcen) und qualitative Faktoren (wie die Befähigung zur Regierungs- bzw. Koalitionsbildung, Einflussmöglichkeiten auf politische Entscheidungen sowie die gesellschaftliche und politische Akzeptanz). Ausgehend von diesen Maßstäben unterscheidet die Parteienforschung etablierte und nichtetablierte Kleinparteien.

Etabliert ist eine Kleinpartei, wenn es ihr gelingt, bei drei aufeinanderfolgenden Wahlen mehr als 0,5 Prozent der Stimmen auf der jeweiligen Ebene zu erreichen. Damit erhält sie eine günstigere Ressourcenausstattung und größere öffentliche mediale Aufmerksamkeit. Sie kann dann die für weitere Erfolge notwendige Infrastruktur aufbauen: eine flächendeckende Organisation, einen festen Stamm hauptamtlicher Mitarbeiter, ein daraus hervorgehendes Mindestmaß an Strategiefähigkeit und professioneller Wahlkampfführung, einen gesicherten Zugang zu Medien und den Aufbau eines Netzwerks einer ausreichend großen Zahl an Sympathisanten. Als relevant haben etablierte (Klein-)Parteien dem italienischen Politikwissenschaftler Giovanni Sartori zufolge zu gelten, wenn sie das Potenzial besitzen, an Koalitionen beteiligt zu werden oder zumindest ein Faktor sind, der den Parteienwettbewerb mitbestimmt.

Als etablierte Kleinparteien in Deutschland sind die FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke zu betrachten. Die im Jahr 1948 gegründete "Freie Demokratische Partei" (FDP) vereinigte national-, links- und wirtschaftsliberale Strömungen zu einer Partei. Sie versteht sich als Vertreterin des politischen Liberalismus, die für individuelle Bürgerrechte, den Vorrang des Marktes vor staatlichen Eingriffen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik und für vermehrte Beteiligungsmöglichkeiten der einzelnen Bürgerinnen und Bürger eintritt. Der Wert der Freiheit nimmt in der FDP eine herausgehobene Stellung ein wie es im Bekenntnis zu individueller Selbstbestimmung und zu einer liberalen Marktwirtschaft zum Ausdruck kommt. Als langjährige Regierungspartei (1949–1966; 1969–1998; 2009–2013) gestaltete sie wesentliche Entscheidungen der Bundesregierungen mit. Bis weit in die 1980er-Jahre war sie das "Zünglein an der Waage", da ihre Koalitionspräferenz zugunsten von CDU/CSU oder SPD darüber entschied, welche Großpartei den Bundeskanzler stellen durfte.

Mit der im Jahr 1980 in Karlsruhe gegründeten Partei "Die Grünen" entstand eine neue Kraft im Parteiensystem, die ökologische, aber auch partizipatorische und postmaterialistische Themen in den Vordergrund stellt und vornehmlich aus den neuen sozialen Bewegungen wie der Frauen-, Anti-Atomkraft-, Umwelt- oder Friedensbewegung und der Studentengeneration der 1968er-Bewegung hervorging. Sie tritt für die Anerkennung von Minderheiten, kulturelle Toleranz, rechtliche und soziale Gleichstellung unterschiedlicher Lebensformen, mehr direkte Demokratie, Pazifismus, Abrüstung und eine nachhaltige Berücksichtigung von ökologischen Aspekten in allen Bereichen der Politik ein. Die Grünen verbinden diese libertären Werte mit der Forderung oder dem Wunsch nach Bewahrung wohlfahrtsstaatlicher Politik. Im Jahr 1993 vereinigten sich die Grünen mit der ostdeutschen Bürgerbewegung "Bündnis 90" zur Partei "Bündnis 90/Die Grünen". Mittlerweile können die Bündnisgrünen eindeutig als etablierte Partei gelten, die in den Jahren 1998 bis 2005 in einer Koalition mit der SPD an der Regierung beteiligt war.

Mit der "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) (heute "Die Linke") trat nach der Vollendung der politischen Einheit Deutschlands im Jahr 1990 eine weitere etablierte Kleinpartei in das deutsche Parteiensystem ein. Die Partei ging aus der Staatspartei der DDR, der "Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands" (SED), hervor. Ihr Hauptaugenmerk legt die Linke auf einen erheblichen Ausbau sozialstaatlicher Leistungen in allen Bereichen; sie versteht sich als antikapitalistisch sowie pazifistisch und favorisiert gleichzeitig libertäre Werte wie Toleranz und Emanzipation. Ihre Hochburgen in der Wählerschaft liegen in den ostdeutschen Bundesländern.

Auch die "Alternative für Deutschland (AfD)" hat ihre Hochburgen in den ostdeutschen Ländern. Bei den Wahlen zum EU-Parlament 2014 kam sie bundesweit auf 7,1 Prozent, bei Landtagswahlen im gleichen Jahr erreichte sie in Sachsen einen Stimmenanteil von 9,7 Prozent, in Thüringen 10,4 und in Brandenburg 12,2 Prozent. Die im Februar 2013 gegründete Partei wandte sich zunächst gegen die sogenannte Euro-Rettungspolitik der Bundesregierung, mit der diese durch Kredite und Hilfszahlungen in eine akute Finanzkrise geratene EU-Partnerländer unterstützt hat. Mittlerweile spielen Themen wie Migration und Asyl eine größere Rolle als die Kritik an der Währungspolitik. Die Partei kann als nationalkonservative Vereinigung mit erkennbaren populistischen Zügen gelten.

Nichtetablierte Kleinparteien werden in der Regel an Wahltagen unter "Sonstige" zusammengefasst, erreichen kaum mediale Aufmerksamkeit, verfügen meist über weniger als 10.000 Mitglieder und weniger als drei Prozent der Stimmen, haben keine parlamentarische Vertretung in Bund und Ländern und repräsentieren meist Einzelinteressen oder Protesthaltungen.

Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen. Aufgeführt (nach Gründungsdatum) sind im Folgenden diejenigen Parteien, die von dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Aufhebung einer Sperrklausel bei den letzten Wahlen zum EU-Parlament 2014 direkt profitiert haben, indem sie einen Sitz im Parlament erringen konnten:

  • Die schon im Jahr 1964 gegründete "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) gilt als nationalistische Partei und wird sehr häufig als rechtsextrem eingestuft. Ein Verbotsantrag des Bundesrates gegen die NPD liegt seit Dezember 2013 beim Bundesverfassungsgericht. Das Verfassungsgericht hat zu prüfen, ob die NPD kämpferisch-aggressiv und offen gegen Verfassungsgrundsätze agiert und damit, ob ihre Ziele und Handlungen verfassungskonform sind oder nicht. 2003 scheiterte ein Antrag auf Verbot der NPD an formaljuristischen Gegebenheiten, weshalb eine inhaltliche Prüfung der Partei durch das Bundesverfassungsgericht zum damaligen Zeitpunkt nicht stattfand. Bei der Bundestagswahl 2013 gewann die Partei einen Stimmenanteil von 1,3 Prozent, bei der EU-Wahl 2014 nur noch 1,0 Prozent.

  • Die Partei "Freie Wähler" ist aus den kommunalen Wählervereinigungen in den deutschen Bundesländern hervorgegangen und versteht sich als "Anti-Partei". Ihr Bundesverband wurde 1965 gegründet. Sie möchte die kommunale Selbstverwaltung stärken, tritt für mehr direkte Demokratie (Volksentscheide, Volksbegehren) ein, ist EU-skeptisch und fordert einen verstärkten Kampf gegen Kriminalität. Bei der Bundestagswahl 2013 holte sie 1,0 Prozent der Stimmen, bei der Wahl zum EU-Parlament 2014 1,5 Prozent.

  • Die im Jahr 1981 gegründete "Familienpartei" versteht sich hauptsächlich als Interessenvertreterin kinderreicher Familien und fordert beispielsweise eine stärkere Berücksichtigung von Kindererziehung bei der Zumessung staatlicher Leistungen oder eine Wählerstimme für minderjährige Kinder, wobei deren Eltern diese Stimme abgeben sollen. Familienpolitik steht im Vordergrund der gesamten Programmatik. Bei der Wahl zum EU-Parlament 2014 erreichte sie 0,7 Prozent, bei der Bundestagswahl 2013 0,0 Prozent oder etwa 7000 Stimmen.

  • Die im Jahr 1982 gegründete, aus der Umweltbewegung hervorgegangene "Ökologisch-Demokratische Partei" (ÖDP) setzt sich für mehr Umweltschutz, Stärkung der Familien in der Gesellschaft und für mehr direkte Demokratie ein. Den meisten Beobachtern gilt sie als wertkonservative Partei. Angestrebt wird von Seiten der Partei eine Wende im Lebens- und Wirtschaftsstil: Die "Überfluss- und Verschwendungswirtschaft" soll zugunsten von nachhaltigem Umgang mit den Ressourcen und "echter Lebensqualität" aufgegeben werden. Bei der Wahl zum EU-Parlament 2014 kam sie auf 0,6 Prozent, bei der Bundestagswahl 2013 auf 0,3 Prozent.

  • Die im Jahr 1993 gegründete Partei "Mensch Umwelt Tierschutz" (Tierschutzpartei): folgt dem Leitgedanken, sich für die Rechte von Mensch, Tier und Umwelt einzusetzen. Parteienforschern gilt sie allerdings als Ein-Thema-Partei, da ihr primäres Anliegen die Vertretung der Belange von Tieren ist. Insgesamt tritt sie für verstärkten Umwelt- und Naturschutz ein. Bei der Wahl zum EU-Parlament 2014 erhielt sie 1,2 Prozent, bei der Bundestagswahl 2013 0,3 Prozent.

  • "Die Partei", gegründet 2004, erreichte bei der Wahl zum EU-Parlament 2014 0,6 Prozent, bei der Bundestagswahl 2013 0,2 Prozent. Sie wird als "Spaßpartei" eingestuft. Ihr Vorsitzender Martin Sonneborn bringt sich immer wieder mit satirischen Lösungsvorschlägen in aktuelle Diskussionen ein. So fordert Die PARTEI unter anderem die Einführung einer "Faulenquote", die Abschaffung der Sommerzeit, die Reformation des Schulsystems zu einem G1-System, also die Kürzung der Schulzeit auf ein Jahr, und die Begrenzung von Managergehältern auf das 25.000fache eines Arbeiterlohns.

  • Die im Jahr 2006 gegründete Piratenpartei verweist seit ihrer Entstehung auf die Folgen der digitalen Revolution und tritt gegen Überwachung und Regulierung im Internet ein. Sie plädiert für den Ausbau von Bürgerrechten in der digitalen Sphäre und für den allgemeinen und freien Zugang aller Individuen zum Internet. Grundlegend befürwortet sie die freie Selbstentfaltung in allen Lebensbereichen und kann daher eindeutig als libertäre Partei bezeichnet werden. Die Piraten feierten 2011 und 2012 eine Reihe von spektakulären Erfolgen bei Landtagswahlen und zogen in die Landtage von Berlin, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und dem Saarland ein, sind aber anschließend – nicht zuletzt aufgrund zahlreicher innerparteilicher Zerwürfnisse – wieder in der Versenkung verschwunden. Bei der Bundestagswahl 2013 kam die Piratenpartei noch auf einen Anteil von 2, 2 Prozent, bei der EU-Wahl 2014 waren es nur noch 1,4 Prozent.

Uwe Jun ist Professor für "Regierungslehre – Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland" an der Universität Trier, Sprecher des Arbeitskreises "Parteienforschung" der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) sowie Mitglied der DVPW, der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen (DVParl) und des European Consortium for Political Research. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Parteienforschung, Vergleichende Parlamentarismusforschung, Föderalismus, Politische Kommunikation und Koalitionsforschung.

Bei der Konzeption und der Materialrecherche wurde er unterstützt von Isabel Bähr, Sebastian Exner und Simon Jakobs